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Wie Integration auf dem Dorf funktionieren kann

In der „Distel“ Großweitzschen wohnen seit sechs Jahren ausländische Jugendliche. Was die Betreuer erlebt haben.

Von Cathrin Reichelt
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Erzieherin Kira Schwenzer betreut eine Gruppe von jungen Leuten im Alter von zwölf bis 18 Jahren in der Intensivpädagogischen Kinder- und Jugendwohngruppe „Die Distel“ in Großweitzschen, die Thomas Mehlhorn leitet.
Erzieherin Kira Schwenzer betreut eine Gruppe von jungen Leuten im Alter von zwölf bis 18 Jahren in der Intensivpädagogischen Kinder- und Jugendwohngruppe „Die Distel“ in Großweitzschen, die Thomas Mehlhorn leitet. © Dietmar Thomas

Großweitzschen. Proteste, wie sie seit einiger Zeit immer wieder gegen die Unterbringung von bis zu zwölf unbegleiteten minderjährigen Ausländern (Uma) in Kriebethal aufflammen, kennt Thomas Mehlhorn. Allerdings nicht in den Kriebethaler Ausmaßen. Auch in Großweitzschen, wo Mehlhorn im Jahr 2014 ein Kinderheim eröffnen wollte, gingen die Einwohner auf die sprichwörtlichen Barrikaden.

Bei einer Versammlung im Gemeindesaal sei damals sogar die Forderung laut geworden, die Fenster des Kinderheimes zu vergittern. Wie in Kriebethal gab es eine Unterschriftensammlung. Doch die Aufregung habe sich schnell gelegt.

„Ich habe den Leuten klargemacht, dass bereits seit 2001 täglich Kinder aus der Intensivtherapeutischen Kinder- und Jugendwohngruppe „Der Kaktus“ aus Höckendorf in Großweitzschen unterwegs sind. Denn dort steigen sie in und aus dem Schulbus.“ Das war bis dahin niemandem aufgefallen.

80 Umas aus 15 Nationen betreut

Mit sechs Plätzen für deutsche Kinder im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren startete Thomas Mehlhorn vor reichlich acht Jahren in die Selbstständigkeit. Seit sechs Jahren gehören auch ausländische Kinder zum normalen Bild in Großweitzschen. „2016 habe ich die ersten Umas aufgenommen“, so Mehlhorn.

Inzwischen hat er die Einrichtung ausgebaut und betreut in der Intensivpädagogischen Kinder- und Jugendwohngruppe „Die Distel“ in Großweitzschen 14 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen sechs und 18 Jahren, in fünf Wohnungen junge Leute zwischen 17 und 21 Jahren und in zwei Wohnungen in Döbeln 18- bis 21-Jährige.

Insgesamt sind es 36 Kinder und Jugendliche. Der Anteil ausländischer junger Leute schwankt zwischen 20 und 30 Prozent. „Bei der Betreuung machen wir keinen Unterschied zwischen deutschen und ausländischen Kinder“, so Mehlhorn.

Über die Jahre haben bisher 80 Jugendliche aus 15 Nationen, überwiegend aus afrikanischen Staaten, in der Distel ein Zuhause auf Zeit gefunden. Ja, natürlich gebe es auch kleinere Probleme. „Aber die Jungs stellen nichts an, was deutsche Kinder nicht auch tun würden“, meint Mehlhorn.

Seit der Eröffnung des Heimes habe es drei Anzeigen gegeben, wegen der Beschädigung der Kirchentür, dem Brand eines Hochsitzes und dem Einbruch in eine Bäckerei. „Aber das waren deutsche, keine ausländischen Kinder“, sagt Thomas Mehlhorn, der die Schäden beglichen hat.

Zu wenige Möglichkeiten, Deutsch zu lernen

In der Distel werden ausschließlich Jungs betreut. Anfangs seien auch Mädchen aus Angola und Somalia aufgenommen worden. Aber sie seien, unter anderem durch die sexuelle Belästigung während der Flucht, so traumatisiert gewesen, dass sie eine noch speziellere Betreuung benötigt hätten.

Die jungen Leute leben in Großweitzschen in Einzelzimmern und sind in vier Gruppen aufgeteilt, um die sich 24 Mitarbeiter rund um die Uhr kümmern. „Wir sind ein ganzes Stück Familienersatz. Mein Anspruch ist es, die Jungs so zu erziehen, dass sie einen Beruf erlernen, eine Familie ernähren können und nicht gewalttätig sind“, so Mehlhorn. Auch ändere sich deren Frauenbild. Es habe noch nie einen körperlichen Übergriff auf eine Erzieherin gegeben.

Die jüngeren Ausländer besuchen die Schule oder einen Integrationskurs, die Älteren absolvieren eine Ausbildung. „Wir haben keinen, der hier tagsüber rumhockt“, meint Mehlhorn. Wie bei den Deutschen sei auch bei den ausländischen Jugendlichen der Bildungsgrad und der Wille zum Lernen unterschiedlich. Voraussetzung sei die deutsche Sprache.

Aber hier liege der Fehler im System. Alles, was im Jahr 2016 aufgebaut wurde, sei wieder abgeschafft worden. Lediglich am Döbelner Gymnasium gebe es noch eine DAZ-Klasse (Deutsch als Zweitsprache). Früher hatte auch das Berufsschulzentrum bis zu zwei solcher Klassen. „Jetzt fahren wir die Jungs jeden Morgen zum Bahnhof, damit sie mit dem Zug zu einem Sprachkurs nach Chemnitz fahren können“, sagt Mehlhorn.

Ganz normaler Tagesablauf

Viele seien Praktiker und würden diesen Teil der Berufsausbildung gut bestehen, aber aufgrund der fehlenden Deutschkenntnisse die Theorie nicht schaffen. Viele Firmen übernehmen die jungen Leute trotzdem – dann als ungelernte Mitarbeiter. Ehemalige Bewohner der Distel arbeiten beispielsweise bei einem Pflegedienst, als Maler und in einem Lager oder bei Obstland. Einer ist im Stahlwerk Riesa angestellt und studiert.

Die jungen Leute haben einen ganz normalen Tagesablauf und werden zur Selbstständigkeit erzogen. Sie kochen selbst, waschen ihre Wäsche, treffen Freunde, gehen ins Kino und sind sehr interessiert an Sport. Den treiben sie unter anderem in Fußball-, Box-, Bogensport- und Judovereinen.

Einer der jungen Leute hat nach seiner Zeit in Großweitzschen bei Dynamo Dresden gespielt, ein anderer als Schiedsrichter Kinder- und Jugendfußballspiele gepfiffen. „Bei uns funktioniert Integration“, meint Mehlhorn.

Die Strukturen der Distel seien so aufgebaut, dass die jungen Erwachsenen bis zum Abschluss der Lehre dort betreut werden und dann ein eigenständiges Leben beginnen. Das funktioniere besser als gedacht.

„Es ist ein gutes Arbeiten mit den ausländischen Jungs“, sagt Thomas Mehlhorn. Beide Seiten würden voneinander profitieren. Der Heimleiter habe zum Beispiel inzwischen arabisch kochen gelernt und alle zusammen feiern das Zuckerfest, Ramadan und Weihnachten.

Man müsse Neues erst einmal auf sich zukommen lassen, keine „riesen Blasen machen“ und offen mit der Situation umgehen. „Wir haben zu 99 Prozent gute Erfahrungen mit den ausländischen Jugendlichen gemacht“, erklärt Thomas Mehlhorn.