Zu Anfang war Andreas Roloff ganz fröhlich. Er hatte zwar nicht dafür gestimmt, die Moorbirke zum Baum des Jahres 2023 zu küren, hielt es aber doch für eine gute Idee, um auf die kritische Lage der Moore hinzuweisen. Dann zog er los, um schöne Exemplare zu suchen und abzulichten, für seine Forschungen, Vorträge und Bücher. Nur fand er keine. Selbst im Georgenfelder Hochmoor, der vermeintlich sicheren Bank: nur fünf Moorbirken. "Das war ein Schock!"
Fast zweitausend Bäume kontrolliert
Andreas Roloff, Seniorprofessor für Baumbiologie in Tharandt, seit vielen Jahren Mitglied der Fachjury, die Deutschlands Jahresbäume ausruft, hat einen Verdacht: Die Moorbirke, bislang keineswegs als vom Aussterben bedroht eingeschätzt, hat sich unbemerkt davongemacht. Sie sei "ein dramatisch seltener Baum" geworden, sagt er, "bis hin zum völligen Verschwinden von vielen Moor- und nassen Standorten."
Diese These äußert Roloff nicht leichtfertig. Beinahe zweitausend Birken hat er vorigen Sommer kontrolliert, vor allem in den Mooren Sachsens, aber auch in denen anderer Bundesländer. "Ein ganz schön nasser Job." Die allermeisten Moorbirken, 97 Prozent, hätten sich bei genauerem Hinschauen als Sandbirken erwiesen. "Das ist, dezent ausgedrückt, ziemlich irritierend."
Vorsicht: Verwechslungsgefahr!
Für den Normalbürger ist Birke gleich Birke. Tatsächlich sehen sich Moor- und Sandbirke, die als einzige heimische Birkenarten Baumformat erreichen, zum Verwechseln ähnlich. Allerdings nicht, wenn man weiß, worauf man achten muss, sagt Baumkenner Roloff. "Dann ist das Thema schnell erledigt."
Um das vorzuführen, muss der Professor nur einige Schritte in den Tharandter Forstbotanischen Garten gehen. Die Gehölzsammlung verfügt über 54 Birkenarten. Von der Moorbirke gibt es allerdings nur fünf Bäume. Immerhin einen, den Roloff für "ganz ansehnlich" hält, ansehnlich genug, um in Kürze die Erklärtafel für den aktuellen Jahresbaum darunter aufzustellen.
Eine unscheinbare Rarität
Ohne Schild würden die Leute wohl glatt vorbeirennen an der Rarität. Immerhin fast zwanzig Meter hoch und mit etwa 60 Jahren schon beachtlich alt für eine Birke, ist sie kein Blickfang. Ein grauer Schatten liegt über dem sonst typischen Weiß der Rinde. Die Äste spießen eigenwillig und fast waagrecht vom Stamm ab und bleiben auch am Ende gerade, ohne mähnenartig überzuhängen, wie man es eigentlich von Birken kennt.
Die sperrige, abgetönte Optik ist ein Indiz. Doch es braucht mehr, um eine Moorbirke zu identifizieren. Die Blätter zum Beispiel. Moorbirkenblätter sehen rundlich bis eiförmig aus und haben kleine, gleichförmig angeordnete Zähne. Sandbirkenblätter sind eher dreieckig oder rautenartig geschnitten. Der Blattrand hat große Zähne mit vielen kleineren dazwischen.
Roloff sucht den Boden ab. Er findet Blätter, auf die mal die eine, mal die andere Beschreibungen passt. Das Laub der Nachbarn ist untergemischt, die Zuordnung unklar. Für den Professor ist ohnehin nicht das Blatt, sondern die Oberfläche der jüngsten Triebe der sicherste Beweis. Moorbirken haben dort einen feinen Flaum aus Härchen, der bei der Sandbirke fehlt. Sandbirkentriebe besitzen dagegen warzenartige Harz-Drüsen. Sie fühlen sich rau und manchmal klebrig an.
So hält der Baumfreund eines der Ästchen ganz nah vor die Augen und lässt es über die Schulter hinweg von der Sonne bescheinen. Keine Warzen da, aber Härchen. Eine dünne, weißliche Linie, gegen den schattigen Hang gut zu erkennen. Und zu spüren, sagt Roloff, "wenn man einfühlsam ist."
Zwei Pioniere erobern die Ödnis
Was nicht zu bezweifeln war, ist erneut erwiesen: Dieser Baum ist eine Moorbirke. Warum steht er nicht im Moor? Der Name heißt nicht viel. Die Moorbirke mag es zwar nass und sauer, kommt aber auch an den meisten anderen Standorten zurecht, selbst in der Stadt, als Alleebaum, solange es keinen Schatten gibt. Genau wie die Sandbirke. Beide Birken sind Pioniere, gemacht zum Erobern der Ödnis.
Die Sandbirke hat dabei die größere Potenz. Im Wasser aber hält es die Moorbirke besser aus. Deshalb sind die Feuchtgebiete ihre Nische, wo sie langfristig überlebt. Nur gibt es solche Gebiete in Deutschland kaum noch. Sachsen ist ohnehin arm an Mooren. Fünf Prozent der Landesfläche sind als Moorkomplexe erfasst. Menschlich beeinflusst sind praktisch alle diese Areale.
Wassermangel im Moor lockt Sandbirke an
Wechseln die Wasserstände im Untergrund, etwa durch Menschenhand, reagieren die Moorbirken allergisch. Ihr Wurzelsystem kann sich nur schwer anpassen. Sie sterben ab. In die trockener gewordenen Lücken stoßen andere hinein, vor allem die Sandbirke. Und wo eine Birke ist, kommt eine andere, wegen ihres extremen Lichtbedarfs, kaum noch hoch.
Aus seinen Beobachtungen schließt Andreas Roloff, dass die Sandbirke viel weiter ins Nasse hinein wachsen kann, als bisher angenommen. Sollten die Moore infolge des Klimawandels künftig trockener werden, könnte die Verdrängung der Moorbirke selbst noch intakte Feuchtgebiete treffen. Er sieht erheblichen Forschungs- und Klärungsbedarf. "Es muss was in Bewegung kommen."
Moorbirken finden Zuflucht auf Felsriffen
Der Professor hat einen Aufruf gestartet, ihm sichere, aktuell noch einmal überprüfte Moorbirken-Bestände zu melden. Der Erfolg war bisher mau. Meist wieder nur Sandbirken. Diesen Sommer will Roloff die Sächsische Schweiz durchkämmen, wo etliche Vorkommen der Moorbirke aktenkundig sind.
Ronny Goldberg, Referent für Arten- und Biotopschutz bei der Nationalparkverwaltung, ist jetzt schon überzeugt: Eine Stunde Fußmarsch von Bad Schandau, am oberen Ende der Heiligen Stiege, dem Aufstieg zum Winterbergmassiv, steht er vor einer waschechten Moorbirke. Auf dem Weg hierher hat er mehre Birken angeschaut, und mehrmals gezweifelt. "Es gibt wenige Bäume, wo ich meine Hand ins Feuer legen würde", sagt er.
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Erst 2018 hat der Nationalpark eine über 700-seitige Inventur der Pflanzen der Sächsischen Schweiz vorgelegt. Darin wird die Moorbirke als regelmäßig und weit im Sandsteingebiet verbreitet beschrieben. Schwerpunkte liegen demzufolge im Winterberggebiet, am Großen Zschirnstein, am Kuhstall und bei Struppen. Andreas Roloff ist gespannt, ob er dort fündig wird. "Ich glaube es erst, wenn ich es sehe."