Dresden. Verständnislose Blicke ringsum. So derart verdattert schaut das Publikum am Premierenabend nur einmal: Wo bitte ist die zersägte Blondine hin? Schlauberger hatten gemeint, sie verstecke sich im Treppchen unter ihrem Schafott. Aber nein! Scott, der Sägenmann, nimmt ihnen diese Illusion mit einer noch viel besseren, die wohl jeden Zuschauer grübelnd zurücklässt. Die perfekte Nummer. Zumindest im Zirkus alter Schule, in dem es eben die Frauen sind, die zersäbelt werden.
Weniger gefährlich leben sie als Staffage der Artisten. Da dürfen sie knicksen und lächeln und winken und Messer reichen. Allesamt in glitzrigen Lycra-Leggins und kurzen Röckchen. Was fürs Auge halt. Nicht wirklich schlimm, weil ästhetisch. Aber der Klapps auf den Hintern? Irgendwie schleicht sich doch ein Zweifel in dieses archaische Metier: Ist das alles noch zeitgemäß?
Da spricht noch niemand von Tieren. Die hat die Politik, angetrieben von Tierschützern, schon länger auf dem Kieker. Thema Wildtierverbot. Am Premierenabend des 25. Dresdner Weihnachtszirkus haben sich Demonstranten neben der leuchtenden Zeltstadt auf dem Volksfestgelände versammelt. Dort halten sie Plakate hoch und kommen mit ihrem Trommeln doch nicht gegen die Stimmungsmusik im Zelt an. Aber sie sind da und mit ihnen die Frage: Ist das alles noch zeitgemäß?
Ist es nicht. Eigentlich gar keine Frage. Doch der Zauber ist groß, und so gern lassen sich nach zwei Jahren Corona-Zwangspause die Menschen von der Zauberwelt Zirkus umfangen. Die ist eben auch wirklich schön: Glanzvoll, bunt, schillernd, aufregend. Das ganze Gegenteil vom Alltag, zumal in dieser angespannten Zeit. Der Sog zu denken: Hier ist die Welt noch in Ordnung. Doch man muss weder Feminist noch Tierschützer sein, um ein Unbehagen zu spüren.
Dass alle Künstler, die das hochkarätige Programm des Dresdner Weihnachtszirkus gestalten, achtenswerte Leistungen erbringen - unbenommen. Da ist Daniella Arata aus den USA, die nicht nur eine schön anzusehende und sportlich beeindruckende Darbietung zeigt, sondern auch mit einem goldflitterigen Knall die Manege verlässt, nachdem ihr Pfeil rückwärtig traf.
Ebenfalls kraftvoll und formvollendet schwingt sich ihr Landsmann Patrick Marinelli an seinen Strapaten hoch über den Köpfen der Zuschauer durchs Chapiteau. Rasant fliegen die Artisten rund um Joszef Richter per Schleuderbrett durch die Luft und stapeln sich zu Pyramiden auf - eine Performance, die mit Fröhlichkeit und Temperament einfach Spaß macht.
Auch stockender Atem darf nicht fehlen. Patrick und Josue Marinelli sorgen mit ihrem Salto Mortale auf dem Rad des Todes dafür. Ebenso das kolumbianische Ensemble The Robles mit einem wahren Drahtseilakt in schwindelerregenden Höhe. Jongleur Michael Ferreri aus Spanien steht mit seinen 390 Ballkontakten bei einer Jonglage mit fünf Bällen im Guinnessbuch der Rekorde.
Dass es unter Leitung Mario Müller-Milanos keinen tierfreien Zirkus geben wird, gilt als in Stein gemeißelt. Der Retter und Gestalter des Dresdner Weihnachtszirkus ist ein Zirkusmann alter Schule, ein leidenschaftlicher, hoch anspruchsvoller Programmmacher, dem die Manege in den Genen liegt.
Zirkusgenerationen haben ihn geprägt. Seine Mutter Sonja war mit ihrer Löwen-Nummer weltberühmt und wurde von ihrer Lieblingslöwin schwerstverletzt, als diese unvermittelt das Maul schloss, in das die Dompteurin ihren Kopf gelegt hatte. Wenn Dressuren missglücken, hat der Artist einen Fehler gemacht, so Müller-Milano. Das ist sicher richtig. Genau so wie Artisten die Liebe zu ihren Tieren und die Sorge um deren Wohl nicht abzusprechen ist.
Und doch mischt sich ein Unwohlsein in die Faszination, die von galoppierenden Rappen und parierenden Raubkatzen ausgeht, von Männchen machenden Elefanten und all den Tieren, die in Manegen vorgeführt werden. Früher wurden Menschen anderer Kulturen bestaunt und Handikaps dem Gelächter des Publikums preisgegeben. Das ist Gott sei Dank vorbei. Muss man wirklich glühender Tierfreund sein, um nicht mehr zu wollen, dass uns diese Wesen zur Unterhaltung zur Verfügung stehen?
Mag der Dresdner Weihnachtszirkus in diesem Jahr noch all das sein, was er immer war: ein klassischer Zirkus voller Glanz und Geruch nach Sägespänen, Peitschenknallen, knicksenden Damen, tänzelnden Pferden, rüsselnden Elefanten. Aber dann ist auch genug damit. Dann muss er sich neu erfinden - für die jungen Zuschauer, die anders ticken als die alten und die Faszinierten von morgen sein wollen.
Tickets unter 0180 3302330 sowie am Kassenwagen und auf www.dwc.de