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So macht die AfD in Görlitz Stimmung gegen Abi und Studium

Als der Görlitzer Stadtrat jetzt über eine Gemeinschaftsschule debattierte, wurde es grundsätzlich. AfD-Fraktionschef Lutz Jankus hat Maurer lieber als Sozialklempner. Doch was sagen die Fakten?

Von Susanne Sodan
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Lutz Jankus von der Görlitzer AfD-Fraktion (Mitte) findet: Man solle das Land nicht mit Abiturienten "schwemmen". Die Zahlen sprechen eine andere Sprache.
Lutz Jankus von der Görlitzer AfD-Fraktion (Mitte) findet: Man solle das Land nicht mit Abiturienten "schwemmen". Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. © André Schulze

Knapp 30 Jahre hatte es gedauert. Immer wieder wurde diskutiert, teils hitzig. Seit 2020 ist in Sachsen der Weg frei für die Gründung von Gemeinschaftsschulen. "Die AfD lehnt solche linksgrünen Bildungsexperimente ab", so äußerte sich damals der Görlitzer AfD-Stadtrat und Landtagsabgeordnete Sebastian Wippel. Im jüngsten Stadtrat brachten nun die Bürger für Görlitz eine Gemeinschaftsschule ins Spiel. Falls sie überhaupt kommt, würde das noch lange dauern - die Wellen schlugen dennoch hoch.

Worum geht es?

Die Idee kommt von der Grundschule am Fischmarkt und der Oberschule Innenstadt, die sich gern für eine Gemeinschaftsschule zusammentun würden. Kinder werden dabei von der ersten bis zur zehnten Klasse zusammen unterrichtet, teils bieten Gemeinschaftsschulen auch die gymnasiale Oberstufe an. Eine Konkurrenz zu den Schulen im dreigliedrigen System solle so nicht entstehen, sagt Yvonne Reich von den Bürgern für Görlitz, sondern eine weitere Alternative in der Görlitzer Bildungslandschaft. Sie beantragte, dazu erste Gespräche zu führen.

Gespräche und Gedanken "wie wir unseren Bildungsstandort attraktiv machen können, halte ich immer für wichtig und richtig", sagte etwa Bürgermeister Benedikt Hummel. Es gab auch Kritik, etwa von Clemens Kuche von der CDU, selbst Lehrer. Er sieht den Antrag der Bürger für Görlitz als vorschnell. Die Ressourcen - finanzielle Mittel, Sozialarbeiter oder Lehrer - seien derzeit knapp. "Diese Mittel müssen wir sinnvoll einsetzen." Und mehrere Schulen in Görlitz warten noch auf ihre Sanierung.

Kritik 1: Gemeinschaftsschule würde Schüler von Gymnasien abziehen

Vom Konzept der Gemeinschaftsschule sei er nicht überzeugt, so Sebastian Wippel. Das bisherige Schulsystem habe sich bewährt. "Wir stehen als Sachsen im Bundesvergleich bei der Bildung noch relativ weit vorn." Derweil sei die Gemeinschaftsschule in anderen Bundesländern gescheitert. Eine Kritik Wippels: Sollte die Gemeinschaftsschule mit Gymnasialstufe geplant werden, könnte das doch eine Konkurrenzsituation zu den bestehenden Gymnasien zur Folge haben. Vor allem, falls die Schülerzahl ob des demografischen Wandels sinke, würden zusätzliche Gymnasialklassen an einer Gesamtschule womöglich zulasten der Auslastung der Gymnasien gehen. "Wir haben immer wieder das Problem gehabt, dass wir unsere Gymnasien nicht voll bekommen haben." Zu seiner Zeit habe es noch vier Gymnasien in Görlitz gegeben.

Fakt: Nicht nur die Oberschulen, sondern auch die Gymnasien sind voll

Es gab in der Nachwendezeit vier Gymnasien in Görlitz. Heute sind es zwei, das Augustum-Annen- und das Joliot-Curie-Gymnasium. Dazu kommt das berufliche Gymnasium am BSZ Christoph Lüders. Die Zeiten mit zu wenig Auslastung sind längst vorbei. Während zum Beispiel im Schuljahr 2012/13 knapp 1.290 Jugendliche an den beiden Gymnasien lernten, waren es voriges Schuljahr 1.419. Vor allem am Curie-Gymnasium sind die räumlichen Kapazitäten begrenzt und die Schüler, die dort keinen Platz bekommen, gehen an die Annenschule - die aber in den zurückliegenden Jahren auch immer wieder an ihre Grenzen stieß.

Kritik 2: Gemeinschaftsschulen bieten kein gemeinsames Lernen

Torsten Koschinka, Mitglied der AfD-Fraktion, besuchte selbst in NRW eine Gemeinschaftsschule, erzählte er. Es habe damals sehr engagierte Lehrer gegeben, "aber es war kein gemeinsames Lernen". Stärkere und schwächere Schüler seien damals in unterschiedlichen Kursen unterrichtet worden, "das Lernen wird aufgeteilt", das sei auch nötig, um nicht die stärkeren Schüler zu unterfordern und Schwächere zu überfordern. "Das Konkurrenzverhältnis wird dadurch sogar noch verstärkt."

Fakt: Es kommt darauf an, wie eine Gemeinschaftsschule gemacht ist

Vor zwei Jahren schlug der Verband der Gymnasiallehrer Alarm, weil Gemeinschaftsschüler häufig unter dem Niveau anderer Schularten liegen würden. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) widersprach. Bestehende Probleme seien teils politisch begründet: Oft seien Gemeinschaftsschulen noch nicht gut genug ausgestattet, um zu funktionieren, wie sie sollen. Die Görlitzer Familienbeauftragte Ines Mory sieht einige Vorteile in einer Gemeinschaftsschule. Egal, von welcher Schulart man spreche, die gezielte Förderung je nach Leistungsniveau werde ohnehin immer wichtiger. An Gemeinschaftsschulen sei es eine Grundlage. Deren Vorteil sehe sie vor allem darin, dass sie Chancengleichheit fördern können.

Kritik 3: Chancengleichheit gibt es schon lange

Als linkes Wunschdenken bezeichnet Lutz Jankus von der AfD-Fraktion Ines Morys Verweis auf mehr Chancengleichheit. Zumal es in Deutschland, besonders in Sachsen, bereits Chancengleichheit wie in kaum einem anderen Land gebe, "ausgenommen vielleicht die skandinavischen Länder", so Jankus. Es stimme zwar, dass Kinder aus wohlhabenderen Familien vielleicht durch Förderunterricht ein höheres Niveau erlangen könnten. Genauso gebe es aber leistungsstarke Kinder, die aus finanziell schwächeren Familien stammten. Als Beispiel nannte er den Ex-Kanzler Gerhard Schröder.

Fakt: Schulabschluss massiv von sozialen Faktoren abhängig

Gerhard Schröders Schulzeit lag in den 1950er-Jahren. Voriges Jahr dagegen sorgte die Studie „Chancenmonitor“ des Ifo-Zentrums für Bildungsökonomik für Schlagzeilen. Sie zeigte, dass bis heute der Einfluss der sozialen Herkunft auf Bildungschancen enorm ist. Insbesondere der Bildungsstand der Eltern sowie das Haushaltseinkommen sind sehr starke Faktoren.

Kritik 4: Wir brauchen nicht mehr Abiturienten - und damit Studenten

Jeder habe das Recht seinen Schulabschluss zu machen "und jeder nach seinen Fähigkeiten", so Jankus. "Und wir brauchen nicht unser Land unbedingt mit möglichst vielen Abiturienten zu schwemmen. Es gibt eine Reihe interessanter und sehr wertvoller Berufe, die mit einem Realschulabschluss zu erlernen sind." Das seien meist die Handwerksberufe, "und die fehlen uns". Ein studierter "Sozialklempner", sei für ihn entbehrlicher als ein Elektriker oder Maurer. Das Narrativ, wer schon mal mit seinen Händen gearbeitet hat, habe den besseren Einblick in die Realität des Bürgers, pflegt die AfD. Bestes Beispiel ist Tino Chrupalla, Malermeister und Sprecher der Bundes-AfD. Damit will die Partei auch den Mittelstand ansprechen.

Fakt: Kreis Görlitz hat sehr wenige Abiturienten

Derweil ist Lutz Jankus selbst Akademiker. Sollte er mit "Sozialklempnern" die Absolventen der Sozialwissenschaften meinen: In die Sozialwissenschaften gehören auch die Rechtswissenschaften - Jankus' Gebiet. Er arbeitet zwar nicht mehr als Anwalt, ist aber Volljurist. Insgesamt hat die Görlitzer AfD-Fraktion drei Volljuristen in den eigenen Reihen.

Tatsächlich aber beklagen Handwerker auf Nachwuchssuche immer wieder eine zunehmende Konkurrenz durch das Studium. Vor einer "Überakademisierung" warnte 2022 der damalige Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer. Es gibt heute mehr Studienangebote als früher: Viele Berufsbilder sind spezialisierter geworden und verlangen auch eine spezialisiertere Ausbildung. Die andere Seite: Die Zahl der Studenten an sächsischen Hochschulen hat in den vergangenen Jahren um knapp 8.000 abgenommen. Und im Kreis Görlitz sind lediglich 27,2 Prozent der Schulabsolventen Gymnasiasten - ein Wert weit unter Sachsen-Schnitt.