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Die zweifelhaften Diagnosen von Dr. Tiktok und Schwester Instagram

In den sozialen Medien kursieren Tausende Videos mit Tipps zur Selbstdiagnose und -heilung von psychischen Leiden. Mediziner finden daran nur eines hilfreich.

Von Sylvia Miskowiec
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Sie sind selbst von Leiden wie Autismus und ADHS betroffen, haben unter Umständen auch ein Coaching-Zertifikat, jedoch keine medizinische Ausbildung: Medfluencer wie Tom Harrendorf (l.) alias "Autismus_und_borderline" und Katharina Schön alias "Guardian_
Sie sind selbst von Leiden wie Autismus und ADHS betroffen, haben unter Umständen auch ein Coaching-Zertifikat, jedoch keine medizinische Ausbildung: Medfluencer wie Tom Harrendorf (l.) alias "Autismus_und_borderline" und Katharina Schön alias "Guardian_ © eigene Screenshots TikTok

Der Blick in die Kamera ist eindringlich, die Stimme dramatisch: „Vier Anzeichen, dass Du ADHS hast“, ruft der Influencer seinen Zuschauern zu und beginnt, Merkmale aufzuzählen. Macken, die nicht unbedingt auf eine ernst zu nehmende Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung hinweisen müssen, denn diese ist viel zu komplex, als dass man ihre Ausprägungen auf eine kleine Liste zusammendampfen könne, warnen Mediziner. Und so treffen die vermeintlichen ADHS-Anzeichen aus dem Social-Media-Reich auf ziemlich viele Menschen zu. Wer vergisst nicht öfter man seinen Schlüssel, stürzt sich mit Begeisterung in ein neues Hobbys und gibt , impulsiv Geld ausgeben. Trotzdem – oder genau deswegen – heimsen derartige Videos auf TikTok und Instagram zuhauf Likes und Follower ein. Und es werden immer mehr.

Laut der aktuellen Studie des Branchenverbands der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche (Bitkom) suchen über ein Viertel der Jugendlichen im Alter von 16 bis 19 Jahren bei psychischen Problemen in den sozialen Medien nach Rat. Damit sind die Plattformen direkt nach Freunden die bevorzugten Anlaufstellen der Jugendlichen. Ärzte dagegen werden nur von knapp zehn Prozent als erste Ansprechpartner betrachtet.

ADHS erlebt gerade einen Hype

„Inzwischen können Beiträge zu den verschiedenen Gesundheitsthemen auch mit Top-Trendthemen wie #vegetarisch oder #vegan mithalten“, sagt Ulrike Thieme, leitende Ärztin des Telemedizinanbieters Zava, der sich den Hype für einen Report etwas genauer angesehen hat. Hinter dem Hashtag „depression“ verbergen sich beispielsweise über 12,7 Milliarden Beiträge auf TikTok und 24 Millionen Posts auf Instagram. ADHS ist mit fast 450 Millionen Beiträgen vor allem auf TikTok präsent.„Besonders ADHS erlebt zurzeit einen starken Aufschwung in den sozialen Medien“, so Thieme. Grund dafür sei auch, dass es eine häufige psychische Auffälligkeit von Kindern und Jugendlichen ist: Laut des Bundesministeriums für Gesundheit haben zwei bis sechs Prozent aller Kinder und Jugendlichen ADHS, 70 Prozent von ihnen behalten es bis ins Erwachsenenalter. Auch Depressionen sind ein Thema: Laut DAK-Kinder- und Jugendreport 2023 sind stationäre Behandlungen von Depressionen bei den 15- bis 17-jährigen Mädchen seit 2019 um 24 Prozent angestiegen.

Es gibt also offenbar genug Redebedarf über psychische Leiden. Das Praktische: Das vermeintliche Wissen darüber ist zu jeder Tages- und Nachtzeit im Handy griffbereit. Ein paar Mal wischen und tippen und schon sind die ersten Ratschläge da. Ganz ohne wochenlange Wartezeiten auf einen Facharzttermin. Und völlig nahbar für junge Menschen: Die sogenannten Medfluencer – ein Sprachspiel aus „Medizin“ und den auf Social Media erfolgreichen „Influencern“ – stellen in ihren Posts Krankheiten und Symptome einfach nachvollziehbar dar. „Etwa ein Fünftel der Beiträge zeigt zudem persönliche Erfahrungen“, sagt Medizinerin Thieme.

Eigene Erfahrungen reichen nicht

Doch für wirklich valide medizinische Aussagen reichten der eigene Erfahrungsschatz, viele selbst gelesene Bücher zum Thema nicht aus, kritisieren Fachleute. Einige Medfluencer verweisen zwar auf ihre Coaching-Zertifikate, eine medizinische Ausbildung haben aber die wenigsten. Das mache sich in der Qualität der Inhalte bemerkbar, sagt Thieme. „Die kurzen Posts sollen unterhalten und informieren – enthalten aber eventuell auch Fehlinformationen.“ Und die erkennen medizinische Laien schwer. Zumal die Medfluencer zu einer sehr jungen Zielgruppe sprechen, besonders auf TikTok. Über die Hälfte der Nutzenden dieser Plattform ist zwischen 14 und 19 Jahren alt.

Das Problem seien aber nicht nur möglicherweise falsche Infos. „Die von außen angestoßene Beschäftigung mit den Symptomen kann unter Umständen dazu führen, dass Kinder und Jugendliche überhaupt erst Anzeichen entwickeln oder diese sich verstärken, falls sie schon vorhanden sind“, sagt Veit Roessner, Klinikdirektor der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie am Dresdner Uni-Klinikum. Momentan liefen erste Studien zu diesem Phänomen, auch, um in der Behandlung adäquat reagieren zu können.

Therapie via Social Media

„Nicht zuletzt besteht die Gefahr, dass die Jugendlichen ernsthafte Störungen übersehen, weil sie nach der Selbstdiagnose keine professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, sondern lieber gleich auf Therapien von Social-Media-Coaches zurückgreifen“, sagt Medizinerin Thieme. Auch eine Versteifung auf ein vermeintliches Leiden erschwere unter Umständen eine ernst gemeinte Therapie. Immerhin: Manche Influencer sind sich ihrer Reichweite und Verantwortung bewusst und versehen ihre Posts mit einer Warnung, etwa: „Das ist ein Aufklärungs-TikTok, keine Selbstdiagnose“. Zudem verweisen einige darauf, dass der Weg zum Psychologen unumgänglich sei, wenn jemand bei sich bestimmte Leiden wie Depression oder ADHS vermute.

Dass an Social Media kein Weg vorbeiführt, wenn junge Menschen erreicht werden sollen, haben auch seriöse Selbsthilfeorganisationen wie die Deutsche Depressionshilfe erkannt. Auf Instagram folgen dem Konto „Stark_gegen_Depression“ fast 64.000 Menschen, auf TikTok jedoch bisher nur gut 1.800 – sehr wenige im Vergleich zu sechsstelligen Fanzahlen mancher Medfluencer.

Die Social-Media-Plattformen selbst reagieren mittlerweile, wenn sensible Gesundheitsinhalte gesucht werden. So erscheinen auf Instagram statt der Suchergebnisse für „Depression“ zuerst Hilfsangebote, unter anderem Kontakte zur Telefonseelsorge. Bei TikTok ploppt bei „Depression“ nur ein Hinweis zum „Wellbeing-Guide“ auf. Beim Stichwort „Borderline“ allerdings zeigt auch die Kurzvideo-Plattform sofort die Nummer der Telefonseelsorge sowie Links zu Erste-Hilfe-Tipps, allerdings auf Englisch.

Hilfe bei der Entstigmatisierung

Alles dürfe man auf Social Media jedoch nicht verteufeln, so Ärztin Ulrike Thieme. Krankheiten wie ADHS und Depressionen würden durch die Medfluencer ein Stück weit entstigmatisiert, sagt sie. „Der offene Austausch auf TikTok und Co. schärft das Bewusstsein für psychische Gesundheitsprobleme und lässt Betroffene eine unterstützende Community finden, in der sie sich verstanden fühlen und Erfahrungen mit anderen teilen können.“

Kinder- und Jugendpsychiater Roessner ist da zurückhaltender. Prävention und Informationen über psychische Leiden könnten nicht genauso gehandhabt werden wie jene bei physischen Erkrankungen wie einer Grippe, da die Auswirkungen auf junge Menschen unsicher seien. Letztlich ersetze bei einem Verdacht auf eine psychische Krankheit kein noch so gut gemachtes Video den Gang zum Arzt.

Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr gratis erreichbar: 0800 1110111, 0800 1110222 sowie 116123, außerdem im Internet per E-Mail und Chat über www.telefonseelsorge.de