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So geht es Dresdens Zwillingswunder heute

Bei einem sehr seltenen Eingriff wurden die Kreisläufe von Vito und Tonio noch im Mutterleib getrennt. Ihre Eltern können ihr Glück noch heute kaum fassen.

Von Dominique Bielmeier
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Sören Berthold und Jacqueline Berthold-Böhme sind die stolzen Eltern der eineiigen Zwillinge Vito und Tonio. Die beiden besuchen mittlerweile die Krippe in der Kita von Schwester Sara (6).
Sören Berthold und Jacqueline Berthold-Böhme sind die stolzen Eltern der eineiigen Zwillinge Vito und Tonio. Die beiden besuchen mittlerweile die Krippe in der Kita von Schwester Sara (6). © Sven Ellger

Dresden. Um Vito und Tonio auseinanderhalten zu können, braucht man entweder die geschulten Augen ihrer Eltern Jacqueline Berthold-Böhme und Sören Berthold - oder man schaut den beiden knapp Anderthalbjährigen eine Weile beim Spielen zu. Der Zwilling, der seinem Bruder immer wieder den Spielzeugbagger oder das Schmusetuch abspenstig macht, ist wahrscheinlich Vito.

"Charakterlich sind sie schon sehr verschieden", erzählt Mutter Jacqueline Berthold-Böhme. Tonio der Ruhigere, Liebere, Vito der Draufgänger, der seinen Bruder zu gerne ärgert. "Zwillinge eben." Die Eltern nehmen es gelassen und kaufen alles doppelt: Bagger, Schmusetuch, Kleidung sowieso. "Zwei unterschiedliche Autos hinstellen - das geht nicht", sagt Sören Berthold und lacht.

Ein Auto für zwei Jungen? Da ist Ärger vorprogrammiert. Die meisten Spielsachen gibt es deshalb in doppelter Ausführung, Kleidung sowieso.
Ein Auto für zwei Jungen? Da ist Ärger vorprogrammiert. Die meisten Spielsachen gibt es deshalb in doppelter Ausführung, Kleidung sowieso. © privat

Wachsen da etwa zwei kleine Tyrannen heran? Nein, eher zwei kleine Wunder: Denn Tonio und Vito können inzwischen nicht nur laufen und kräftig mit dem Löffel reinschaufeln ("oder daneben, wie man's nimmt", sagt ihr Vater), sie sind auch insgesamt kerngesund und entwickeln sich wie jedes andere Kind in diesem Alter auch. "Man merkt nicht, dass da mal was gewesen ist", sagt Sören Berthold.

Hinter diesem "Was" verbirgt sich eine erschreckende Statistik: Die Chance, dass die Familie nun schon ihr zweites Weihnachtsfest mit zwei gesunden Jungen verbringen würde, lag bei nur etwa 30 Prozent.

Ohne Behandlung wären beide Babys gestorben

Mutter Jacqueline hatte zuerst an ihrem Bauch gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Der war schon in der 20. Schwangerschaftswoche, kurz vor Ostern 2019, so rund, dass man sie für hochschwanger halten konnte. Wegen starker Rückenschmerzen fand sie außerdem kaum noch Schlaf.

Zwar zeigte bereits die Feindiagnostik, dass die Schwangerschaft mit den eineiigen Zwillingen nicht so verlief, wie sie sollte. Die Diagnose des Spezialisten Dr. Cahit Birdir vom Dresdner Universitätsklinikum kurz darauf war trotzdem ein Schock: fetofetales Transfusionssyndrom. Ein Begriff, den die Dresdnerin schon aus einem Zwillingsforum im Internet kannte - ohne zu wissen, dass dieses Schicksal sie selbst treffen könnte.

Familie Berthold vor ziemlich genau einem Jahr: Jacqueline Berthold-Böhme und Sören Berthold mit den Zwillingen Vito und Tonio und der großen Schwester Sara.
Familie Berthold vor ziemlich genau einem Jahr: Jacqueline Berthold-Böhme und Sören Berthold mit den Zwillingen Vito und Tonio und der großen Schwester Sara. © Sven Ellger

Konkret bedeutet das, die beiden Jungen teilten sich im Bauch der Mutter einen Blutkreislauf über einen gemeinsamen Mutterkuchen, zum Nachteil von beiden. Denn vier der sechs Liter Fruchtwasser in Jacqueline Berthold-Böhmes Bauch, die diesen so stark anschwellen ließen, entfielen allein auf Vito. Ohne Behandlung wäre er deshalb wohl an Herzversagen gestorben - sein Zwillingsbruder Tonio dagegen verhungert.

Während andere Familien zu dieser Zeit damit beschäftigt waren, die Reste der Ostersüßigkeiten aufzuessen, mussten sich die Bertholds innerhalb eines Tages für oder gegen eine schwere - und sehr seltene - Operation entscheiden. Bei dieser werden die Kreisläufe der Föten noch im Mutterleib mithilfe eines Lasers getrennt, damit die Kinder gleichmäßig mit Blut versorgt und so ernährt werden.

In Dresden wurde das vorher erst zweimal durchgeführt, die Expertise hatte Dr. Birdir, Leitender Oberarzt für Geburtshilfe und Pränataldiagnostik am Uniklinikum, aus London mitgebracht. Der Privatdozent kam im April 2017 nach Dresden, arbeitete zuvor am Universitätsklinikum in Essen und war am King's College Hospital in London als Assistent an über 400 dieser schwierigen Eingriffe bei Ungeborenen beteiligt.

OP in der 22. Schwangerschaftswoche

Doch selbst, wenn Jacqueline Berthold-Böhme bei Dr. Birdir in allerbesten Händen war, blieb ein hohes Restrisiko, dass eines der Kinder oder sogar beide den Eingriff nicht überleben würden. Ohne Behandlung aber wären sie in jedem Fall gestorben.

So kam es, dass die 32-Jährige schon einen Tag später operiert wurde. Dr. Birdir trennte mit seinem Team die Kreisläufe der Jungen in der 22. Schwangerschaftswoche durch einen Laser. "Schon in der ersten Nacht hatte auf einmal jedes Kind zwei Liter Fruchtwasser", erzählte Mutter Jacqueline vor ziemlich genau einem Jahr, als die SZ das erste Mal über die Familie berichtet. Und mit jeder Schwangerschaftswoche, die nach dem Eingriff ohne Komplikationen verging, wuchs die Sicherheit, dass die Zwillinge tatsächlich gesund zur Welt kommen würden.

Am 29. Juli 2019 war es so weit: Mit 46 Zentimetern Größe und einem Gewicht von 2.810 Gramm war Vito seinem Bruder Tonio (44 Zentimeter und 2.420 Gramm) bei der Geburt zwar noch immer überlegen, aber nicht weniger gesund als sein Zwilling. Per Kaiserschnitt kamen die Kinder nur zwei Tage vor dem errechneten Geburtstermin auf die Welt. Auch in der SZ wurden sie von den stolzen Eltern damals präsentiert.

In der Sächsischen Zeitung wurden die Zwillinge Tonio und Vito zum ersten Mal stolz der Öffentlichkeit vorgestellt. Wohl die wenigsten Leser dürften aber gewusst haben, wie schlecht die Chancen der Kinder standen, überhaupt gemeinsam das Licht der Welt zu
In der Sächsischen Zeitung wurden die Zwillinge Tonio und Vito zum ersten Mal stolz der Öffentlichkeit vorgestellt. Wohl die wenigsten Leser dürften aber gewusst haben, wie schlecht die Chancen der Kinder standen, überhaupt gemeinsam das Licht der Welt zu © Foto Dähn

Heute sind Tonio und Vito ein Jahr und fünf Monate alt und gehen in die Krippe des Kindergartens, den auch ihre sechsjährige Schwester Sara besucht. Wenn dieser nicht gerade wegen des Lockdowns geschlossen bleibt.

So steht die Familie wie viele andere in diesen Tagen vor der Herausforderung, Kinderbetreuung und Homeoffice gleichzeitig zu stemmen. Doch statt darüber zu klagen, sind Jacqueline Berthold-Böhme und Sören Berthold dankbar. "Wir sehen das noch immer als kleines Wunder, wenn wir die beiden durch die Wohnung laufen sehen, immer gleich angezogen", sagt der 36-Jährige.

Was er und vor allem seine Frau durchmachen mussten, hätte im Coronajahr schließlich noch viel schlimmer kommen können. "Wäre das alles in diesem Jahr passiert und ich hätte sie nicht mal im Krankenhaus besuchen können - das hätte ein viel größeres Trauma ausgelöst", sagt Sören Berthold nachdenklich. "Das ist schon alles gut so gewesen, wie wir es damals hingekriegt haben."

Die Zwillinge an ihrem ersten Geburtstag.
Die Zwillinge an ihrem ersten Geburtstag. © privat

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