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"Diese Krankheit bekommt mich nicht klein!"

Eine Frau aus Kamenz leidet an einer seltenen Erkrankung. Doch bis sie die Diagnose erfährt, vergehen Jahre. Wie sie den Kampf zurück in den Alltag meistert.

Von Ina Förster
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Ist nach langem Kampf wieder optimistisch: Julia Stelzner aus Kamenz leidet an einer seltenen Erkrankung. Doch die Diagnose erfuhr sie erst nach einer langwierigen Odyssee.
Ist nach langem Kampf wieder optimistisch: Julia Stelzner aus Kamenz leidet an einer seltenen Erkrankung. Doch die Diagnose erfuhr sie erst nach einer langwierigen Odyssee. © Anne Hasselbach

Kamenz. "Ich habe die Arnold-Chiari-Malformation Typ II!" Arnold was? Julia Stelzner aus Kamenz erklärt den Begriff geduldig zum wohl hundertsten Mal. Es klingt kompliziert. Nach Schmerzen. Und einem langen Weg.

Julia hat diese Krankheit. Vor fünf Jahren wurde sie bei ihr diagnostiziert. Nach einer viel zu langen Tortur durch Notaufnahmen, Krankenhäuser, neurologische Kliniken und Reha-Einrichtungen. Die Erkrankung mit dem komplizierten Namen ist eine Fehlbildung der hinteren Schädelgrube, die genetisch zu klein angelegt ist. "Ehe man das aber herausgefunden hat, ging ich durch die Hölle", sagt die 34-Jährige.

"Lasst Euch nicht abwimmeln!"

Sie erzählt das Ganze nicht, um Mitleid zu heischen oder jemandem die Schuld zuzuweisen. Sie will öffentlich darüber sprechen, weil sie so viele Jahre ahnungslos war und meint, dass es anderen vielleicht auch so ergehen könnte. "Vielleicht haben nicht viele die Arnold-Chiari-Malformation. Aber eventuell etwas anderes. Und ihnen möchte ich mit auf den Weg geben: Lasst Euch nicht abwimmeln! Holt Euch immer Zweit- oder Drittmeinungen bei Ärzten ein. Kämpft für das, was Euch wichtig ist", sagt die Kamenzerin.

Wichtig sind ihr eigentlich die ganz normalen Dinge: Arbeit, Familie, ihr Liebster und die Kinder. Das kleine Glück zwischen Kuchenbacken und Blumenpflücken. Zwischen auf Arbeit gehen können und Freunde treffen. Nicht immer war das in den letzten Jahren einfach. Und schon gar nicht normal.

"Man wöllte den Kopf an die Wand schlagen"

Migräne gab und gibt es in der Familie von Julia Stelzner schon immer. Doch 2014 erwischte sie erstmals ein besonders heftiger Anfall. "Das sind Schmerzen, die man gar nicht beschreiben kann. Man wöllte den Kopf an die Wand schlagen, weil nichts hilft", erzählt sie.

Damals war die Kamenzerin 26 Jahre alt und angehende Filialleiterin bei einem großen Discounter. "Ich bin ein Arbeitstier und lasse mich ungern krankschreiben ", sagt sie. Der Migräne-Anfall sei damals von allen untersuchenden Ärzten als schwere Attacke abgetan worden. "Und ich habe es nicht weiter verfolgt - wer möchte schon gern eine schwere Krankheit haben", sagt Julia Stelzner.

Doch drei Jahre später folgte der nächste schwere Anfall. Gerade, als die Familie beim Hexenfeuer war. "Von jetzt auf gleich ging nichts mehr. Die Übelkeit war grausig. Ich musste sofort nach Hause", erinnert sich Julia Stelzner. Sie war mittlerweile Mutter, ihr Sohn Louis ist heute acht Jahre alt.

Wieder gab es Untersuchungen, wieder ein MRT im Krankenhaus. Und wieder wurde nichts gefunden. Die Ärzte verschrieben Tabletten und empfahlen eine Schmerztherapie. Die Symptome verschlimmerten sich trotzdem. Wortfindungsstörungen kamen dazu und Unsicherheiten beim Gehen. Auch das Greifen fiel Julia Stelzner manchmal schwer.

"Man wird oft nicht ernst genommen"

Aber die Diagnose "Migräne" entschuldigt vieles. Kopfschmerzen scheinen gesellschaftsfähig zu sein. Viele leiden daran. "Das ist das Tückische, man wird oft nicht ernst genommen", sagt die Kamenzerin. Mehr als 250 verschiedene Kopfschmerz-Arten kennen die Fachleute. "Ich bekam oft gesagt, dass ich wahrscheinlich zu viel Stress habe, mal runterfahren soll", blickt Julia Stelzner zurück. "Heute würde ich nicht mehr darauf hören, sondern meinem Körper vertrauen, der mir etwas sagen wollte."

2017 kam sie in die Neurologie nach Arnsdorf. Drei Wochen wurde sie intensiv untersucht, holte sich bei diesem Aufenthalt eine Hirnhautentzündung. "Wo die plötzlich herkam, ist bis heute nicht geklärt", sagt Julia Stelzner. Bei den Untersuchungen wurde zumindest schon eine Syringomyelie entdeckt - eine seltene Erkrankung, bei der sich flüssigkeitsgefüllte Hohlräume im Rückenmark bilden, die Lähmungen und Schmerzen verursachen.

Anfang Dezember dann der Totalzusammenbruch. "Ich konnte nicht einmal mehr richtig sprechen." In der Uni-Klinik Dresden schaute sich ein Neurologe die MRT-Bilder noch einmal genauer an - und tippte auf die Arnold-Chiari-Malformation. Er operierte sofort. "Ich hätte heulen können. Vor Glück! Endlich nahm mich jemand ernst!"

"Dann wäre ich querschnittsgelähmt gewesen"

Mittlerweile war durch die angeborene Fehlbildung ihrer hinteren Schädelgrube das Kleinhirn zwischen zweiten und dritten Halswirbel gerutscht. Bei der schwierigen Hirn-OP wurde ihr ein Halswirbel entfernt, damit mehr Platz ist, und man setzte eine Membran ein. "Drei Tage war ich nicht ansprechbar. Anschließend sagte mir der Arzt, dass ich Glück hatte. Ein halbes Jahr länger, dann wäre ich querschnittsgelähmt gewesen", erzählt Julia Stelzner.

Sie kämpfte sich ins Leben zurück. Für ihren Sohn Louis, der sie braucht. Und eine neue Liebe, die ihr schicksalshaft über den Weg lief. Julia Stelzner schulte um, wollte Kauffrau im Gesundheitswesen werden, da sie ihren Traumjob im Handel nicht mehr länger ausüben konnte.

Dass man nichts erzwingen kann, begriff sie 2019 schmerzhaft: Denn die Krankheit kam mit einer Beule am Hinterkopf zurück. Diesmal hatte sich ein gutartiger Tumor gebildet. "Wir waren besser vorbereitet, ich wollte sofort Zweitmeinungen haben", sagt sie. Ihr neuer Partner Kevin recherchierte tagelang, wurde in Quakenbrück in Niedersachsen bei Dr. Jörg Klekamp fündig, der auf die seltene Krankheit spezialisiert ist. Er operierte die junge Kamenzerin kurz darauf ein zweites Mal am Hirn. Seitdem ist Ruhe eingekehrt.

Heute lebt Julia Stelzner ein gutes Leben, arbeitet im neuen Job. Kurz nach der zweiten OP wurde sie ein zweites Mal schwanger. Töchterchen Hayli ist ihr ganzer Stolz. Und ihren Kevin hat sie geheiratet. Die große Feier steigt im Sommer. Auch der Hausbau startet bald.

"Ich wollte mein altes Leben zurück!" Doch weil das nicht ging, gestaltete sie sich ein neues. Hunderte Mal habe sie sich gefragt: Warum passiert mir das alles? "Dann habe ich gemerkt, dass das Gejammer mich nicht weiterbringt. Nur die Hoffnung. Diese Krankheit bekommt mich nicht klein!"