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Dieser Dresdner muss sich nach dem Rennen übergeben

Der 400-Meter-Sprinter Kevin Joite hat sich inzwischen an sein unfreiwilliges Ritual gewöhnt. Hier erklärt er, warum er dennoch immer weiter macht.

Von Alexander Hiller
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Kevin Joite lässt alles auf der Bahn – körperlich im wahrsten Sinn des Wortes.
Kevin Joite lässt alles auf der Bahn – körperlich im wahrsten Sinn des Wortes. © Thomas Kretschel

Dresden. Der junge Mann kann zufrieden sein. Dabei hat er die Olympischen Spiele von Tokio um zwei, drei Zehntelsekunden verpasst. Dennoch hat Kevin Joite die erfolgreichste Saison seiner bisherigen Karriere als Leichtathlet abgeliefert. Der gebürtige Riesaer ist mit der deutschen 4x400-Meter-Staffel bei der U-23-Europameisterschaft zu Bronze gerannt, hat sich den nationalen Titel in dieser Altersklasse gesichert und eine neue persönliche Bestleistung erzielt. Die steht jetzt bei 46,96 Sekunden. Das ist im internationalen Maßstab nicht allzu viel wert. In Deutschland hätte es aber fast zum Staffel-Ticket für Olympia gereicht.

Zum Vergleich: Der norwegische Olympiasieger Karsten Warholm stürmte bei seinem Fabel-Weltrekord in 45,94 Sekunden ins Ziel – und überquerte dabei noch zehn Hürden. Aber Joite ist auch kein Super-Talent wie Warholm. Der 1,93 Meter große Sprinter vom Dresdner SC muss sich jedes Zehntel Verbesserung hart erarbeiten, dabei seine Grenzen überwinden, um sie zu verschieben. „Der Kevin ist einer, der muss sich nach jedem Rennen übergeben“, sagt Trainerin Claudia Marx. „Nach wirklich jedem“, betont die 42-Jährige, falls man glaubt, dies sei nur sinnbildlich gemeint.

„Dafür quält man sich eben“

Trotzdem bewältigt Joite die ungeliebte Sprintdistanz gern. Für die sogenannten Unterdistanzen – also 100 und 200 Meter – ist er ohnehin noch nicht schnell genug, um in Deutschland vorn dabei zu sein. „Ja, ich muss mich nach so ziemlich jedem Rennen übergeben. Aber das ist für mich okay, weil ich erfolgreich bin, in dem, was ich mache. Darüber kommt auch der Spaß. Dafür quält man sich eben“, sagt der 21-Jährige.

Es mag Menschen geben, die über eine solche Einstellung den Kopf schütteln. Joite weiß aber, dass es für ihn keine andere Möglichkeit gibt: „Ich will alles auf der Bahn lassen. Wenn ich mich dadurch übergeben muss, ist das halt so.“ Am Startblock kann er diese Erkenntnis, wie sein Körper auf die Ausbelastung reagiert, ausblenden. „Ich habe mich daran gewöhnt.“

Das Duo Marx/Joite versucht inzwischen, den Fokus auf die einzelnen Abschnitte der Stadionrunde zu legen, das Rennen in 50-Meter-Abschnitte zu zerlegen. „Nach 200 Metern soll er das machen, nach 250 Meter das. Damit wird der Fokus nicht auf den Schmerz gelenkt, der irgendwann kommt. Du musst den Fokus behalten. Und den behältst du, wenn du dir Aufgaben stellst“, erklärt Marx, die selbst ein Ass über die härteste aller Sprintdisziplinen war. Bei der WM 2001 holte sie mit der Staffel Silber, wurde ein Jahr später Europameisterin.

Bauingenieursstudium abgebrochen

Die Trainerin ist sicher, dass Joite noch lange nicht am Ende seiner Möglichkeiten angekommen ist. „Kevin ist keiner, der sich in einem Jahr über anderthalb Sekunden verbessert. Er muss sich alles sukzessive erarbeiten – er ist ein Arbeiter“, stellt Marx fest. 2014 wechselte der junge Mann vom SC Riesa an den Bundesstützpunkt nach Dresden, dort will sie ihn weiter behutsam aufbauen. Sie könnte ihn im Training längere Strecken sprinten lassen, also 450 oder 500 Meter, damit die Zielgerade nicht bei jedem Rennen zur Qual wird. „Das lasse ich alles noch, ich habe Angst, dass man ihn so kaputtarbeitet“, erklärt Marx. Sie setzt auf größere Umfänge. „Er ist noch nicht ausgereizt.“

Die Rahmenbedingungen machen für Joite künftig mehr möglich. Sein Studium für Bauingenieurwesen brach er ab, weil er bei der Landespolizei in Leipzig eine Stelle in der Sportfördergruppe antreten kann. „Von September bis Januar bin ich die nächsten viereinhalb Jahre jeweils zur Ausbildung, für den Rest des Jahres werde ich freigestellt“, sagt Joite und meint: „Für den Leistungssport ist das ideal.“ Während der Abwesenheit wird er in Leipzig trainieren – nach den Plänen von Marx.

Das wird auch die Kommunikation der Trainerin mit dem Athleten ändern. „Er erzählt mir nicht viel“, erklärt sie und schmunzelt. Trotzdem sei er einfach zu führen und „einer derjenigen, die das Potenzial für internationale Rennen haben. Er braucht noch zwei Jahre, um in Deutschland vorn anzukommen, also um 45er-Zeiten zu laufen.“

Olympiastart ist das Ziel

Der deutsche Hallenmeister von 2020 hat trotz seiner Zurückhaltung im Gespräch durchaus klare Vorstellungen von seiner näheren Zukunft. „Bei der EM 2022 in München will ich schon gern in der deutschen 4x400-Meter-Staffel laufen und Zeiten um die 46 Sekunden stabilisieren“, sagt Joite. Er kann seine Fähigkeiten und die Möglichkeiten anderer nämlich sehr genau einschätzen. Das beweist er regelmäßig bei einer beliebten Wette innerhalb seiner Trainingsgruppe. „Wir wetten untereinander auf die Leistung der anderen. Wer am nächsten dran ist, bekommt fünf Punkte usw. Bis jetzt habe ich immer erfolgreich abgeschlossen“, sagt er grinsend.

Der Wetteinsatz – ein erfrischendes Radler – landet meist bei Joite. Auch auf die eigene Leistung muss er bei der Wette tippen. „Da stufe ich mich meist langsamer ein, als es tatsächlich ausgeht“, gibt er zu. „Ich will irgendwann unter 46 Sekunden laufen – und bei Olympia starten“, sagt er. Wetten darauf, ob und wann es so weit sein wird, will er aber noch nicht.