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Gewalt im Kreißsaal – zwei Frauen sprechen über die Realität

Unnötige Praktiken, Drohungen, Beleidigungen: Hebamme Eva Placzek und Autorin Lena Högemann im Gespräch, warum viele Frauen nach der Geburt traumatisiert sind und wie sie sich wehren können.

Von Sylvia Miskowiec
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Die Geburt ist ein Naturereignis, sagt Hebamme Eva Placzek. Für viele Frauen allerdings ein gewaltvolles.
Die Geburt ist ein Naturereignis, sagt Hebamme Eva Placzek. Für viele Frauen allerdings ein gewaltvolles. © Getty Images

Die Frau liegt auf dem Rücken, ihre Beine sind aufgestellt, entblößen ihre Scham. Die Frau schwitzt, krallt sich ans Bett, schreit den Schmerz ihrer Wehe hinaus. „So leicht, wie es hineingekommen ist, kommt es halt nicht raus“, sagt ihr die Hebamme und führt ohne Ankündigung mehrere Finger in sie ein, um zu prüfen, wie weit der Muttermund der Gebärenden geöffnet ist. „So wird das hier nichts“, sagt der hinzugekommene Oberarzt mit einem Blick auf den Wehenschreiber, der schon seit Stunden um den runden Bauch der Frau geschnallt ist. „Das wird ein Kaiserschnitt, wenn Sie sich weiter so anstellen. Oder wollen Sie etwa, dass Ihr Kind stirbt?“

Szenen wie diese passieren in Deutschland jeden Tag. Szenen von psychischer und physischer Gewalt im Kreißsaal. Laut Studien hat mindestens jede dritte, wenn nicht gar jede zweite Frau hierzulande Derartiges erlebt. „So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen“ betitelt Journalistin Lena Högemann ihr aktuelles Buch, in dem sie die traumatische Geburt ihrer ersten Tochter und ähnliche Erlebnisse von 30 Frauen und Männern beschreibt. Dass diese keine Einzelfälle sind, bestätigt Eva Placzek, eine Frau, die selbst Kindern auf die Welt hilft. Die ehemalige Vize Miss Germany schreibt in „Ich, Hebamme, Mittäterin“ über das Thema Gewalt unter der Geburt aus Sicht einer Beteiligten. Zeit, mit beiden Frauen zu sprechen.

Eva Placzek ist freiberufliche Hebamme in Aschaffenburg und hat die Plattform und den Podcast „Frauenstark“ gegründet.
Eva Placzek ist freiberufliche Hebamme in Aschaffenburg und hat die Plattform und den Podcast „Frauenstark“ gegründet. © Eva Placzek
Ich, Hebamme, Mittäterin. Mein Einsatz gegen Gewalt im Kreißsaal und für eine sichere Geburtshilfe, Goldegg Verlag, 200 Seiten, 22 Euro
Ich, Hebamme, Mittäterin. Mein Einsatz gegen Gewalt im Kreißsaal und für eine sichere Geburtshilfe, Goldegg Verlag, 200 Seiten, 22 Euro © Goldegg Verlag
Lena Högemann schreibt als freie Journalistin über Geburt, Kinder und Geld. Sie hat zwei Töchter und lebt in Berlin.
Lena Högemann schreibt als freie Journalistin über Geburt, Kinder und Geld. Sie hat zwei Töchter und lebt in Berlin. © Stefan Wieland
So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen! Was Frauen für eine selbstbestimmte Geburt wissen müssen, Ullstein, 352 Seiten,
22,99 Euro
So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen! Was Frauen für eine selbstbestimmte Geburt wissen müssen, Ullstein, 352 Seiten, 22,99 Euro © Ullstein Buchverlage

Frau Högemann, ihr Buchtitel impliziert etwas, was besonders ältere Generationen, aber auch Mediziner oft werdenden Müttern vorwerfen: überzogen positive Vorstellungen von einer Geburt zu haben. Was ist da dran?

Högemann: Ich bin mit null Erwartungen rangegangen und habe auch nicht gedacht, dass das jetzt alles wunderschön wird. Aber ich hatte Vertrauen in die Medizin. Deswegen wollte ich in einer Klinik gebären, so wie 98 Prozent aller werdenden Mütter in Deutschland. Dass man mich da aber körperlich und psychisch misshandelt, hätte ich nie erwartet – so wie wohl jede Frau! Wir dürfen erwarten, gefragt zu werden, bevor uns Ärzte und Hebammen ihre Finger hineinstecken oder uns unter der Geburt aufschneiden. Das geschieht aber zu selten. Stattdessen wird über die Frau verfügt, als sei sie nur eine Hülle für ein Kind.

Wie sehen Sie das als Hebamme, Frau Placzek?

Placzek: Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen als Lena. Frauen haben zu wenig Ansprüche! Wir müssen uns klar werden: Die Praktiken, nach denen in der klinischen Geburtshilfe hierzulande gearbeitet wird, stammen zum Teil noch aus der Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg.

Schwer vorstellbar. Haben Sie ein Beispiel?

Placzek: Sogar noch älter, aber immer noch Usus ist der sogenannte Kristeller-Handgriff: Hebammen oder Ärzte drücken dabei auf den Oberbauch der Gebärenden, um die Geburt des Kindes zu beschleunigen. Dafür wird sich manchmal förmlich auf die Frau draufgeworfen. Der Namensgeber Samuel Kristeller, ein Gynäkologe, hat diese Prozedur 1867 beschrieben. 1867! Die WHO rät davon ab, trotzdem wird hierzulande noch kristellert. Oft ohne zu fragen, sogar ohne es anzukündigen – und ohne es zu dokumentieren. Denn was nicht in den Akten steht, ist nie passiert, bekamen wir schon früh in der Ausbildung unter vorgehaltener Hand gesagt.

Das heißt, Frauen hätten nach der Geburt keine Chance, gegen bestimmte Praktiken vorzugehen, weil Beweise fehlen?

Högemann: Verfahren wie Kristellern sind ja noch nicht mal verboten! Und wenn der Arzt sie als medizinisch notwendig erachtet, braucht er die Frau rein rechtlich gesehen noch nicht einmal großartig darüber aufzuklären. Oder es wird in die Akte geschrieben, dass aufgeklärt wurde und der Frau wehenbedingte geistige Einschränkung unterstellt, wenn sie sich an kein Gespräch erinnern kann. Ich habe für mein Buch mit einer Rechtsanwältin gesprochen. Frauen haben ihrer Erfahrung nach wenig juristische Handhabe – gerade beim Kristeller-Handgriff. So seien etwa die Grenzen, für welche Behandlungsschritte es der Zustimmung bedarf oder für die sich Ärzte selbst entscheiden dürfen, vor Gericht weit ausgelegt.

Placzek: Hebammen und Ärzte sind dennoch zur Aufklärung verpflichtet! Zumal es vieles, was als medizinisch notwendig deklariert wurde, in Wirklichkeit gar nicht ist.

Um welche Eingriffe handelt es sich da vor allem?

Placzek: Zum Beispiel die Einleitung einer Geburt, wenn die Frau über dem errechneten Geburtstermin ist und gerade Kapazitäten in der Klinik frei sind. Auch das um den Bauch geschnallte Dauer-CTG, das ständig die Wehenstärke und die Herzfrequenz des Kindes misst, ist unnötig. Wir Hebammen sind dafür ausgebildet, zu erkennen, in welcher Phase sich die Frau befindet und können mit einem speziellen Stethoskop den Bauch abhorchen. Wir müssen nicht aller halben Stunde in die Frau hineinfassen, um die Öffnung des Muttermundes zu ertasten. Wir müssen ihr nicht präventiv den Damm aufschneiden, da ein natürlich erfolgter Riss viel besser heilt.

Högemann: Ich bekam einen Wehentropf, weil meine Wehen angeblich zu schwach gewesen sein sollen, obwohl ich noch gar nichts anderes unternommen hatte, um sie anzuregen – weder ein Bad, noch Bewegung auf einem Pezziball. Mehr als jeder vierten in einer Klinik Gebärenden werden hierzulande übrigens geburtsbeschleunigende Mittel verabreicht. Eine Periduralanästhesie (PDA) zur Schmerzbetäubung wollte ich auch nicht, bekam sie aber. Sowas löst eine sogenannte Interventionskaskade aus: Ein Eingriff führt zum nächsten. Bei mir waren es dann eine Geburt mit Saugglocke und Dammschnitt.

Obwohl eine recht neue medizinische Leitlinie besagt, dass viele Eingriffe bei einem unauffälligen Verlauf nicht nötig sind?

Placzek: Ich habe in einer Klinik gearbeitet, wo das Personal über die neue Leitlinie nur gelacht hat. Sie ist nicht verpflichtend.

Högemann: Dennoch sollten Frauen sie kennen. Wissen macht stark und selbstbewusst. Ich dagegen war bei meiner ersten Geburt sehr autoritätshörig, vor allem, weil ich kaum Ahnung hatte.

Dem Wissen der Frau steht im Kreißsaal allerdings die Fachmeinung gegenüber, die vor großen Risiken warnt.

Placzek: Risiken gibt es natürlich, nur viel seltener, als es Frauen vorgemacht wird. Ein Klima der Angst hemmt aber den natürlichen Verlauf einer Geburt. Ich habe selbst eine Kollegin erlebt, die die Gebärende angeschrien hat: „Sie müssen jetzt mal vernünftig mitarbeiten, sonst sind Sie selbst schuld, wenn Ihr Kind stirbt!“ Das ist Erpressung. Die Reaktion darauf ist pure Panik und ein völliges Blockieren der Frau. Dabei müsste sie sich fallenlassen können, um zu gebären.

Högemann: Diese Angstmacherei ist verbale Gewalt. Dazu zählen auch herablassende Worte wie „Weinen hilft dir auch nicht weiter“ – in einem der intimsten Momente des Lebens. Das traumatisiert viele Mütter nachhaltig, übrigens auch die anwesenden Väter, die sich in solchen Momenten oft machtlos fühlen.

Verfechter der rauen Methoden verweisen gern auf das Risiko der Kliniken, bei Fehlern teuer verklagt zu werden.

Högemann: Aber das darf doch nicht der Grund sein, so mit einem Menschen umzugehen! Es ist doch auch entscheidend, wie Eingriffe kommuniziert wurden, das geht doch auch wertschätzend! Es ist zudem schwer, eine Klinik für etwas zu verklagen, das sie der Frau angetan hat. Und selbst wenn es gelingt, geht es da lediglich um ein paar Tausend Euro Schmerzensgeld. Passiert dem Kind etwas, geht es um mehrere Millionen.

Was kann Frauen helfen, Erfahrungen während der Geburt zu verarbeiten?

Placzek: Das ist ganz unterschiedlich. Darüber sprechen hilft oft. Ich rate Frauen, den Geburtsbericht aus der Klinik anzufordern, dazu haben sie ein Recht. Den gehen wir gemeinsam durch, um zu verstehen, warum Dinge so gelaufen sind, wie sie es sind. Das klappt manchmal, aber oft sitze ich verständnislos da und wünschte mir mehr Juristen, die Lust auf Geburtshilfe haben.

Högemann: Für manche Frauen ist es wichtig, den Weg vor Gericht zu gehen, selbst wenn sie wissen, dass er wenig aussichtsreich ist. Daher rät die Anwältin, mit der ich für mein Buch gesprochen habe, zum rechtzeitigen Abschluss einer Rechtsschutzversicherung vor der Geburt. Natürlich können Mütter sich auch selbst direkt an die Klinik wenden. Allerdings sollten sie nicht erwarten, von Hebammen und Ärzten Recht oder eine Entschuldigung zu bekommen und die meist abwehrende Reaktion dann persönlich nehmen. Das System Geburtshilfe ist leider zu kaputt.

Wie sieht für Sie ein ideales System der Geburtshilfe aus?

Placzek: Erst einmal brauchen wir Zeit. Ein Kind ploppt nicht einfach so raus. Die beste Betreuung ist eins zu eins, eine Hebamme pro Schwangere, lange vor der Geburt. So entsteht Vertrauen, erlangen wir Kenntnis über die Frau und ihren Körper, was bei der Geburtsbegleitung unheimlich hilft. Eine solche Betreuung gibt es in Geburtshäusern oder von manchen Beleghebammen, doch das ist viel zu wenig. Nicht zuletzt dadurch haben wir in Deutschland das Problem, dass wir Gebärende in Kliniken vernachlässigen, etwa indem wir sie ohne Hilfe stundenlang allein in Wehenzimmern liegen lassen. Utopisch ist eine Eins-zu-Eins-Betreuung aber nicht, wie uns die Niederlande zeigen, dort ist sie Alltag. Im Übrigen haben die Niederlande mit 17 Prozent auch eine deutlich niedrigere Kaiserschnittrate als wir mit 31 Prozent.

Frauen hierzulande sollten also genau schauen, wo und wie sie gebären wollen, oder?

Högemann: Ich rate jeder Frau, sich lange vor dem Geburtstermin über den Ort der Geburt zu informieren und in sich hineinzuhorchen, wie wohl sie sich dort fühlt. Auf Infoveranstaltungen sollten Schwangere Statistiken erfragen, etwa wie hoch die Dammschnittrate ist. Es ist wichtig, sich mit dem ganzen System Geburtshilfe auseinanderzusetzen. Und auf einem Geburtsplan gewisse grundlegende Dinge festzuhalten, etwa zur Medikamentengabe und zu den verschiedenen Eingriffen. Dieser Plan sollte vor der Geburt in die Akte der werdenden Mutter kommen. Alle Hebammen und Ärzte sollten darauf hingewiesen und informiert werden, dass die Frau selbstbestimmt gebären möchte.

Am Ende fällt oft der Satz: „Hauptsache, das Kind ist gesund.“ Warum ist das für Sie beide ein Unding?

Högemann: Diese Aussage spricht Müttern ihre Geburtserfahrungen ab, degradiert sie zu einem Lieferanten und bagatellisiert Gewalt.

Placzek: Der Satz lässt zudem keinen Raum für dringend benötigtes Mitgefühl. Die Geburt ist ein enormes Naturereignis, durch das die Frau gegangen ist! Und mal ehrlich: Was wären wir denn ohne Mütter?