Dresden
Merken

Dresden im Volksaufstand

Der 17. Juni 1953 steht im Bewusstsein der Dresdner weit hinter der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg zurück. Dabei verdient dieser Tag durchaus Erinnerung. Ein Rückblick.

Von Ralf Hübner
 4 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Zur Erinnerung an den Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 und in Gedenken der Opfer legt der damalige Oberbürgermeister Herbert Wagner 1995 einen Kranz an der Gedenkstelle Postplatz/Ecke Marienstraße ab.
Zur Erinnerung an den Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 und in Gedenken der Opfer legt der damalige Oberbürgermeister Herbert Wagner 1995 einen Kranz an der Gedenkstelle Postplatz/Ecke Marienstraße ab. © Foto: SZ/Klaus Thiere

Dresden. Demonstrationen, Schüsse, Verhaftungen: Die Erinnerung an den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 in Dresden und an dessen Protagonisten sind nahezu verblasst. Dabei sind nicht nur in Berlin vor 70 Jahren mutige Männer und Frauen gegen die SED-Herrschaft auf die Straße gegangen. Dresden war eines der Zentren des Aufstandes.

"Auch in Dresden versuchen faschistische Provokateure unzufriedene Arbeiter für ihre verbrecherischen Interessen einzuspannen", berichtete die Sächsische Zeitung damals. Der Aufstand hatte sich zunächst in Berlin an einer vom DDR-Ministerrat verfügten Erhöhung der Arbeitsnormen um mindestens zehn Prozent entzündet. Denn die DDR stand nach dem Krieg noch immer unter erheblichem wirtschaftlichen Druck. Millionen Vertriebene mussten versorgt, Kriegsreparationen geleistet und eine eigene Schwerindustrie aufgebaut werden. Die Wut der Arbeiter richtete sich gegen Walter Ulbricht und die SED. "Spitzbart, Bauch und Brille, sind nicht Volkes Wille", skandierten die Demonstranten.

Ausgangspunkt der Unruhen in Dresden war das Sachsenwerk in Niedersedlitz, mit fast 5.500 Beschäftigten der damals größte Industriebetrieb in der Stadt. Zur Ironie der Ereignisse gehört, dass die SED-Betriebsschule 30 Arbeiter des Werkes nach Berlin zur Stalinallee auf Exkursion geschickt hatte, um dort die fortschrittlichen Arbeitsmethoden der Bauarbeiter zu studieren. Nun wurden sie Zeugen der Streiks und Protestzüge und schilderten das Gesehene ihren Kollegen. Schnell waren auf dem Werkshof etwa 2.000 Sachsenwerker versammelt. Vergeblich versuchten der Werkleiter und der Parteisekretär, die Arbeiter von einem Demonstrationszug abzuhalten.

Arbeiterzüge gegen die SED

Gegen 10 Uhr erreichte der Zug den etwa anderthalb Kilometer vom Sachsenwerk entfernten VEB Sächsische Brücken- und Stahlhochbau (ABUS, wo sich ein Teil der Belegschaft anschloss. Die meisten Mitarbeiter wollte zunächst eine Belegschaftsversammlung abwarten, bei der nach den Partei- und Betriebsfunktionären Wilhelm Grothaus das Wort ergriff, ein kaufmännischer Angestellter des Werkes. Er forderte den Rücktritt der Regierung, freie und geheime gesamtdeutsche Wahlen, die Freilassung aller politischen Gefangenen, Abschaffung der "ausbeuterischen" HO-Geschäfte sowie die Verbesserung der Sozialfürsorge. Auf seinen Vorschlag wählten die Arbeiter eine Streikleitung mit Grothaus. Später wurde er auf dem Postpatz von den Versammelten auch zum Gesamtstreikleiter für ganz Dresden gewählt.

Grothaus war ein geachteter ABUS-Mitarbeiter. Er stammte aus Herten in Westfalen, war in der SPD in der KPD gewesen und hatte sich in Dresden im Widerstandskampf engagiert. Von den Nazis zum Tode verurteilt, konnte er in der Feuernacht des 13. Februar 1945 aus dem Gefängnis fliehen. In der DDR machte er im Landwirtschaftsministerium Karriere, wurde aber 1950 gefeuert und ins ABUS strafversetzt.Ein Kollege war in den Westen geflüchtet, Grothaus wurde „mangelnde Aufmerksamkeit“ vorgeworfen. Nach dem 17. Juni wurde er verhaftet und im selben Gerichtsgebäude, in dem ihn schon die Nazis angeklagt hatten, zu 15 Jahre Zuchthaus verurteilt. 1960 kam er vorzeitig frei. Er starb 1966 unbeachtet in seiner Geburtsstadt Herten – und wurde nie rehabilitiert. In Dresden erinnert nicht einmal ein Straßenname an ihn.

Der Aufstand sieht einen weinenden Parteifunktionär

Die Dresdner SED war von den damaligen Ereignissen sichtlich überfordert. Gegen 13.30 Uhr entstieg Otto Buchwitz, ein gestandener Parteifunktionär, am Sachsenwerk einem Wagen der SED-Bezirksleitung und versuchte die Arbeiter zu beschwichtigen. Der ehemalige Sozialdemokrat und Widerstandskämpfer genoss einiges Ansehen. Doch immer wieder wurde Buchwitz von Zwischenrufen und durch Gejohle unterbrochen. Schließlich verlor er völlig die Fassung und begann zu weinen. "Er tat mir leid", sagte Grothaus später.

Währenddessen waren weitere Betriebe in den Streik getreten. Demonstrationszüge näherten sich aus verschiedenen Richtungen der Innenstadt. Transparente und Plakate wurden heruntergerissen. In Sprechchören und auf Schildern forderten die laut Berichten etwa 60.000 Demonstranten den Rücktritt der Regierung und die Einheit Deutschlands. Sie riefen zum Generalstreik auf. Einige Demonstranten versuchten, das Fernmeldeamt am Postplatz zu stürmen. Wachkräfte und Volkspolizisten wurden mit Trümmersteinen beworfen. Sowjetarmisten kamen zur Hilfe. Warnschüsse wurden abgegeben.

Gegen 15.30 verhängte der sowjetische Stadtkommandant Semjon Bogdanow das Kriegsrecht. Die Sowjetarmisten begannen das Stadtzentrum abzusperren und die Demonstranten abzudrängen. Altmarkt, Post- und Theaterplatz wurden von Soldaten und Polizisten besetzt. Mehrere Jugendliche warfen Steine gegen sowjetische Panzer. Dennoch blieben die Straßen noch lange voller Menschen.

Viele Arbeiter wollten den Streik am nächsten Tag fortsetzen. Doch da waren die Anführer der Arbeitsniederlegungen schon verhaftet. Sowjetische Soldaten und Polizei besetzten das Sachsenwerk und andere Betriebe. Rasch erlangte die Staatsgewalt die Initiative zurück. Am 20. Juni meldete die SED-Kreisleitung, dass die Arbeit in allen Betrieben, Institutionen und Warenhäusern wieder aufgenommen sei.