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Wie ein Görlitzer im Stasi-Knast starb

Matthias Domaschk wurde nur 23 Jahre alt. Jetzt ist ein Buch über sein Leben und seine letzten Tage erschienen. Der Autor stellt es an diesem Freitagabend in Görlitz vor.

Von Ingo Kramer
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Matthias Wenzel steht vor der früheren 15. POS auf der Carl-von-Ossietzky-Straße und zeigt seine alten Klassenfotos. Er besuchte die Schule zusammen mit seinem damals besten Freund Matthias Domaschk, der später im Stasi-Gefängnis starb.
Matthias Wenzel steht vor der früheren 15. POS auf der Carl-von-Ossietzky-Straße und zeigt seine alten Klassenfotos. Er besuchte die Schule zusammen mit seinem damals besten Freund Matthias Domaschk, der später im Stasi-Gefängnis starb. © Martin Schneider

Matthias Wenzel hat die Bilder aus seiner Kindheit alle noch im Kopf. Wie er mit seinen Eltern auf der Görlitzer Schillerstraße lebte, sein Schulfreund Matthias Domaschk auf der Reuterstraße. Wie sie zusammen spielten, im Loenschen Park, am Weinberg, an der Neiße in der Nähe der Obermühle. Wie sie in der Schule, der damaligen 15. POS auf der Carl-von-Ossietzky-Straße, immer darauf achteten, Banknachbarn zu sein. Und wie Matthias Domaschk als 13-Jähriger im Dezember 1970 mit seiner Familie von Görlitz nach Jena zog, weil sein Vater zum Hauptabteilungsleiter bei VEB Carl Zeiss befördert wurde.

Das Klassenfoto aus der 1. Klasse zeigt Matthias Domaschk (oben rechts) und Matthias Wenzel (oben links).
Das Klassenfoto aus der 1. Klasse zeigt Matthias Domaschk (oben rechts) und Matthias Wenzel (oben links). © Foto: privat

Auch danach riss der Kontakt nicht ab, Matthias und Matthias blieben Brieffreunde. Ab und an kam „Domi“, wie er hier genannt wurde, auch noch zu Besuch in die Stadt seiner Kindheit, das letzte Mal im Sommer 1977. Was keiner ahnen konnte: Keine vier Jahre später war Domi tot. Am 10. April 1981 war er mit einem Freund per Bahn unterwegs zu einer Geburtstagsfeier nach Ost-Berlin. Am gleichen Wochenende fand dort der X. Parteitag der SED statt. Auf Befehl der Stasi wurden beide im Zug verhaftet und am nächsten Tag in die Stasi-Untersuchungshaftanstalt in Gera gebracht. Der Vorwurf: Sie hätten Störaktionen während des Parteitages geplant.

„Tatsächlich war er politisch sehr aktiv, hat sich zum Beispiel an Protestaktionen nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann beteiligt und ist deshalb kurz vor den Prüfungen nicht zum Abitur zugelassen worden“, sagt Wenzel. An jenem Apriltag aber wollte er tatsächlich nur zu der Geburtstagsfeier fahren. In der U-Haft in Gera unterschrieb er dann am 12. April nach stundenlangen Verhören eine handschriftliche Verpflichtungserklärung zur inoffiziellen Mitarbeit für die Stasi. „Er war psychisch enorm unter Druck gesetzt worden, sonst hätte er das nie getan“, sagt Wenzel.

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Kurz danach, vor seiner offiziellen Entlassung gegen 14 Uhr, kam der 23-Jährige in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt unter ungeklärten Umständen ums Leben. Laut offizieller Version beging er Suizid, indem er sich mit seinem eigenen Hemd an einem Heizungsrohr erhängte. Das wird von einigen Freunden bis heute stark bezweifelt. Wenzel hält diese Version aber für richtig. „Ohne die Verhaftung und die Verpflichtungserklärung hätte er das aber nie getan“, sagt der 65-Jährige, der mit seiner Frau nach wie vor in Görlitz lebt.

Im Deutschlandfunk wurde damals ausführlich über den Tod von Matthias Domaschk berichtet. Da der Sender auch in der DDR relativ störungsfrei empfangen werden konnte und der volle Name dort genannt wurde, machte die Todesnachricht auch in Görlitz schnell die Runde. „Mehr dazu haben wir freilich erst nach 1989 erfahren“, sagt Wenzel.

Viele Unterlagen existieren noch

Was allerdings noch existiert, sind zahlreiche Unterlagen. Einerseits hat die Schwester von Matthias Domaschk die Briefe aufbewahrt, die Matthias Wenzel ihm nach Jena geschickt hat. Andererseits hat „Domi“ bei seinem letzten Görlitz-Besuch im Sommer 1977 einen ganzen Packen Mitschriften und politisch brisante Texte mitgebracht, damit sie in Görlitz sicher lagern und nicht in seiner Jenaer Wohnung auffindbar sind. „Er hat sie mir gegeben mit der Aufforderung, sie abzuschreiben und weiter zu verbreiten“, sagt Wenzel, der aber selbst nicht so oppositionell aktiv war, dass er sie tatsächlich weiterverbreitet hätte: „Ich habe sie ein, zwei Leuten gezeigt und sie ansonsten bei mir aufbewahrt.“ Später hat er sie an die Umweltbibliothek Großhennersdorf gegeben: „Dort liegen jetzt die Originale.“

Heute tragen zwei aus der DDR-Opposition hervorgegangene Archive, die sich der Aufarbeitung der SED-Diktatur verschrieben haben, seinen Namen: das Matthias-Domaschk-Archiv in der Robert-Havemann-Gesellschaft in Berlin und das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“ in Jena.

Vor zwei Jahren kam der erste Anruf

Vor etwa zwei Jahren bekam Wenzel einen Anruf von Peter Wensierski. Der war ab 1979 als westlicher Reisekorrespondent in der DDR tätig, arbeitete in der Wendezeit für die ARD und von 1993 bis zu seiner Pensionierung 2020 in der Deutschlandredaktion des Spiegel. „Wensierski ist zum Thema DDR-Opposition die Koryphäe schlechthin“, sagt Wenzel. Zu diesem Thema hat Wensierski mehrere Bücher verfasst. Und nun arbeitete er an einem Buch über Matthias Domaschk – und fragte Wenzel, ob er bereit sei, etwas dazu zu sagen. „Natürlich war ich bereit“, sagt Wenzel.

So kam Wensierski nach Görlitz, die beiden trafen sich, besuchten die Orte der Kindheit. „In dem Haus auf der Reuterstraße wohnt im Parterre heute noch ein Mann, der schon vor 1970 dort gelebt hat und Matthias kannte“, sagt er. Wenzels Kindheitserinnerungen füllen nun mehrere Seiten in dem Buch „Jena-Paradies – die letzte Reise des Matthias Domaschk“, das im Frühling erschienen ist. Es ist das bisher umfangreichste Werk zum Leben von „Domi“: Wensierski hat mit 160 Zeitzeugen gesprochen, 60.000 Seiten Akten – überwiegend von der Stasi – studiert und mit 30 Ex-Stasi-Mitarbeitern gesprochen – auch mit denen, die bisher zumeist schwiegen.

Anlässlich des Kommunalen Gedenktages laden die Stadt Görlitz und die Görlitzer Sammlungen am Freitag, 19.30 Uhr, zu einer Buchlesung mit Peter Wensierski in den Johannes-Wüsten-Saal des Barockhauses, Neißstraße 30, ein. Kostenfreie Eintrittskarten gibt es an der Museumskasse. Interessenten können sich ihre Karten auch telefonisch unter 03581 671410 reservieren und müssen sie nicht vorher abholen.

Was es indes noch nicht gibt, ist etwas, was in Görlitz an Matthias Domaschk erinnert. Matthias Wenzel hat darüber nachgedacht, was das sein könnte. Eine Gedenkplatte an der Schule findet er aber nicht angebracht: „Wir hatten hier eine ruhige und sorglose Kindheit.“ Auch das Wohnhaus auf der eher abgelegenen Reuterstraße hält er nicht für den richtigen Ort.