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Zwischen OP-Tisch und Meistertitel

Die Dresdnerin Andrea Hafenstein hat einen Hirntumor, einen Schlaganfall und Krebs überlebt. Jetzt ist sie Schach-Meisterin.

Von Henry Berndt
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Kleine, große Kämpferin: Andrea Hafenstein lässt sich von keinem Schicksalsschlag aufhalten. Nun wurde sie Deutsche Meisterin.
Kleine, große Kämpferin: Andrea Hafenstein lässt sich von keinem Schicksalsschlag aufhalten. Nun wurde sie Deutsche Meisterin. © Christian Juppe

Dresden. Nur zu ganz besonderen Anlässen bringt sie ihre Fingernägel zum Glänzen. Und das war so einer für Andrea Hafenstein. Kurz vor der Abreise verzierte der Künstler Kay "Leo" Leonhardt, ein guter Freund von ihr, ihre Nägel - sie sollten ihr Glück bringen. Und es funktionierte. Dass Andrea Hafenstein vergangene Woche in Magdeburg Deutsche Meisterin im Blitzschach in ihrer Altersgruppe ü50 geworden ist, kann man ohne zu übertreiben als Wunder bezeichnen. Auch ihre Ärzte staunten, als die 59-Jährige mit gleich mehreren Pokalen zurück auf die Station kam. Dürfte diese Frau doch, nach allen Wahrscheinlichkeiten der Schulmedizin, eigentlich schon lange nicht mehr leben, geschweige denn Schachturniere gewinnen.

Beim Turnier in Magdeburg spielte Andrea Hafenstein ihre ganze Erfahrung aus.
Beim Turnier in Magdeburg spielte Andrea Hafenstein ihre ganze Erfahrung aus. © privat

Ihre Krankheitsgeschichte begann vor 23 Jahren mit der Diagnose Hirntumor. Es folgten ein Schlaganfall und eine seltene und besonders aggressive Form von Hautkrebs. Zu diesem Zeitpunkt gaben ihr die Ärzte nur noch wenige Wochen zu leben. In ihrem Tagebuch verabschiedete sich Andrea Hafenstein bereits von ihren Kindern. Direkt vor der OP wurde sie darauf vorbereitet, ihre Nase, ein Auge und ein Bein zu verlieren. Doch sie war noch lange nicht schachmatt.

"Das Schachspiel hat mir immer wieder das Leben gerettet", sagt die Wahl-Dresdnerin heute. Entdeckt wurde ihr Talent für das Spiel schon zu Schulzeiten in Lutherstadt Wittenberg. Dort hatte sie Schach als Unterrichtsfach. Eines Tages besuchte der kürzlich verstorbene Großmeister Wolfgang Uhlmann ihre Schule. Die einzige, die ihm beim Simultanschach schlug, war die damals 14-jährige Andrea. Viele Jahre später schrieb er für ihr eigenes Buch "Schach dem Tumor" die weisen Worte: "Betrachten Sie das Schachspiel als Lebenselixier."

Von Krankheiten ließ sie sich nie aufhalten: Zwei Tage vor der Tumor-OP 1998 nahm sie an den Bezirksmeisterschaften teil und wurde Zweite. Sechs Wochen später holte Andrea Hafenstein bei der Deutschen Meisterschaft der Damen den neunten Platz. Mit den Rodewischer Schachmiezen im Vogtland spielte sie in der Ersten Bundesliga.

15 Jahre Morphium

Vor zwei Jahren musste Andrea Hafenstein wieder unters Messer. Ihre 33. Operation. Nach den vielen Krebs-OPs waren die durch eine Trigeminusneuralgie im Gesicht hervorgerufenen Schmerzattacken nicht mehr auszuhalten. 15 Jahre lange hatte sie sich zwischendurch mit Morphium betäubt und es erst 2015 abgesetzt.

Wie bereits einige Male zuvor, fragte nun der Professor persönlich, ob er sie operieren dürfe. Auch er hatte die kleine Kämpferin mit der großen Klappe längst in sein Herz geschlossen. Sechs Stunden dauerte der Eingriff, bei denen die Nervenbahnen mit Teflon voneinander abgeschirmt wurden. Zurück blieb eine 13 Zentimeter lange Narbe.

"Seitdem habe ich 50 Prozent weniger Schmerzen", sagt Andrea Hafenstein. Statt 30 Schmerzattacken täglich, sind es nur noch 15. "Die sind aber dafür heftig." So heftig, dass es noch immer Tage gibt, an denen sie nicht daran denken kann, das Haus zu verlassen.

Stolz nahm sie nach dem Blitzturnier den gläsernen Pokal entgegen.
Stolz nahm sie nach dem Blitzturnier den gläsernen Pokal entgegen. © privat

Ihr Kontrolltermin in der Klinik in Magdeburg musste zuletzt mehrfach verschoben werden. Erst war Corona Schuld, dann vier komplizierte Kiefer-OPs. Schachspieler würden von einer "Hängepartie" sprechen. Ende Juli konnte sie sich dann endlich auf den Weg machen.

Nicht mal eine Woche zuvor bekam sie mit, dass zur selben Zeit unweit der Klinik in Magdeburg die Deutschen Schachmeisterschaften ausgetragen wurden. Spontan rief sie beim Turnierdirektor an und fragte, ob sie noch am Blitzschach teilnehmen könne. Am Ende durfte sie das ganze Turnier im Maritim Hotel mitspielen, da sowieso Frauen-Mangel herrschte. "Das war reiner Zufall. Ohne den mehrfach verschobenen Termin wäre ich nicht dabei gewesen."

Die normalen Schachpartien dauern bis zu sechs Stunden. Beim Blitzschach dagegen hat jeder Spieler insgesamt nur fünf Minuten für das ganze Spiel und muss sich seine Zeit selbst einteilen. "Das liegt mir", sagt Andrea Hafenstein. "Ich bin sowieso ein schneller Spieler und seit meinem Schlaganfall kann ich mich nicht mehr so lange konzentrieren."

"Im Kopf gerattert"

Am besten funktioniert das morgens - doch das Blitzschachturnier begann erst 17 Uhr. Auch während der Partien hatte sie Schmerzen. Manchmal verkrampft ihre rechte Gesichtshälfte. Doch das kennt sie und hält die Konzentration. Spät am Abend stand nach 13 Runden gegen Männer und Frauen fest: Andrea Hafenstein holt tatsächlich den Sieg. "Danach hat es in meinem Kopf nur noch gerattert und ich habe kaum in den Schlaf gefunden." Beim normalen Schachturnier wurde sie einige Tage später Zweite in ihrer Altersgruppe und sicherte sich einen weiteren Pokal. Nach insgesamt 31 Partien an zehn Tagen ging es zurück nach Hause, nicht ohne den Auftrag ihres Arztes, einen Gefäßspezialisten aufzusuchen, der ihre Halsschlagader kontrollieren soll.

Natürlich kommen Pokale daheim in die Sammlung. Wirklich entscheidend aber sind die Siege für sie nicht. "Wichtiger ist mir, dass ich mir und anderen beweisen konnte, was ich noch draufhabe. Das macht mich wirklich stolz."