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„Wir ernähren unsere Kinder zuckerarm“

Berenike Heinrich-Männchen und Stefan Zimmer aus Dresden kennen sich nicht, haben aber eines gemeinsam: Süßes hat es bei ihnen schwer. Denn Kinderärzte warnen.

Von Sylvia Miskowiec
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Die besondere Knabbereien-Schublade: Hier dürfen sich die beiden Zwillingsmädchen Freda und Nika ab und zu bedienen.
Die besondere Knabbereien-Schublade: Hier dürfen sich die beiden Zwillingsmädchen Freda und Nika ab und zu bedienen. © Foto: SZ/Veit Hengst

Die oberste Schublade des Vitrinenschrankes im Wohnzimmer beherbergt einen Schatz. „Da sind die Süßigkeiten und Knabbereien für unsere Zwillingsmädchen drin“, sagt Berenike Heinrich-Männchen. Die Leckereien gibt es nur streng zugeteilt und gut überwacht. „Wir ernähren Freda und Nika zuckerarm“, sagt die Dresdnerin.

Ein paar Kilometer Luftlinie entfernt in einem anderen Stadtteil sieht es ähnlich aus. Stefan Zimmer und seine Frau haben auch eine süße Schublade, eigentlich für Backzutaten. „Da darf der Junior schon mal eine Dattel mopsen. Das reicht dann aber auch“, sagt Zimmer. Was streng klingt, hat einen Sinn. „Unser Jüngster ist gefährdet, Diabetes Typ eins zu bekommen. Das heißt, seine Bauchspeicheldrüse arbeitet unter Umständen nicht so, wie sie soll. Und da wäre zu viel Zucker schlecht.“

Fruchtsäfte sind nicht viel besser als Limonade

Die süße Gefahr ist real – für alle. Jedes 20. Kind in Sachsen ist krankhaft übergewichtig, zeigen Daten der AOK Plus. Tendenz steigend. Zu viel Zucker in der täglichen Ernährung spiele eine große Rolle, sagt Yvonne Bär, Diätassistentin im Adipositaszentrum des Städtischen Klinikums Dresden-Neustadt. Dabei sind es nicht nur Schokolade oder Gummibärchen, über die Kinder zu viel des Süßen zu sich nehmen.

„Der größte Feind einer gesunden Ernährung sind regelmäßig konsumierte zuckerhaltige Getränke“, sagt Bär. Dass Cola und Limonade auf dem Index stehen, sei den meisten klar. „Doch Säfte sind nicht viel besser“, so die Ernährungsexpertin. „Selbst wenn draufsteht ‚ohne Zuckerzusatz‘, ist jede Menge drin.“ Denn Früchte enthalten von Natur aus Fructose, fruchteigenen Zucker. In 100 Milliliter Orangensaft stecken ungefähr neun Gramm Zucker – das sind drei Stück Würfelzucker. Berenike Heinrich-Männchen und Stefan Zimmer haben derlei Getränke aus ihrem Alltag verbannt. „Wenn, dann gibt es Frischgepressten als etwas Besonderes, aber nie einfach so“, sagen beide unisono. Stattdessen steht immer frisches Wasser bereit, in der kalten Jahreszeit Tee, ungesüßt. „Wir trinken das auch, die Mädels sehen es also nicht anders“, so Heinrich-Männchen.

Kinder brauchen Vorbilder

Dass Eltern mit gutem Beispiel vorangehen, sei immens wichtig, sagt Diätassistentin Bär. „Wer selbst dauernd nascht, Cola trinkt und sich die Fertigpizza in den Ofen schiebt, wird kein Kind überzeugen, sich anders zu ernähren.“ Manchmal brauche es starke Nerven, etwa wenn die Schwiegereltern „es doch nur gut meinen“ und den Schoko-Adventskalender mitbringen wollen, wie sich Heinrich-Männchen erinnert. „Es wird mittlerweile gut akzeptiert, dass wir so etwas nicht wollen, aber hin und wieder hört man schon noch Sprüche im Freundeskreis.“ Etwa zu den Quetschies. Auch für Stefan Zimmer ist das Obstmus in Plastikverpackungen ein rotes Tuch. „Wir werden immer wieder schief angeschaut, wenn wir einen Quetschie dankend ablehnen“, sagt er. „Es heißt dann, die seien doch gesund und gar kein Zucker weiter drin. Dabei ist das Quatsch.“

Quetschies enthalten mindestens drei Stück Zucker

Der Quatsch lässt sich mit einem Blick auf die Nährwertangaben auf der Verpackung schnell belegen. In einem Quetschie stecken bis zu 14 Gramm Zucker auf 100 Gramm. „Das kommt mir gar nicht erst in den Einkaufswagen“, sagt Heinrich-Männchen. „Alles, was mehr als zehn Prozent Zucker hat, kaufe ich nicht.“

In den Nährwertangaben wird Zucker anders behandelt als in der Zutatenliste: Die Angabe erfasst alles, neben Haushalts- noch Trauben-, Frucht- und Milchzucker. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt, dass Minderjährige maximal zehn Prozent der täglich benötigten Kalorien durch sogenannte freie Zucker aufnehmen. Das sind zwischen 38 und 44 Gramm, eine kleine Handvoll Süßes. Ein Quetschie entspricht bereits fast der Hälfte der empfohlenen Tagesdosis.

Bei einem Obstmus bleibe es zudem häufig nicht, sagt Maria Philipp, Kinderärztin im Dresdner Adipositaszentrum. „Zwei Quetschies gehen runter wie nichts – und schon sind fast 30 Gramm Zucker vertilgt.“ Dahinter stecken über 100 Kalorien, die verbrannt werden wollen. „Das geht in 15 bis 20 Minuten Joggen, aber am Stück“, so Philipp. „Welches Kind macht das?“ Die Alternative zu den Quetschies wäre frisches Obst. Und zwar von Anfang an, sobald das Kind feste Nahrung zu sich nimmt, um es gar nicht erst an andere Dinge zu gewöhnen. Das Obst enthalte immer noch Zucker, müsse aber gekaut statt bloß runtergeschlürft werden. „Das bremst den Konsum“, so Philipp. Kaum ein Kind schaffe vier Äpfel am Tag. „Vier Quetschies schon.“

Fünfjährige mit Fettleber

Zu viel Zucker macht krank, warnt die Kinderärztin. „Die Leber kann zu viel Zucker nicht auf einmal verarbeiten.“ Stattdessen wandelt sie den überflüssigen Zucker in Fettsäuren um, bunkert diese und verfettet. Das Tückische einer Fettleber ist ihre Unsichtbarkeit. Auch schlanke Kinder können schon an ihr leiden, völlig ohne Schmerzen. Erst Jahre später machen sich die Folgen bemerkbar: Stoffwechselkrankheiten, hoher Blutdruck, daraus resultierende Herz-Kreislauferkrankungen. Der Teufelskreis beginne früh. „Die jüngsten Fettleber-Patienten bei uns sind fünf Jahre alt“, sagt Philipp.

Besonders kritisch für die Leber ist Fructose, ganz besonders jene hochkonzentrierte und industriell hergestellte, die in der Lebensmittelindustrie als Süßungsmittel eingesetzt wird, zum Beispiel in Softdrinks und Fertiggerichten. Familien, die auf die Ernährung achten und viel selbst kochen, haben einen klaren Vorteil – doch stoßen an Grenzen, etwa beim Kita- und Schulessen. „Wir schaffen es einfach nicht, das auch noch immer vorzukochen“, gibt Heinrich-Männchen zu.

Dafür sei das morgendliche Müsli selbst aus mehreren Getreidearten und Trockenfrüchten zusammengestellt statt fertig gekauft. Und beim Kochen und Backen wird statt auf Industriezucker zum Süßen auf Datteln, Bananen und Honig gesetzt. „Das ist prinzipiell vernünftig – solange man davon wirklich weniger nutzt, als man Zucker verwenden würde“, sagt Ernährungsexpertin Bär.

Geschmäcker werden früh geprägt

So weit so gut, doch was ist mit Kindergeburtstagen in der Kita, die regelmäßig in eine Süßigkeitenschlacht ausarten? Langen da zuckerarm ernährte Kinder nicht besonders zu? „Zum Glück eher nicht“, sagt Stefan Zimmer. „Natürlich isst unser Sohn da was mit, aber weil er es nicht gewohnt ist, reicht es ihm auch schnell wieder.“ Ärztin Maria Philipp kann ebenfalls beruhigen. „Geschmäcker werden tatsächlich früh geprägt, Gewohnheiten bleiben bestehen. Aber Ausnahmen sollte es immer geben, damit der Reiz des Verbotenen nicht aufkommt.“

Und so gibt es auch bei Heinrich-Männchen hin und wieder ein halbes Brötchen mit Zartbitter-Schokoladenaufstrich. Oder Waffeln mit bunten Streuseln im Urlaub. Oder etwas aus der Schatzschublade des Vitrinenschranks. Vielleicht ist deshalb die andere Schublade noch uninteressant. Denn dort lagert der Mann des Hauses seine Notration an Snickers und anderen Süßigkeiten. Noch haben seine Vierjährigen kein Interesse, diesen Schatz zu heben.

100 Milliliter Orangensaft enthalten neun Gramm Zucker – das entspricht drei Würfeln.
100 Milliliter Orangensaft enthalten neun Gramm Zucker – das entspricht drei Würfeln. © Foto: SZ/Veit Hengst
Fünf Stück Würfelzucker stecken umgerechnet diesem kleinen 150 Gramm-Joghurt.
Fünf Stück Würfelzucker stecken umgerechnet diesem kleinen 150 Gramm-Joghurt. © Foto: SZ/Veit Hengst
Neun Gramm Zucker stecken in einem 100g-Quetschie – das entspricht 3 Würfeln Zucker.
Neun Gramm Zucker stecken in einem 100g-Quetschie – das entspricht 3 Würfeln Zucker. © Foto: SZ/Veit Hengst

Wie kommt das Kind vom Zucker weg?

  • Ein Eis für die tolle Note, eine Schokolade gegen das Traurigsein: Lieber keine süßen Belohnungen und zuckrigen Trostpflaster. Meist reichten liebe Worte und gemeinsame Zeit.
  • Bewusst naschen statt immer zwischendurch beim Spielen mal etwas nehmen: Wer nachfühlt, ob etwa ein rotes Gummibärchen anders schmeckt als ein grünes, genießt mehr und braucht keine großen Mengen.
  • Nach Geburtstagen und Weihnachten Süßigkeiten in einer Dose sammeln und gemeinsam in Tagesrationen einteilen verhindert unkontrolliertes Vernaschen.
  • Kleinstkinder brauchen noch keine gesüßten Breie und Getränke, da so nur unnötig der süße Geschmack antrainiert wird. Zum Knabbern reichen Reiswaffeln.
  • Milchreis, Eierkuchen und dergleichen sollten höchstens einmal pro Woche erlaubt sein.
  • Nach dem Naschen Zähne putzen: Braucht Durchhaltevermögen, macht das Naschen aber unattraktiver.
  • Bewusstsein schaffen für den Zuckergehalt von Lebensmitteln funktioniert spätestens ab dem Schulalter: Dafür verschiedene beliebte Lebensmittel auf den Tisch stellen, tippen lassen, wie viel Zucker drinsteckt, entsprechende Zuckerwürfel danebenlegen und dann auflösen. Ketchup, Tiefkühlpizza und Fruchtjoghurt überraschen dabei viele.