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Wie ein Widerstandskämpfer aus Polen Dresdens Flammenhölle erlebte

An der Elbe fand und verlor der junge Pole Jan Kamieński seine erste Liebe und am 13. Februar 1945 beinahe auch das Leben. Jetzt erscheinen seine Erinnerungen.

Von Oliver Reinhard
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2003 malte Jack Kamieński aus dem Gedächtnis das Bild „Dresden in Trümmern“.
2003 malte Jack Kamieński aus dem Gedächtnis das Bild „Dresden in Trümmern“. © Dundurn Press / Jan Kamienski

Am Postplatz ist Schluss. Weiter kommt Jan Kamieński nicht. Um ihn herum toben die Flammen, Dresden brennt, es ist die Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945. Fünfzehn Minuten haben die britischen Bomber gebraucht, um das Zentrum in ein Inferno zu verwandeln. Mit dem Rad und dann auf einem Lkw ist der 22-jährige Pole aus seinem Wohnort Hellerau in die zerstörte Innenstadt geeilt, wie unzählige Helfer, Feuerwehren, Rettungswagen aus den verschonten Stadtteilen und der Umgebung. Jetzt steht Jan Kamieński mitten im Chaos und vor der entscheidenden Frage seines Lebens, was er da indes noch nicht wissen kann: Soll er versuchen, es doch noch tiefer ins Zentrum zu schaffen, wo Freunde wohnen, um die er sich sorgt – oder soll er das lieber nicht tun?

„Es war und ist noch immer eine schreckliche moralische Frage“, wird Kamieński Jahrzehnte später in seinen Erinnerungen notieren. Obwohl die Freunde überlebt haben, wie er bald erfahren sollte. Und obwohl er selbst nur knapp davongekommen ist. Seine Entscheidung, die Altstadt zu verlassen und zurückzukehren, rettet ihm damals das Leben. Kurz darauf, 1.23 Uhr, ist die zweite Bomber-Welle da und vollendet das Werk der ersten. Von den Menschen, die mit ihm ins brennende Zentrum geeilt sind, wird es kaum jemand wieder verlassen.

Franziska Ulich und Jan Kamieński (l.) 1944 am Zwinger mit seinem Vater, der aus Polen zu Besuch gekommen war.
Franziska Ulich und Jan Kamieński (l.) 1944 am Zwinger mit seinem Vater, der aus Polen zu Besuch gekommen war. ©  privat

Es sind die dramatischsten Passagen in den Erinnerungen von Jan Kamieński, niedergeschrieben sechzig Jahre später in Kanada, der neuen Heimat von Jack, wie er sich seit der Einwanderung 1948 genannt hat. Am Freitag werden sie als Buch in Dresden der Öffentlichkeit vorgestellt. „Verborgen vor den Augen des Feindes“ ist nicht nur ein weiteres von zahllosen Stücken Erinnerungsliteratur um den 13. Februar 1945. Vielmehr wirft Kamieński einen – für hiesige Verhältnisse – ganz und gar ungewöhnlichen Blick auf die Kriegsjahre in Dresden.

Einen Blick mit den „Augen des Feindes“, des jungen Polen, dessen Heimat von den Deutschen überfallen worden ist. Dessen Landsleute unterdrückt, ausgebeutet und massenhaft ermordet werden. Den der polnische Widerstand nach Dresden schickt, um hier für sein Land zu spionieren. Der in Dresden aber auch viele der „anderen Deutschen“ kennen- und schätzen lernt. Der hier seine erste Liebe findet und wieder verliert: Franziska Ulich. Ohne die dieses 2006 in Kanada veröffentlichte Buch in Deutschland nie erscheinen würde.

Für das Belegschaftsfoto der Boehner-Film legte Jan Kamieński eine Fliege an und seine Hand auf die Schulter von Franziska. Ob beziehungsweise dass der junge Pole und die junge Dresdnerin im Krieg ein Paar waren, verschweigt Kamieński in seinen Erinnerung
Für das Belegschaftsfoto der Boehner-Film legte Jan Kamieński eine Fliege an und seine Hand auf die Schulter von Franziska. Ob beziehungsweise dass der junge Pole und die junge Dresdnerin im Krieg ein Paar waren, verschweigt Kamieński in seinen Erinnerung ©  privat

Jack war in unserer Familie immer präsent durch die Erzählungen meiner Mutter“, sagt Franziskas Sohn Andreas Hänel. „Aber nur als Freund, als Mitstudent an der Kunstakademie und als ihr Kollege bei den Boehner-Filmstudios, wo beide gearbeitet haben.“ Was aber Jan Kamieński wirklich getan hat, „dass er im polnischen Widerstand war, das haben wir nicht gewusst“, ergänzt Roswitha Hänel, die Schwiegertochter von Franziska. Auch nicht, dass die beiden wohl doch mehr als nur gute Freunde gewesen sind.

Die Geschichte des Buches „Verborgen vor den Augen des Feindes“ beginnt im Jahr 2000 mit einem Klingeln an der Haustür in Hellerau und der Frage: „Wohnt hier noch eine Franziska Ulich?“ Es war ein Kanadier, der in Dresden an der Universität zu tun hatte und von seinem Freund Jack Kamieński gebeten worden war, bei der Gelegenheit doch mal an der alten Adresse seiner Gastfamilie nachzuforschen.

Nachtstunden beim Ferngespräch am Telefon

Bald kamen regelmäßig Briefe aus Winnipeg von Jan-Jack, und Franziska, die nicht mehr so gut sehen konnte, verbrachte diverse Nachtstunden am Telefon. Immer erst ab 24 Uhr, weil es bei Jack da Tag und außerdem das Ferngespräch kostengünstiger war. Wie Teenies. Der Austausch, abgebrochen in den Fünfzigern, „weil mein Vater wohl eifersüchtig war“, so Andreas Hänels Vermutung, lebte wieder auf. Jetzt ohne eheliches Konfliktpotenzial; Franziskas Mann war 1981 gestorben.

Irgendwann teilte Jack ihr mit, dass er seine Memoiren schreibe. Sie erschienen 2006. Drei Jahre später starb Franziska. „Das hat Jack sehr bewegt“, sagte Roswitha Hänel, die damals mit ihm telefonierte. Wieder drei Jahre später folgte ihr Jack. Über dessen Tochter erfuhren Hänels vom Buch. Es dauerte, bis sie es lesen und erkennen konnten: Das muss unbedingt in Deutschland erscheinen. Weitere Jahre und die Hilfe der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Sachsen mit deren Vorsitzendem Wolfgang Howald sowie der Stiftung Sächsische Gedenkstätten waren nötig, bis es jetzt im Sandstein-Verlag erscheinen kann.

Jan (l.), Franziska und einige Mitstudenten beim Rumblödeln während des Aktzeichnens an der Kunstakademie.
Jan (l.), Franziska und einige Mitstudenten beim Rumblödeln während des Aktzeichnens an der Kunstakademie. ©  privat

Was auffällt: Der kanadische Künstler, Illustrator und Journalist Jack Kamieński war ein großes Erzähltalent mit viel Empathie und einer großen Beobachtungs- und Gestaltungsgabe. Was noch mehr auffällt: Der junge Pole Jan Kamieński hat ein geradezu irrwitziges Leben geführt. Geboren im bis 1919 von Deutschland okkupierten und zwangseingedeutschten Poznán, erlebt er als 16-jähriger das Elend von Kriegsausbruch, Eroberung und Unterdrückung durch das „Dritte Reich“ und die Sowjetunion.

Mit seiner deutschen Mutter und dem polnischen Vater flieht er und wird Zeuge erster Massaker, als sein Zug und die Straße daneben beschossen werden. „Die Luftwaffe war nicht wählerisch in der Bestimmung ihrer Ziele, die Straße war gesäumt mit Flüchtlingen … Tote Pferde, Rinder und ja, auch getötete Menschen lagen auf der Straße.“ Aus seinem Land wird „ein riesiges Reservoir von Wegwerf-Sklavenarbeitern für die deutsche Herrenrasse“, aus der besetzten Mitte Polens, dem sogenannten Generalgouvernement, eine „Arena des Massenmordes“.

Er "schleuste" polnische Agenten von Ost nach West

Im Juni 1940 wird Jan Mitglied des polnischen Widerstands und ein Jahr später als offiziell „Staatenloser“ nach Dresden entsendet. Dort sucht er sich eine Unterkunft und Arbeit und beherbergt gelegentlich entfernte „Verwandte“: polnische Geheimdienst-Kuriere auf dem Weg von Ost nach West, meistens nach England, wo die polnische Exilregierung residiert und Tausende Polen aufseiten der Briten kämpfen.

Der 18-Jährige nimmt Zeichenstunden an der Kunstakademie und arbeitet zunächst in einem der zahlreichen Dresdner Rüstungsbetriebe. Dann findet Jan einen Job, der ihm mehr liegt: In den Gorbitzer Boehner-Studios zeichnet er mit an Animationsfilmen für Waffen-Schulungen und für die Wochenschau. Eine seiner Zeichenmitschülerinnen und Studio-Kolleginnen ist die drei Jahre ältere Franziska Ulich. Für das, was zwischen ihnen beginnt, wird Jack Kamieński später ausschließlich das Wort „Freundschaft“ benutzen. Doch viele Fotografien der beiden und vor allem Jacks spätere Briefe sprechen eine andere Sprache, wenn auch nur zwischen den Zeilen.

Am Dresdner Postplatz musste sich Jan Kamieński am 13. Februar 1945 entscheiden: Soll er Freunde suchen, die weiter im Zentrum leben, oder soll er umkehren?
Am Dresdner Postplatz musste sich Jan Kamieński am 13. Februar 1945 entscheiden: Soll er Freunde suchen, die weiter im Zentrum leben, oder soll er umkehren? ©  SZ-Archiv

Sie waren menschlich und geistig schon sehr auf einer Ebene“, sagt Andreas Hänel. „Irgendwann soll auch mal das Wort Hochzeit gefallen sein“, ergänzt Roswitha Hänel. „Aber wohl eher so halbernst, wie man das halt manchmal so macht.“ Franziska findet für Jan eine kleine Wohnung in Hellerau unweit ihres Elternhauses, wo er bald ein und aus geht. Ulichs sind entschiedene Hitler-Gegner, man hört heimlich die „Feindnachrichten“ des BBC.

Und trotzdem erzählt Jan ihnen nicht, warum er eigentlich in Dresden ist. Dass er Agenten beherbergt und Informationen über die Kriegslage sammelt, die er in die Lager der Polen schmuggelt, in Klotzsche, in Freital, in Radebeul und Bad Schandau. Dass er auch Ulichs dadurch in Lebensgefahr bringt, wird ihm erst bewusst, als er einmal kontrolliert wird, aber Glück hat.1943 stellen sich gravierende Veränderungen ein. Kamieński registriert den Stimmungsumschwung unter den Deutschen nach der Niederlage von Stalingrad.

Kurz nachdem Jan Kamieński es verlassen hatte, wurde das Stadtzentrum von einer zweiten Bomber-Welle nahezu vollständig zerstöt.
Kurz nachdem Jan Kamieński es verlassen hatte, wurde das Stadtzentrum von einer zweiten Bomber-Welle nahezu vollständig zerstöt. © Deutsche Fotothek

Groß ist seine Verzweiflung, als er bemerkt, dass in den englischen Nachrichtensendungen immer herablassender über die Polen geredet wird und die Briten sein Land schließlich an deren wichtigeren Verbündeten Stalin „verraten“. 1944 hat Jan immer deutlicher das Bild „einer langsamen, aber allmählich sich beschleunigenden Agonie des hässlichen Molochs des Dritten Reiches vor Augen, das langsam an dem erstickte, was es versuchte, zu verschlucken.“ Dass Dresden sich zu den Städten gesellen könnte, die der Bombenkrieg seit 1943 in Trümmerlandschaften verwandelt, hält Jan Kamieński wie die meisten Dresdner für ausgeschlossen. Es ist Franziska, die beim Luftalarm am 13. Februar 1945 sagt: „Oh Gott, vielleicht ist das wirklich ernst.“

Die Verbundenheit der beiden muss sehr tief gewesen sein. Über niemanden schreibt Jack Kamieński 65 Jahre später vertrauter. Aus Fotos mit den beiden spricht mehr als das. Auf einem Belegschaftsbild des Studios liegt sein Arm auf ihrer Schulter. Eine Zeichnung zeigt sie beim Spazieren gehen so eng beieinander, dass kein Blatt dazwischen gepasst hätte. Als Franziska am frühen Morgen des 14. Februar 1945 zu Jan eilt und den Rauch des brennenden Dresden an ihm riecht, ist sie außer sich vor Zorn und belegt ihn mit heftigsten Schimpfworten.

„Schlachtenmaler“ für die Rote Armee

Einig sind sie sich nicht immer. Auch nicht über „die Russen“. Franziska, die kommunistisch denkt, sehnt sich die Rote Armee geradezu herbei. Jan, der weiß, was die Sowjetunion seiner Heimat und seinen Landsleuten von 1939 bis 1941 angetan hat und dass sie bereits wieder im Begriff ist, in Polen erneut ihr Unterdrückungsregime zu etablieren, sieht das skeptischer. Dennoch ist auch er glücklich, als am 8. Mai der erste russische Soldat, dem er begegnet, zu ihm „Druzya“ sagt – Freunde. Im Herbst öffnet die Kunstakademie wieder. Jan Kamieński ist einer der Ersten, die sich in die Zeichenklasse des berühmten Wilhelm Rudolph eintragen.

Seinen Lebensunterhalt verdient er bei den Sowjets, zunächst als Dolmetscher und Teil einer „Trophäen-Kommission“, dann als Porträtist für russische Offiziere und „Schlachtenmaler“ für Einrichtungen der Roten Armee. Doch irgendwann beginnen die Bindungen zu Deutschland, sich zu lösen. Beinahe lakonisch notiert Jack: „Die Freundschaft mit Franziska zerbrach im Sommer 1946. Es passierte ganz plötzlich, und es war schmerzhaft und unwiderruflich.“ Warum es passierte, auch das behält er für sich. Als habe er ein Geheimnis bewahren, eine Erinnerung beschützen wollen.

Jack Kamieński 2005 in seiner Heimat Kanada, wo er als Zeichner, Illustrator und Journalist arbeitete. Das Foto entstand, kurz nachdem seine Memoiren erschienen waren. Franziska war kurz zuvor gestorben. 2006 verschied auch Jack Kamienski.
Jack Kamieński 2005 in seiner Heimat Kanada, wo er als Zeichner, Illustrator und Journalist arbeitete. Das Foto entstand, kurz nachdem seine Memoiren erschienen waren. Franziska war kurz zuvor gestorben. 2006 verschied auch Jack Kamienski. ©  privat

,Ein Jahr später hat Jan eine Ausstellung und muss erleben, dass ein Bild von ihm zensiert wird. Noch ein Jahr darauf heiratet Jan eine Mitstudentin und wandert mit ihr nach Kanada aus, wo ein Onkel auf sie wartet. Ein Grund: der ständige Hunger. Der andere: „Die Sowjets wollten uns wieder zum Superrealismus zurückführen. Dieser war zuvor von den Nazis befohlen und erzwungen worden, und wir Künstler waren so froh gewesen, ihn endlich hinter uns gelassen zu haben.“ Selbst wenn Jack Kamieński sich niemals hat an derart viele Details erinnern können, wie sein Buch glauben macht: „Verborgen vor den Augen des Feindes“ ist das bemerkenswerte Zeitzeugnis eines bemerkenswerten Menschen, für den Feind nicht gleich Feind war, auch wenn das Volk seiner Freunde und deren Tochter keinem anderen Land so schrecklich mitgespielt hat wie dem seinen.

„Wir halten die Erinnerung an ihn lebendig“, sagt Roswitha Hänel, auch die materielle: An der Decke ihres Kellers in Hellerau, wo die Familie beim Luftalarm Schutz gesucht hat, steht noch immer das Wort „Uschee“, Franziskas Spitzname, mit Kerzenruß dorthin gekritzelt vor beinahe 80 Jahren von Jan Kamieński. „So ist er irgendwie immer noch präsent“, sagt Andreas Hänel.

Jan Kamieńskis Buch „Verborgen vor den Augen des Feindes“ ist erschienen im Dresdner Sandstein-Verlag.