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Wenn der Heimplatz in Dresden plötzlich 642 Euro im Monat teurer ist

Die Dresdnerin Lieselotte Marschner sollte 3.342 Euro für die Pflege ihres Mannes bezahlen. Sie kündigte den Platz. Die Suche nach einer Alternative war ein Wettlauf mit der Zeit.

Von Sylvia Miskowiec
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Ein Ordner voller Unterlagen und Kostenbescheide: Lieselotte Marschner aus Dresden hofft, noch lange den neuen Heimplatz finanzieren zu können.
Ein Ordner voller Unterlagen und Kostenbescheide: Lieselotte Marschner aus Dresden hofft, noch lange den neuen Heimplatz finanzieren zu können. © Jürgen Lösel

Früher war Manfred Marschner Kartograf, leitete ein ganzes Büro mit 16 Mitarbeitern in Potsdam, zog später mit seiner Ehefrau nach Dresden in eine Doppelhaushälfte am Stadtrand. Heute ist Manfred Marschner 85 Jahre alt und baut seinen Rasierapparat manchmal zum Telefon um. Er ist seit vier Jahren dement. „Ich habe ihn bis Sommer letzten Jahres zu Hause gepflegt“, sagt seine Frau Lieselotte. Sie ist elf Jahre jünger als ihr Mann, doch die Betreuung hat sie an ihre Grenzen gebracht – zuerst persönlich und später finanziell.

„Manfred wurde demenzbedingt immer wieder aggressiv, ist auf mich losgegangen“, sagt sie. Lieselotte Marschner hält alles über Jahre irgendwie aus – bis ihr Herz streikt. Dreimal kommt sie in die Klinik, im August letzten Jahres für länger. Manfred musste notgedrungen in eine Kurzzeitpflege. „Ich habe lange gesucht und schließlich weit weg von unserem Stadtteil einen Platz bekommen“, so die 74-Jährige.

Das AWO Heim „Prof. Rainer Fetscher“ in Großzschachwitz nimmt den Senior auf und bietet seiner Frau nach drei Wochen an, ihn auf Dauer in stationärer Pflege zu behalten. Manfred Marschner wird der Pflegegrad 3 attestiert. Wer das dritte von fünf Levels der Pflegebedürftigkeit erreicht, dem bescheinigt der Verband der Ersatzkassen (Vdek) „eine schwere Beeinträchtigung der Selbstständigkeit“.

Für Lieselotte Marschner war das Angebot des Heims ein Segen, gesteht sie. „Gesundheitlich hätte ich es einfach nicht mehr allein geschafft, mich um meinen Mann zu kümmern.“ Auch wenn ihr die Entscheidung, Manfred im Heim zu lassen, nach 28 Ehejahren nicht leicht gefallen sei.

Der Pflegeheimplatz war gerade so finanzierbar

Auch finanziell ist die Unterbringung Manfreds eine Herausforderung für die Dresdnerin, „aber gerade noch machbar“. Der Eigenanteil, der für den Heimplatz zu zahlen war, lag im vergangenen Jahr bei 2.700 Euro. „Das konnte ich nur von unserer gemeinsamen Rente finanzieren“, sagt Lieselotte Marschner.

Zieht ein pflegebedürftiger Mensch in eine Einrichtung, übernimmt seine Pflegeversicherung nur einen Teil der Kosten. Wie viel sie bezahlt, richtet sich nach dem Pflegegrad. Je höher er ist, umso mehr Geld gibt es für das Heim. Wer etwa wie Manfred Marschner den Pflegegrad drei hat, dem zahlt die Versicherung 1.262 Euro dazu, beim höchsten Pflegegrad fünf sind es 2.005 Euro monatlich. Den Rest muss der Bewohner übernehmen, das ist der sogenannte Eigenanteil. Dieser setzt sich zusammen aus den Kosten für die reine Pflege, für Unterkunft und Verpflegung sowie für Investitionen und Ausbildung. Die Pflegekassen gewähren einen Entlastungszuschlag, dessen Höhe sich nach der Zeit im Heim richtet. In Manfred Marschners Fall standen am Ende 2.700 Euro auf der Rechnung. Plus Kosten für Fußpflege, Medikamente, Kleidung und Naschwerk, weil er Süßes gern mag. „Seine kleinen Freuden des Alltags“, sagt seine Frau.

Manchmal blieb am Monatsende nichts übrig

Am Ende des Monats blieben in der Familienkasse mal 100 Euro, mal nichts mehr übrig. Im November setzte sich die Seniorin daher einen ganzen Sonntag lang vor den PC und versuchte, Wohngeld für ihren Mann zu beantragen. Jeder Heimbewohner, der seinen Platz nicht selbst bezahlen kann, darf diese Sozialleistung bei der örtlichen Wohngeldbehörde beantragen. Auch „Hilfe zur Pflege“ vom Sozialamt ist möglich. „Der Heimleiter sagte mir, dass mehr als 80 Prozent der Bewohner solche Leistungen in Anspruch nehmen“, sagt Lieselotte Marschner.

„Solch konkrete Daten liegen uns nicht für unsere Heime vor, dafür sind die Sozialhilfeträger zuständig“, sagt dagegen Lissy Nitsche-Neumann, Pflegewirtin beim AWO Landesverband Sachsen. Bei der Diakonie, ebenfalls Trägerin von Pflegeheimen in Sachsen, gehe man von rund 30 Prozent hilfsbedürftiger Heimbewohner aus, so Sprecherin Sigrid Winkler-Schwarz.

Hilfen sind möglich - unter großen Auflagen

Grundsätzlich beteiligt sich das Sozialamt mit der „Hilfe zur Pflege“ nur an den Heimkosten, wenn der Pflegebedürftige, der Ehepartner und die Kinder nicht über ausreichend Einkommen oder Vermögen verfügen. Die Bewilligung erfolgt in der Regel „bis auf Weiteres“. Laut Verbraucherzentrale kontrolliert das Sozialamt unter anderem alle regelmäßigen Einkünfte des Hilfebedürftigen und Ehepartners in Geld, Renten und Pensionen, Unterhaltszahlungen von Verwandten, Miet- und Pachteinnahmen und Einkünfte aus Kapitalvermögen. Davon abgezogen werden können zum Beispiel Beiträge zur Sozialversicherung und zu gesetzlich vorgeschriebenen Versicherungen, geförderte Altersvorsorgebeiträge wie Riesterverträge und Werbungskosten. Nicht angerechnet werden unter anderem Pflege- und Schmerzensgeld, Renten oder Beihilfen laut Bundesentschädigungsgesetz.

„Ich wollte keinen solchen Hilfsantrag stellen, weil ich ja unsere komplette finanzielle Situation darlegen müsste, aber das ging in meinen Augen niemanden etwas an“, sagt Lieselotte Marschner. „Wir haben nie über unsere Verhältnisse gelebt und konnten immer mit Geld umgehen, aber diese unangemessen hohen Forderungen erschütterten unsere Basis.“ Sie habe richtig Angst gehabt, am Ende noch aus ihrem Haus ausziehen zu müssen. Und sie empfindet noch etwas. „Ich halte diese Wucherpreise für eine große Ungerechtigkeit an den Alten und Schwachen, und dieses hilflose Ausgeliefertsein macht mich wütend.“

Der Eigenanteil für Manfred Marschner lag mit seinen 2.700 Euro pro Monat im vergangenen Jahr deutlich über dem sächsischen Durchschnitt von 2.184 Euro. Aller halben Jahre ermittelt der Vdek diesen Wert, der beständig steigt. Für Anfang dieses Jahres musste der Verband ihn erneut nach oben korrigieren, um 197 Euro auf mittlerweile 2.381 Euro im Mittel.

Personalkosten verteuern Eigenanteil

Lieselotte Marschner hat nur ein spöttisch-trauriges Lachen für diese Zahlen übrig. Denn was ihr am 20. Dezember 2023 per Post mitgeteilt wurde, übertraf die durchschnittliche Steigerung um mehr als das Dreifache. „Das Heim schrieb mir, dass der Eigenanteil ab Februar um 642 Euro auf 3.342 Euro steigen würde.“ Der größte Posten neben Unterkunft und Verpflegung: die Pflegeleistungen. Gut 30 Prozent mehr wollte das AWO-Heim ab Februar 2024 für die reine Pflege haben. Da half Lieselotte Marschner auch kein 15-prozentiger Entlastungszuschlag mehr.

„Der Hauptgrund für solche immensen Steigerungen sind die Personalkosten“, sagt Annett Lotze, Pflegeexpertin beim Vdek Sachsen. „Träger wie die AWO müssen ihre Haustariflöhne an die neuen, höheren Mindestlöhne anpassen und legen auch die im vergangenen Jahr gezahlten Inflationsausgleichsprämien um.“ Daher fielen manche Steigerungen so hoch aus. Zudem würden beim Posten „Verpflegung“ auch die höheren Lebensmittelpreise eine Rolle spielen, während bei „Unterkunft“ Heiz- und Energiekosten die Zuzahlung nach oben trieben.

Heime müssen höhere Kosten begründen

Fakt ist: Kein Heim kann nur aus Gutdünken seine Preise erhöhen. „Heimbetreiber kalkulieren in der Regel einmal im Jahr ihre Kostensätze und gehen dann in Einzelverhandlungen mit den Pflegekassen und Sozialhilfeträgern“, sagt Annett Lotze. Dabei müsse genau nachgewiesen werden, warum etwaige Steigerungen nötig seien. Wichtig sei zudem, dass von Anfang an der Heimbeirat, also die Interessensvertretung der Heimbewohner, in die Pläne einbezogen werde. „Ist die Entscheidung für neue Kosten gefallen, haben Bewohner und Angehörige ein Recht darauf, nicht nur darüber informiert zu werden, sondern auch die einzelnen Posten erläutert zu bekommen“, so Lotze.

Kündigung kurz nach Weihnachten

Lieselotte Marschner aber brauchte keine Erläuterungen. Sie brauchte nach dem Schreiben ein neues Zuhause für Manfred. „Den neuen Eigenanteil hätte ich nie bezahlen können“, sagt sie und erinnert sich an das vergangene Weihnachten. Das hat sie mit der Suche nach einem Platz verbracht. Gut 60 Heime habe sie auf der Liste gehabt, mehr als 30 gleich über die Feiertage per Mail angeschrieben, zwischen den Jahren nachtelefoniert. Die Zeit drängte, denn Manfreds Platz musste mit vier Wochen Vorlauf gekündigt werden – und ab Februar galten die neuen Preise. „Letzenendes habe ich am 29. Dezember, neun Tage nach Erhalt der künftigen Forderung, seinen Platz gekündigt, ohne schon eine neue Zusage zu haben. Meine Nerven lagen blank“, sagt Lieselotte Marschner.

Manfred Marschner wurde in der Zwischenzeit Pflegegrad 4 bescheinigt. Ihn wieder daheim zu pflegen, wäre für seine Frau nicht möglich gewesen. Ihre Ärztin habe gesagt: „Ich weiß nicht, ob Sie dann wieder in die Klinik müssen.“

Zusage mit Bedingung

Am 18. Januar erhält Lieselotte Marschner die Zusage eines neuen Heimes – die einzige überhaupt. Mit knapp 2.500 Euro monatlich liegt der Eigenanteil wieder im finanzierbaren Bereich. Schon ein paar Tage später zieht Manfred um. Dafür hat der 85-Jährige nun einen Zimmergenossen. Und musste sich anfangs bewähren: „Er ist viel ziellos rumspaziert, die Heimleitung befürchtete, er wolle ausreißen.“ Lieselotte Marschner bekam ein Ultimatum: Bis Ende Januar bessert sich das, oder Manfred muss wieder gehen. Vorsichtshalber kramt die Seniorin wieder die Liste mit Heimen hervor und sucht erneut, überlegt, ob sie sich häusliche Pflege mit professionellen Helfern leisten kann. „Am 6. Februar kam der erlösende Anruf: Manfred wurde bescheinigt, dass er nicht weglaufen will, sondern nur in dem Umfeld herumläuft. Er kann bleiben.“ Versuche er aber wegzulaufen, müsse Lieselotte Marschner ihn abholen.

Zuschüsse, die wenig entlasten

  • Um die finanzielle Belastung für Bewohner von Heimen zu senken, zahlen die Pflegekassen seit 2022 einen Zuschuss zu den Eigenanteilen für die reine Pflege. Der sogenannte Entlastungszuschlag ist unabhängig vom Pflegegrad und richtet sich nach der Wohndauer.
  • Im ersten Jahr sinkt der Eigenanteil für die reine Pflege damit um 15 Prozent, im zweiten sind es 30, im dritten 50 und ab dem vierten Jahr 75 Prozent. Investitions- und Unterkunftskosten werden nicht bezuschusst, also auch keine steigenden Energie- und Lebensmittelkosten abgefangen.
  • Die Entlastung durch die Zuschüsse ist jedoch überschaubar. Laut Sozialverband Vdek zeige sich ein Effekt nur bei einer langen Aufenthaltsdauer. Doch nur 14 Prozent der Heimbewohner bleiben tatsächlich länger als zwei bis drei Jahre. In Sachsen müssen Bewohner ab dem vierten Jahr im Mittel immer noch 1.540 Euro Eigenanteil zahlen.