Dresden. Über 200 Überfälle auf Jugendliche hat die Polizei seit Dezember in Dresden gezählt. Die Dresdner Jugendamtsleiterin Sylvia Lemm über die Motivation der Täter, den teilweise fehlenden Schulbesuch und die kritische Lage im Kinder- und Jugendnotdienst.
Frau Lemm, seit Monaten gibt es immer wieder Überfälle von Jugendlichen auf Jugendliche. Wo sehen Sie die Ursachen für diese Häufung?
Wir haben nicht in jedem Fall eine genaue Kenntnis zu den Hintergründen. Machtdemonstration spielt sicher eine Rolle. Wie stark bin ich? Wie stark bin ich in der Gruppe? Es gehört bis zu einem gewissen Punkt auch zur Entwicklung von Jugendlichen, sich auszutesten. Jungs und Mädchen sind da verschieden, Mädchen nutzen für die Präsentation in der Gruppe eher die sozialen Medien und den verbalen Austausch. Die physische Machtdemonstration in der Gruppe beobachten wir eher bei Jungs.
Welche Rolle spielt dabei die fehlende Tagesstruktur? Unter den Tätern und Tatverdächtigen sind auch Jugendliche, die keine Schule besuchen.
Von den uns bisher bekannten Tätern kämpfen etwa 50 Prozent mit Schulabsentismus, also besuchen nicht oder nicht regelmäßig die Schule. Das heißt aber auch 50 Prozent gehen regelmäßig zum Unterricht.
Mussten Sie schon Jugendliche, die immer wieder zum Täter werden, in Obhut nehmen aufgrund der Überfälle?
Nicht aus diesem Grund. Wenn es nötig ist, unterstützen unsere Sozialarbeitenden die Familien mit Hilfen zur Erziehung. Kriminalität ist für den Fokus der Jugendhilfe eher eine Nebenerscheinung, wir schauen bei den Familien dann auf andere Probleme wie Vernachlässigung und Überforderung. Und fragen: Wie können wir hier unterstützen?
Wie gehen Sie als Jugendamt konkret vor, wenn ein Jugendlicher wiederholt zum Täter wird?
In Einzelfällen gibt es Konferenzen zum Fall mit Polizei, Schule und Jugendamt. Wir brauchen die Schulen insbesondere an Bord, wenn Schulabsentismus ein Thema ist. Hier müssen wir ansetzen.
Helfen kann auch die Jugendgerichtshilfe. Wie funktioniert das genau?
Hier gibt es das Interventions- und Präventionsteam, das Gespräche mit den Jugendlichen und den Eltern führt, berät und hilft. Darüber hinaus erhalten junge Menschen Hilfe bei richterlich angeordneten Konsequenzen wie zum Beispiel Sozialstunden.
Wie erfolgreich sind diese Maßnahmen? Wie viele Täter werden zu Wiederholungstätern?
Hier kann ich noch keine Zahlen nennen, dafür müsste man langfristig auf die Entwicklung schauen.
Welche Konsequenzen drohen denn den Tätern langfristig, wenn die Maßnahmen der Jugendgerichtshilfe nicht greifen?
Die Ausstellung eines Führerscheins kann im Zweifelsfall problematisch werden, wenn es viele Einträge im Strafregister gibt. Auch wer später einmal zum Beispiel bei der Polizei oder in der Jugendhilfe arbeiten will, sollte ein eintragungsfreies Führungszeugnis haben. Bei künftigen Arbeitgebern kommt es sicher nicht gut an, wenn ein Aufenthalt in einer Jugendstrafvollzugsanstalt im Lebenslauf steht.
Eine andere Herausforderung für das Jugendamt ist die Situation im Kinder- und Jugendnotdienst. Zuletzt mussten Sie dort sehr viele unbegleitete ausländische Minderjährige in Obhut nehmen. Wie ist die Lage dort aktuell?
Wir haben drei Standorte vom Kinder- und Jugendnotdienst und zwei bei freien Trägern. Wir sind am Limit und darüber hinaus, bei der Belegung und beim Personal. Aktuell haben wir 89 offizielle Plätze, sie sind mit 105 Kindern und Jugendlichen besetzt. Wir müssen teilweise Zweibettzimmer aufstocken, um drei Minderjährige unterbringen zu können. Täglich kommen bis zu acht Inobhutnahmen dazu. Von deutschen Kindern und von unbegleiteten ausländischen Minderjährigen.
Woher kommen die jungen Geflüchteten?
Die meisten kommen aus Syrien und Afghanistan. Sie werden meist von der Polizei am Hauptbahnhof aufgegriffen und zu uns gebracht.
Wie lange müssen die Jugendlichen dann im Notdienst bleiben?
Der Notdienst ist eigentlich nur als kurzfristige Lösung angedacht. Allerdings müssen viele Jugendliche durchschnittlich sechs Wochen bleiben, bevor geklärt ist, ob sie in Dresden bleiben und wo sie untergebracht werden können.
Zuletzt wurde klar, dass für rund 100 geflüchtete Kinder im vergangenen Schuljahr kein Schulplatz da war. Warum bekommen das die Behörden nicht in den Griff?
Das gehört in die Zuständigkeit vom Landesamt für Schule und Bildung. Hier wünsche ich mir eine schnelle Lösung, dass alle einen Schulplatz für das neue Schuljahr bekommen.
Wir haben 13 offene Stellen in den Kinder- und Jugendnotdiensten, wir sind aber im Besetzungsverfahren und bekommen neue Mitarbeitende. Ich brauche dringend mehr Plätze für die Inobhutnahme, mir fehlt aber das Personal. Und das geht auch den freien Trägern so.
An der Bezahlung liegt es nicht unbedingt. Der Kinder- und Jugendnotdienst ist rund um die Uhr geöffnet. Das können Sozialarbeitende, die selbst Kinder haben, schlecht mit Job und Familie vereinbaren. Wir mussten im Herbst wieder mit Abordnungen aus anderen Ämtern, die uns unterstützt haben, arbeiten. Mitarbeitende aus dem Sozialamt, Kitaamt und Gesundheitsamt haben geholfen. Und wir öffnen uns auch für Nicht-Fachkräfte.
Nicht nur die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten, die in Obhut genommen werden müssen ist hoch, auch die Zahl der deutschen Kinder. Wie lange müssen sie im Notdienst bleiben? Sie suchen ja auch dringend Pflegefamilien.
Das ist richtig, auch deutsche Kinder müssen wir wegen Überforderung, Vernachlässigung oder Suchterkrankungen der Eltern aus den Familien nehmen. Bei den kleinen Kindern unter 12 Jahren ist die Aufenthaltsdauer im Notdienst etwas länger, wir prüfen immer auch den Weg zurück in die Herkunftsfamilie. Im Durchschnitt sind das vier bis sechs Wochen. Wir suchen dringend Pflegefamilien und Bereitschaftspflegeeltern, die Kinder bei sich aufnehmen.