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Die Frau fürs Seelenheil der Kleinsten

Sabine Hiekisch, Chefärztin für Kinder- und Jugend-Psychiatrie, nimmt Abschied von Großschweidnitz. Ein Blick auf 40 Jahre Dienst, Corona-Krise und lange Wartelisten.

Von Anja Beutler
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Eine Frau die gern lacht und für das Lachen ihrer Patienten kämpft: Sabine Hiekisch, Chefärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Nach 40 Jahren im Fachkrankenhaus geht sie nun in den Ruhestand.
Eine Frau die gern lacht und für das Lachen ihrer Patienten kämpft: Sabine Hiekisch, Chefärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Nach 40 Jahren im Fachkrankenhaus geht sie nun in den Ruhestand. © Matthias Weber/photoweber.de

In Sabine Hiekischs Arztzimmer ist es gemütlich. Die Wände der Dachkammer zieren bunte Bilder, ein hölzerner Vogel schwebt neben dem Fenster, bunte Kreisel mit Marienkäfer-Tupfen liegen auf dem Tisch und auf der Liege unter der Dachschräge sitzen kuschelige Plüschtiere. "Die nutze ich gern – manchmal auch bei Teenagern", sagt die Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Fachkrankenhaus Großschweidnitz. Mit Plüschtieren oder Fingerpuppen kann sie ihren Patienten schwierige, auch schmerzhafte Dinge sagen, auf heikle Fragen Antworten bekommen - oder wenigstens die Seelen-Tür zu ihnen ein Stückchen öffnen.

Seit 40 Jahren arbeitet die 65-Jährige als Kinder- und Jugendpsychologin am Großschweidnitzer Fachkrankenhaus. Ein Drittel der gesamten Krankenhausgeschichte hat sie damit begleitet, denn das Fachkrankenhaus feiert nächstes Jahr sein 120. Jubiläum. "Kam mir gar nicht so lange vor", sagt die Ärztin, die ihren strengen weißen Kittel an der Zimmertür hängen hat, um ihn - abseits von Coronazeiten - höchstens zu Fasching anzuziehen. "Ich wollte schon immer Kinderärztin werden", erzählt die Dresdenerin. Diese Richtung hat sie beim Studium in ihrer Heimatstadt auch zunächst anvisiert. "Aber dann habe ich gemerkt, wie traurig die Pädiatrie sein kann", erinnert sie sich und fügt hinzu: "Damals durften die Eltern nicht bei ihren Babys und Kleinkindern im Krankenhaus bleiben, da hätte ich die Kleinen am liebsten ständig gehuschelt."

Rasanter Karrierestart an Klinik

Diese Neigung zu Trost und Hilfe, die sie offensichtlich hat - wie sie lachend eingesteht - muss sie wohl von ihrem aus der Oberlausitz stammenden Großvater und ihrer Mutter geerbt haben. "Mein Opa war Lehrer und Schuldirektor und meine Mutter Kindergärtnerin", erzählt sie. Daher komme vielleicht auch eine pädagogische Ader und ihr Wunsch, anderen, denen etwas schwerfällt, zu helfen: "Ich habe schon in der Schule versucht, zwischen Schülern und Lehrern zu vermitteln." So beschloss sie als junge Studentin, die psychiatrische Richtung einzuschlagen und wählte sie die Kinderpsychiatrie für ein Praktikum aus.

Durch einem Tipp der Stationsärztin bewarb sie sich für die Facharztausbildung für Neurologie und Psychiatrie in Großschweidnitz und legte 1986 die Prüfung ab. Da hatte sie bereits ein Jahr als Assistenzärztin in der Kinderpsychiatrie gearbeitet. Der große - und ungeplante - Karrieresprung kam dann 1987: "Auf einen Schlag haben damals mein Chef und seine Frau, die Oberärztin war, die Klinik verlassen und ich wurde zunächst kommissarisch Chefärztin."

Diese Verantwortung legt sie Ende August in andere Hände - "ohne Wehmut oder Angst", betont sie. "Ich werde noch ein bisschen als Fachärztin in der Ambulanz mithelfen", sagt sie und erklärt: "Kinderpsychiatrie ist ausgesprochene Teamarbeit, ich allein bin da nicht wichtig!" Dennoch: Jemand mit ihrer Erfahrung wird gerade jetzt gebraucht. "Zu Corona-Hochzeiten, kurz vor dem Ende der Schulschließungen vor wenigen Wochen, war die Belastung sehr stark", bilanziert sie. Auch so mancher Hausarzt drängte auf stationäre Aufnahme seines Patienten. Für Akutfälle mit Suizidalität, wenn die Jugendlichen nicht mehr nur an Selbstmord denken, sondern konkret das Wie planen, habe es dennoch immer Aufnahme gegeben.

"Aber in vielen, nicht ganz so akuten Fällen konnten wir nach der Vorstellung der Patienten ambulant helfen", berichtet die Chefärztin. Einigen hat zum Beispiel starke körperliche Anstrengung geholfen: So habe sie Kinder und ihre Eltern schon mal zu einem mehrstündigen Spaziergang in den Wald geschickt - ohne Handy & Co. In einem anderen Fall hat ein Jugendlicher mit seinem Vater als "verordnete Therapie" hart im Garten geschuftet - und es hat funktioniert.

Patienten-Stau durch Corona

Einen gewissen "Patienten-Stau" gibt es dennoch: "Die Länge der Warteliste schwankt immer ein bisschen, aktuell sind es 48 Patienten, die auf eine vollstationäre Aufnahme warten - das ist kein neuer Rekord, aber schon sehr viel", analysiert sie. Ursache dafür sei nicht nur die Zeit der Corona-Lockdown und die Schulschließungen. Auch der lang ersehnte Alltag ist nicht ohne: "Manche Kinder haben Probleme, sich wieder in die Alltagsstrukturen einzufinden", erklärt Sabine Hiekisch. Sie brauchen nun Hilfe.

Strukturen seien ohnehin ein wichtiger Faktor in der Kindheit, erklärt sie. "Strukturschwache Familien mit wenig familiären Ressourcen und Möglichkeiten haben es ohnehin schwer und leiden in der Corona-Krise am meisten", sagt sie. Strukturen aber brauchten Kinder genauso wie die festen Bezugspersonen, den "Fels in der Brandung" und gerade im Babyalter die unabdingbare Zuneigung, die Sicherheit, das Urvertrauen. "Das hat sich in den 40 Jahren nicht geändert", betont Frau Hiekisch.

Was sich allerdings geändert hat, ist die Welt um die Kinder herum: "Zu viel Selbstlauf, zu wenige Regeln und vor allem Reizüberflutung sind die Probleme der Zeit", analysiert sie. Zu DDR-Zeiten war es eher andersherum, damals gab es für manche Kinder zu viel Struktur und zu viel Druck, der dann auch zu neurotischen Störungen führen konnte. "Psychogene Störungen sind nach wie vor bei mehr als der Hälfte der Patienten das Problem, mit dem sie zu uns kommen", beschreibt die Chefärztin die Menge der Fälle, die aus emotionalen oder mentalen Belastungen herrühren. Im Gegensatz dazu gibt es aber auch nach wie vor viele Patienten mit hirnorganischen oder genetischen Einschränkungen.

Gewonnen, wenn das Lachen zurück ist

Wann aber weiß die Ärztin, dass sie Erfolg hatte? "Wenn eine junge Frau, die mit Magersucht bei uns war, dann Jahre später mit ihrem eigenen Kind glücklich und gesund zu Besuch kommt, oder ein junger Mann mit derselben Erkrankung stolz berichtet, dass er eine Familie gegründet hat und Koch ist - das ist schön", sagt sie. Manchmal reiche es aber auch, zu beobachten, wenn in den kleinen, zuvor depressiv-traurigen Gesichtern wieder das Kinderlachen und die Neugier erwachen.

Neugier erwacht bei Sabine Hiekisch selbst auch ein bisschen, wenn sie an den Ruhestand denkt. Mit ihrem Mann, "einem Ingenieur, der mich immer geerdet hat", will sie die Ruhe, den Garten, das Radeln genießen. Auch den Sohn und das zweijährige Enkelkind werde sie dann hoffentlich öfter sehen - und "Freunde besuchen, die ich in den letzten Jahren schon ein bisschen vernachlässigt habe", sagt sie zerknirscht. Bis dahin aber wird sich sicherlich noch ab und zu mit ihren Patienten zu dem großen Puppenhaus in ihrem Zimmer gehen und - spielen. "Ich übernehme dann immer die Rolle des Kindes - das macht meinen Patienten Spaß", sagt sie. Und dann spielen sie gemeinsam das, was sonst im wahren Leben stattfindet. "Da sind dann auch die Reaktionen der Eltern sehr interessant und wichtig."