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Eine Clique sucht den Kick

Extremer geht’s kaum: Mit einer Geschwindigkeit von bis zu 85 Stundenkilometern tauchen Klippenspringer ins Wasser ein. So einen Sport können nur Menschen betreiben, die anders ticken als Durchschnittssportler. Ein Besuch in Wales.

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© Romina Amato/Red Bull Content Pool

Michael Brehme

Llanrhian. Aus 28 Metern Höhe lugt Klippensprung-Champion Gary Hunt vorsichtig in die walisische Tiefe. Eine riesige Felsformation bäumt sich vor ihm auf, gesäumt von tausenden Zuschauern, dahinter der schier endlose Atlantik. Unzählige Male hat Hunt an den idyllischsten Orten dieser Welt schon auf einem Podest wie diesem gestanden, ist seinen Plan für die nächsten Sekunden durchgegangen, hat über die Risiken nachgedacht und sie prompt ausgeblendet. „Natürlich sind die Gefahren groß. Aber ich bin ein großer Anhänger davon, immer positiv zu denken“, sagt der Star der Klippenspringer-Szene.

Würde der Brite irgendwann einmal zu viel Angst kriegen und einen Rückzieher machen, dann wäre es auch vorbei mit seinem faszinierenden Lebensstil, der ihm nicht nur Ruhm in der kleinen Trendsportwelt, sondern auch viel Geld einbringt. Er würde brechen mit einer Existenz, die faszierend und unwirklich zugleich erscheint: immer zu reisen, vornehmlich an die schönsten Landstriche, fast nie daheim in Paris zu sein, zugleich prima zu verdienen. „Drei Monate pro Jahr bin ich zu Hause, wenn überhaupt, weil wir ansonsten nur unterwegs sind“, sagt Hunt. „Das ist ja der enorme Vorteil an dem, was wir tun.“

Dieses Leben lässt die Gefahren vergessen, die diesen Sport so besonders und risikoreich machen. Vom Absprung bis zum Eintauchen ins Wasser dauert es gut drei Sekunden. Zwischendurch bleibt den Athleten Zeit für Kunststücke, die über ihr Abschneiden entscheiden: Juroren vergeben Punkte für Salti, Schrauben und Drehungen.

Anders als beim Turmspringen aus kleineren Höhen müssen die Athleten kerzengerade eintauchen, um sich nicht zu verletzen. Bei einer falschen Bewegung in der Luft kann es schnell richtig gefährlich werden. „Dann ist es wie bei einem kleinen Autounfall“, sagt der Kolumbianer Orlando Duque. Jeder zusätzliche Höhenmeter vergrößert zwangsläufig den Speed und die Wucht beim Aufprall. Zur Sicherheit warten im Wasser etliche Rettungstaucher in Spezialanzügen.

Es gibt Menschen, die Klippenspringer für Wahnsinnige halten, für Höhenjunkies auf der Suche nach dem nächsten Kick. „Niemand als die anderen Springer selbst kann verstehen, was ich durchmache, wenn ich da oben stehe“, sagt Duque, der seit 20 Jahren aktiv ist und in der Szene als Klippensprung-Ikone verehrt wird. Am Rande des Weltserien-Stopps an der Küste von Pembrokeshire ganz im Südwesten von Wales feierte er am Wochenende seinen 42. Geburtstag. Ein gutes Alter zum Aufhören eigentlich - doch Duque will partout nicht.

„Ich kann mir nicht vorstellen, wie mein Leben noch besser sein könnte als jetzt“, sagt der Südamerikaner. „Ich sehe großartige Orte, wir jagen das ganze Jahr dem Sommer hinterher. Und ich verbringe meine Zeit mit vielen wirklich guten Freunden.“

Tatsächlich verstehen sich die Klippenspringer nicht in erster Linie als Kontrahenten, sondern als Gemeinschaft, als Darstellergruppe in ihrem großen Lebenstheater. Nur zehn Männer und sechs Frauen gehören zum vom Getränkekonzern Red Bull ausgewählten Stamm der World Series - das sind weniger Sportler als in einem Fußball-Kader.

Außergewöhnliche Talente kommen selten nach, was auch mit dem Image des extravaganten Sports zu tun hat. „Der große Ansturm von Jugendlichen bleibt bei uns in Deutschland aus, weil Klippenspringen viel Mut braucht und nicht alltäglich, dafür aber gefährlich ist“, sagt Niklas Noth, Klippensprung-Referent im Deutschen Schwimm-Verband. „Eine Extremsportart betreibt nicht jeder.“

Die meisten auf der Tour sind viele Jahre schon dabei, jeder kennt die Geschichte des anderen, sie alle teilen dieselbe Einstellung zum Leben. Klippenspringer sind das Gegenteil von Normalbürgern, die beharrlich ihren Nine-to-Five-Jobs nachgehen, ein Eigenheim bauen und schon mit 50 der Rente entgegenfiebern. Klippensprung-Freigeister fühlen sich nirgendwo richtig zu Hause, sie sind Abenteurer auf permanenter Durchreise, für ein Normalo-Dasein längst verloren.

Es ist auch der ausdrückliche Versuch, anders zu sein als der Durchschnitt. Duque, wohnhaft auf Hawaii, ist zusammen mit seiner Frau, die ihn managt, das ganze Jahr unterwegs. Wenn die halbjährige Klippenspringer-Tour beendet ist, gibt es immer irgendwo einen anderen Job. Firmen buchen ihn für einen Sprung vom Eisernen Steg in Frankfurt oder für einen Stunt mitten in Tokio. „Wer hat schon die Möglichkeit, das zu tun?“, fragt Duque. „Ein besseres Leben kann man nicht haben. Und das Besondere: Du wirst einfach nicht müde davon.“

Was sicher auch am Zuspruch der Zuschauer liegt. Klippenspringen, was für eine Attraktion, denken sich die Menschen und schauen sich das Spektakel überall in der Welt an. Oft sind es Zehntausende, der Eintritt ist kostenlos, weil es kein Ziel sei, mit dem Kartenverkauf Geld zu verdienen, sagen sie bei Red Bull. Das mag sogar stimmen - denn vorrangig geht es dem Konzern darum, den Sport immer populärer zu machen, um auf diesem Weg letztlich auch finanziell zu profitieren. In Wales allerdings ist an der Blauen Lagune kein Platz für Menschenmessen, der Kartenverkauf wurde deshalb bei 2800 Tickets gestoppt. Die besten Plätze haben sich jene gesichert, die einen Wasserzugang mitgebucht haben: Wenige Meter von der Eintauchstelle entfernt sitzen sie nun in ihren Kajaks und haben einen Top-Blick.

Als der Tour-Gesamtführende Hunt nach seinem Sprung lachend wieder an Land kommt, fühlt es sich an, als habe einer aus der Teenager-Clique die Mutprobe bestanden. Die anderen Athleten herzen ihn, springen ihn an, necken ihn wie den besten Kumpel. „Jeder ist mit jedem befreundet, wir sind eine große, glückliche Familie“, sagt Hunt.

Für Duque ist der Gemeinschaftssinn auch die Folge einer Aufgabe, die alle vereint: die Ängste zu besiegen, jedes Mal aufs Neue. „Ich weiß von meinen Freunden, dass alle ihr Leben riskieren, Verletzungen riskieren, und ich habe Hochachtung davor“, sagt er. „Wir leben gefährlich, haben keine Schutzsysteme am Körper. Wir haben nur unsere Badehosen.“ Der Mexikaner Jonathan Paredes, mit 27 noch einer der jüngsten auf der Tour, meint: „Nur Klippenspringer verstehen mich. Bist du einmal oben, gibt es eigentlich keinen Weg zurück.“

Auf der Tour sind die Sportler allein unterwegs, eigene Betreuer sind die Ausnahme. „Wir haben alle dieselben Ängste und Probleme - ohne Trainer, das schweißt uns zusammen“, sagt Hunt. „Wir sind hier draußen alleine, helfen uns, wir wollen das Beste für jeden“, kommentiert er. Wer gewinne, sei nicht entscheidend. Am allerwichtigsten sei, sagt Duque, „dass wir alle zusammen herumkommen und so viele tolle Nachmittage verbringen“.

Dabei geht es durchaus auch um gutes Geld. Pro Stopp werden 35 000 Euro für die Männer und 16 200 Euro für die Frauen ausgeschüttet. Die Tour-Gesamtsieger bekommen 59 000 (Männer) und 17 000 Euro (Frauen). Kostenlos gibt’s diverse Erlebnisreisen einmal quer um den Globus.

Die Artisten gastieren in Texas, in Dubai und auf den Azoren, sie springen vor 40 000 Zuschauern vom Opernhaus in Kopenhagen oder vor 75 000 Fans in der westfranzösische Hafenstadt La Rochelle. Im italienischen Polignano a Mare an der Adria erreichen die Sportler die Absprungplattform nur über die Dachterrasse eines Wohnhauses, das direkt an der Klippe erbaut wurde. Ein älterer Herr, der Gastgeber, sitzt dann da mit seiner Mutter und verteilt manchmal noch Tipps.

Von dem Preisgeld hat Hunt viel eingestrichen, er ist das Siegen gewöhnt. Fünfmal lag Hunt in der von Red Bull vor sieben Jahren ins Leben gerufenen Weltserie ganz vorn, darüber hinaus kürte sich der 32-Jährige vor einem Jahr in Kasan bei den Schwimm-Titelkämpfen zum Weltmeister. Der Schwimm-Weltverband FINA hatte das Klippenspringen einige Jahre zuvor mit eingegliedert. Auch die Aufnahme ins olympische Programm scheint mittelfristig machbar. „Ich würde super gerne bei den Olympischen Spielen starten, auch wenn ich keiner bin, der ultimative Ziele hat“, sagt Hunt.

Dafür verfügt der weltbeste Klippenspringer natürlich schon über zahlreiche Blessuren. „Nach so vielen Jahren fühlst du jede Kleinigkeit, die Verletzungen bleiben dir, aber das ist Teil des Sports“, sagt er. Allein: Man sieht es ihm nicht an. 32 Jahre ist Gary Hunt schon, doch sein schmaler Körper lässt ihn fast wie einen Oberstufenschüler erscheinen, was vielleicht auch an seiner positiven Lebenseinstellung liegt. „Ich versuche mich von Menschen abzugrenzen, die negativ sind und sich nur beschweren, das macht jeden fertig.“ Für schlechte Gedanken ist beim Klippenspringen einfach kein Platz.

Eine, die diesen positiven Spirit verkörpert, ist Anna Bader. Jahrelang war sie die einzige Deutsche auf der Welttour, inzwischen gilt die talentierte Iris Schmidbauer (21) aus dem oberbayerischen Pähl als mögliche Nachfolgerin. Schmidbauer durfte dank einer Wildcard schon einmal in der Weltserie starten, in der Bader gesetzt war. Sie gewann WM-Bronze 2013 und etliche EM-Titel, dann wurde sie schwanger - und ob sie noch mal zurückkommen wird, lässt sie sich selbst offen. „Anna hatte eine Vorreiterrolle für Deutschland, sie hat Jugendliche fasziniert und zu uns geführt“, sagt Noth.

Lange war die heute 32-Jährige eine Suchende, immer unterwegs, mal hier, mal dort, „ich führte ein Nomadenleben“, sagt sie selbst. Bader arbeitete als Artistin in einer millionenschweren Wassershow des einstigen Cirque-du-Soleil-Regisseurs Franco Dragone in China, trainierte in einem Freizeitpark in Frankreich, war Straßenkünstlerin in Madrid und ließ sich für den Playboy ablichten. Inzwischen lebt sie in der Nähe von Freiburg, hat ein Lehramtsstudium abgeschlossen und erwartet das erste Kind. Und dennoch: „So ganz sesshaft und klassisch wie geplant ist es immer noch nicht bei mir geworden.“

Vielleicht auch, weil ihr Freund nach wie vor Klippenspringer ist. Dass sie ihre Karriere nach der Geburt fortsetzen wird, glauben viele aber nicht. Hört Bader tatsächlich auf, wäre es zugleich der Beweis, dass das Leben als Lebenskünstler doch nicht ewig währen muss. (dpa)