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"Ich bin keine Bambi-Mörderin"

Karolin Herrmann verbringt ihre Freizeit gerne auf der Jagd. Warum gerade dieses Hobby? Sechs Stunden auf dem Hochstand mit einer Sächsin, die schießt, was sie isst.

Von Franziska Klemenz
 10 Min.
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Karolin Herrmann hat lange gezögert, ehe sie sich entschieden hat, Tiere töten zu gehen. Jagd und Naturschutz sind für die 24-Jährige nicht Gegenteile, sondern Synonyme.
Karolin Herrmann hat lange gezögert, ehe sie sich entschieden hat, Tiere töten zu gehen. Jagd und Naturschutz sind für die 24-Jährige nicht Gegenteile, sondern Synonyme. © Thomas Kretschel

Die Dämmerung taucht die tiefgekühlte Wiese in Taubenblau, zwei Hasen hoppeln über knirschende Halme. Wenige Szenen strahlen so viel Frieden und so viel Spannung zugleich aus wie ein Waldrand, den die Nacht zu umhüllen beginnt. Karolin Herrmann greift nach dem Fernglas, kneift die schwarzen Wimpern vor der Linse zusammen. „Da ist Wild“, flüstert sie hastig und stößt eine frostige Atemwolke aus. Auf dem Hochstand ist gerade genug Platz für zwei Menschen, Rucksack, Flinte. Herrmann blickt wieder durch die Luke, ihre Haare rahmen den Kopf wie ein Vorhang. Wird sie schießen? Viel Zeit bleibt der 24-Jährigen nicht, ehe es zu dunkel ist. Wenn ein Schuss die Ruhe stört, soll er sitzen. Es geht ums Sterben, nicht ums Leiden.

Drei Tage zuvor. Karolin Herrmann bittet in eine verschachtelte Wohnung am Rand eines Dorfs im Osterzgebirge. Trübes Licht scheint durch das Fenster, Wolken haben die Mittagssonne verdeckt. Schlechte Bedingungen für die Jagd, bei klarem Himmel kommen Tiere eher raus. Vielleicht, sagt Herrmann, könne es bis zum Nachmittag ja noch werden. Ihre Stimme klingt höher und freundlicher, als man es im Durchschnitt von Menschen kennt, viele Worte begleitet ein Lachen.

Ihr Hobby zieht sich durch die ganze Wohnung. Ein Hirschmotiv ziert die Fußmatte, ein Geäst aus Geweihen die Wohnzimmerwand. Herrmann hat bislang vier Tiere geschossen: Reh, Widder, Hirschkuh und Fuchs. Die meisten Geweihe an der Wand stammen von Wild, das ihr Freund erlegt hat, einige haben sie gefunden. Während der Brunft brauchen Hirsche sie zum Imponieren und Kämpfen, wenn der Trubel vorbei ist, werfen sie die Geweihe ab.

Hobbys, die mit Waffen zu tun haben, sind meist Männerdomänen. 
Hobbys, die mit Waffen zu tun haben, sind meist Männerdomänen.  © kairospress

Der langjährige Freund von Karolin Herrmann kommt aus einer Jägerfamilie, wuchs damit auf. Seinen Jagdschein machte der Polizist vor fünf Jahren, Herrmann legte die Prüfung erst im September ab. „Ich habe lange gezweifelt, ob ich ein Tier schießen kann“, sagt sie.

Eine halbwüchsige Katze mit grauem Puschelhaar schlängelt sich um ihre Waden, zwei weitere thronen auf dem Küchenschrank. Das Paar umgibt sich gern mit Tieren, auch mit lebendigen. Als Herrmann ihren Freund das erste Mal zur Jagd begleitet hat, tauchten ein Fuchs, ein Hase und Rehe auf. „Ich fand es total aufregend. Es war faszinierend, wie sie sich verhalten haben.“ Stadtmenschen seien beide nicht. 

Der Schlüsselmoment

Für ihre Ausbildung zur Erzieherin fährt Herrmann mehrmals die Woche nach Dresden, als Polizist ist ihr Freund ständig in Großstädten. Die einstige Wohnung in Dresden-Heidenau haben die beiden trotzdem aufgegeben, zu eng sei es gewesen.

Von Ruhe, Stille, der Begeisterung für Tiere und Natur spricht Herrmann, wenn es ums Jagen geht. An Schüsse und Waffen, Blut, vielleicht an Gedärme denken andere. „Ich war früher auch kritisch eingestellt“, sagt Herrmann. „Dass jemand rausgeht und tötet, fand ich befremdlich.“ Als sie das erste Mal dabei ist, fällt noch kein Schuss.

Etwas später kommt sie wieder mit, ein Reh humpelt aus dem Wald. „Als ich gesehen habe, wie es leidet und wir es erlösen, war das ein Schlüsselmoment. Ich habe gesehen, dass Jäger auch was Gutes tun. Mir sind Tränen gekommen, weil es mich so gerührt hat, ein Tier sterben zu sehen.“

Karolin Herrmann auf dem Hochsitz im Osterzgebirge. 
Karolin Herrmann auf dem Hochsitz im Osterzgebirge.  © kairospress

Vor dem toten Reh halten sie inne, Herrmann streichelt es. Dann geben sie ihm „den letzten Bissen“, wie man im Jagdjargon sagt: einen Tannenzweig. Es folgt der blutige Teil, man schlitzt das Tier auf, entnimmt die Gedärme, vergräbt sie. „Sie liegen zu lassen, wäre kein schönes Bild.“

Bilder, die Blut zeigen, veröffentlicht Herrmann nie, dabei dreht sich ihr Instagramkanal rund um die Jagd. Meist zeigen ihre Bilder sie selbst, den Wald oder lebendige Tiere. Badende Wildschweine, wachsame Hirsche, findige Füchse. Wenn ein Tier gestorben ist, fotografiert sie nur Ausschnitte. Ein Bild zeigt einen Zweig und die mattgoldene Patronenhülse auf rostrotem Fell. Es ist der Fuchs, den Herrmann schoss. „Das Tier soll würdevoll in Erinnerung bleiben.“

Einige Jäger handhaben das anders, posieren triumphierend über totem Wild: „Finde ich nicht gut.“ Das Triumph-Gebaren über Tiere, es mag an steinzeitliche Männer-Aufgaben erinnern. Hobbys, die mit Waffen zu tun haben, sind meist Männerdomänen. Allein die Sprachcodes verraten viel. „Man sagt Waidmannsheil, nicht Waidfraus- oder -menschsheil“, sagt Herrmann. 

Das Umweltministerium in Sachsen führt den Frauenanteil überhaupt erst seit 2009 auf. Damals waren fünf Prozent der Jagdscheininhaber weiblich, zuletzt sieben. Die Gesamtzahl der Sachsen mit Jagdschein ist von 1995 bis 2018 um drei Viertel gewachsen: von 7.200 auf 12.500. In Herrmanns Jagdklasse habe sich bemerkbar gemacht, dass heute mehr Frauen jagen wollen.

Herrmann macht in Dresden eine Ausbildung zur Erzieherin.
Herrmann macht in Dresden eine Ausbildung zur Erzieherin. © kairospress

Der „Schlüsselmoment“, in dem sie sich für den Jagdschein entschieden hat, ereignet sich bei einer Drückjagd Ende 2018. Ihr Freund ist als Jäger dabei, sie hilft als Treiberin, Tiere aufzuscheuchen. Hinterher sitzt die Runde zusammen, jemand fragt, ob sie die Jagdhelferin ihres Freundes sei. „Ich dachte mir: Eigentlich will ich es selbst können.“ Im Folgejahr meldet sie sich auf der Jagdschule an. 

Um Wildarten, deren Krankheiten und um Waffenkunde geht es, um Naturschutzgebiete, Wald- und Landbau, Hundewesen. Die Prüfung legen Absolventen schriftlich, mündlich und mit der Waffe ab. Nach drei Monaten hat Herrmann ihr „grünes Abitur“. Beim ersten Mal auf dem Hochstand zögert sie zu lange, das Tier ist weg. „Als ich zum ersten Mal ein Reh geschossen habe, hab ich sehr gehofft, dass die Ricke zwei Kitze dabei hat, damit sie eins behalten kann. So war es dann auch.“ Wer sich an ethische Grundsätze hält, schieße keine Wildmütter – ohne sie haben Kinder keine Chance, zu überleben.

Rotwild ist das Jagdziel

Die Sonne schwimmt noch immer ohne Konturen in einem Himmel, der wie warme Milch aussieht. Versuchen wollen Herrmann und ihr Freund Robert es trotzdem. Er tippt Zahlenkombinationen in die Schränke für Munition und Waffen, das Paar hüllt sich in waldfarbene Schichten und Stiefel. Wer sich nicht bewegt, sondern stundenlang sitzt, spürt, wie kalt der Winter wirklich ist. Proviant nimmt das Paar nicht mit, Klogänge würden zu viel Unruhe verursachen.

Der Geländewagen parkt am Rand eines Ackers, möglichst leise marschieren die beiden in Richtung Wald. „Ab jetzt müssen wir flüstern“, sagt Herrmann. Das Paar trennt sich auf, jeder klettert auf einen eigenen Stand. Aus der Kanzel eröffnen drei Luken den Blick ins Freie. Schneebrocken rahmen die Ränder des Walds, Eiskristalle wirbeln über eine hügelige Wiese. Wo genau sich das Revier im Osterzgebirge befindet, soll nach Bitte des Pächters nicht veröffentlicht werden.

© kairospress

Rotwild ist das Jagdziel. Das Kontingent der meisten anderen Arten hat Herrmann als Gastjägerin schon aufgebraucht. Doch kleine Wermutstropfen begleiten für sie die Jagd von jeder Wildart. Rotwild etwa verhält sich besonders sozial, die Mütter suchen noch eine Weile nach verstorbenen Kindern. Sozial sind auch Wildschweine, zumindest weibliche. Sie leben in Familienverbänden mit Schwestern und Kindern.

Füchse werden im Gegensatz zu anderen Wildarten nicht gegessen. „Damit er nicht umsonst gestorben ist, habe ich meinen zur Gerberei gebracht“, sagt Herrmann. Die verarbeitet das Fell weiter. Warum jagt man Füchse überhaupt? „Wir haben in der Gegend kaum mehr Fasane oder Birkhühner. Füchse fressen sie. Als Jäger will man einen artenreichen, gesunden Wildbestand fördern.“

"Ich bin keine Bambi-Mörderin"

Kälte durchdringt die Hochsitz-Kanzel, der Nebel verdichtet sich zu einer grauen Masse. Tiere haben sich noch nicht raus gewagt. Die Stunden ziehen vorüber, der Schlüssel zum Jagderfolg sind Geduld und Stille. Wie bei der Meditation, nur kälter und rauer. Das Bild des mordlüsternen Jägers, der durch die Landschaft marodiert, trifft Karolin Herrmann. Der menschgewordene Fleischwolf, der ganze Wälder frikassiert – so sei es nicht. „Das Vorurteil ist oft, dass man rausgeht, alles umknallt und sich freut“, sagt sie. „Das macht die Jagd aber nicht aus. Ich bin keine Bambi-Mörderin.“

Als Jägerin wolle man ausgleichen. „Deutschland ist eine zerklüftete Kulturlandschaft. Ohne Jäger wie Wolf oder Luchs werden Rehe und Hirsche immer mehr, das tut nicht gut. Sie leben auf kleinem Raum, das ist Stress für Tiere und Bäume.“ Kritiker entgegnen, dass Bestände durch die Jagd nicht kleiner würden. Auch wegen der Nahrung, die einige Jäger auslegen, und, weil manche Arten sich unter Stress besonders häufig vermehren.

 Gleichzeitig spart die öffentliche Hand viel Geld durch die Arbeit, die private Jägerinnen und Jäger in den Naturschutz stecken. Nicht nur im Wald: Bevor Bauern Maisfelder mähen, suchen Jäger diese mit Drohnen ab, damit die Mähdrescher keine Kitze schreddern.

Viel Unverständnis für ihr Hobby

Meist ist der Fleischvorrat von Herrmann und ihrem Freund aufgebraucht oder sie hat Bestellungen, bevor sie jagen geht. „Ich esse so gut wie nur Fleisch, das ich selbst gejagt habe.“ Tiere zu schlachten, kennt sie aus der Kindheit, als ihr Vater Kaninchen erlegte. „Befremdlich war es anfangs schon. Aber ab dem Zeitpunkt, wo es ein paar Tage gehangen hat und gehäutet ist, sieht man eher das Lebensmittel.“ Im Laden, wo es Hackfleisch gibt, würde nichts mehr an das Tier erinnern. „Die Leute machen es sich leichter, befassen sich erst gar nicht mit dem Leid.“

In Zeiten, da immer mehr Menschen vegetarisch oder vegan leben, gebe es viel Unverständnis für ihr Hobby, sagt Herrmann. Auch ein Teil ihres Freundeskreises reagierte skeptisch auf die Nachricht, dass sie Jägerin werde. Viele Freunde teilen ihr Hobby aber auch. Mit ihnen verabredet sie sich auf Hochsitzen, vor dem Frühling gehen sie gruppenweise durch die Wälder und sammeln Müll. Herrmann zeigt Fotos eines ganzen Lastwagen-Aufsatzes, der nach einem Streifzug voll geworden ist.

© kairospress

Als der Himmel die Schwelle zum Marineblau überschritten hat, beschließen Herrmann und ihr Freund per SMS, den Jagdzug abzubrechen. Sie klettert vom Sitz, er wartet unten. „Da sind welche“, wispert er und lugt durch ein Fernglas. Eine Gruppe von Hirschen hat sich aus dem Wald gewagt. Herrmann lacht leise, aber aufgeregt. Wird jetzt geschossen? „Nein“, flüstern die beiden. „Es ist zu dunkel, am Ende treffen wir sie nicht richtig. Gehen wir möglichst leise weg, sonst stören wir sie nur.“

Drei Tage vergehen, ehe Karolin Herrmann es wieder versucht. Eine andere Wiese mit besserem Wetter. Kahle Bäume strecken ihre knöchernen Äste übereinander aus, die Kälte hat den Bach erstarren lassen. Die stählernen Stufen des Hochsitzes sind so kalt, dass Hände drohen, festzukleben. Wieder vergehen Stunden, in denen Herrmann still in die Ferne blickt. Die Sonne wandert über den Horizont, als zwei Hasen über die gefrorenen Halme hoppeln. „Sind die nicht niedlich?“, fragt Karolin Herrmann und kichert leise.

Knopfaugen, die ins Leere starren

Manchmal hinterfrage sie, ob es richtig ist, was sie tut. „Ich finde nicht, dass der Mensch vom Tier nehmen darf, was er will. Aber immerhin hatten diese Tiere ein schönes Leben, nicht wie Schweine in der Zucht.“ Die Dämmerung taucht die Wiese in Taubenblau, als Herrmann in der Ferne Bewegung ausmacht. Das Fernglas, der Blick, das Flüstern: „Da ist Wild.“ Wenn man schießt, sagt sie, werde einem warm, man reagiere schneller. Aufregung, Adrenalin. Den Kick brauche sie nicht, es mischen sich andere Gefühle. „Ich freu mich, aber bin auch traurig, wenn ich ein Tier erlegt habe. Ich habe was zu Essen, aber habe dem Wesen sein Leben genommen.“

Herrmann kneift die Wimpern am Glas noch enger zusammen. Was sieht sie? Kein Rotwild. Es ist eine Rehmutter mit Kitz. Die hat sie diese Saison schon geschossen, außerdem tötet sie Rehe ungern. Die Knopfaugen, die ins Leere starren, seien zu traurig. Das war es vorerst, die nächsten Monate hat Rotwild Schonzeit. „So ist das nun mal, manchmal geht man zehn Mal raus, ohne zu schießen.“ Das Töten sei für sie eben nicht das Wichtigste an der Jagd, sagt Karolin Herrmann. Sondern das Sehen.