Leben und Stil
Merken

AOK um 73 Millionen Euro betrogen

Korruption, Manipulation, gefälschte Abrechnungen: In welchen Bereichen die Kasse am häufigsten hintergangen wird und wie sie sich wehrt, zeigt ein aktueller Bericht.

Von Stephanie Wesely
 5 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Bei Kassenbetrug gibt es keine Nachsicht, weil das Geld zur Versorgung der Kranken fehlt.
Bei Kassenbetrug gibt es keine Nachsicht, weil das Geld zur Versorgung der Kranken fehlt. © dpa

Der Fall beschäftigt die Ermittlungsbehörden schon seit 2019: Organisierte Kriminelle bei 13 Pflegediensten rechneten bei Kranken- und Pflegekassen Leistungen im großen Stil ab, die weder erbracht worden noch medizinisch notwendig waren. Kein Einzelfall, wie der aktuelle Fehlverhaltensbericht der AOK zeigt, der am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde.

Um etwa neun Millionen Euro hätten diese Pflegedienste die Kassen und Sozialhilfeträger betrogen. Laut AOK-Bericht wurden Angehörige der Pflegebedürftigen mit Geld gelockt und die Pflegekräfte unter Druck gesetzt, damit sie mitmachten. Gegen zahlreiche Beteiligte ist zwar noch keine Anklage erhoben worden, da die Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden noch nicht abgeschlossen sind, doch konnten etwa sechs Millionen Euro an die Geschädigten zurückfließen. Laut Urteil beträgt der finanzielle Schaden über drei Millionen Euro.

Die meisten Vergehen in der Pflege

Im Bereich der Pflege und der häuslichen Krankenpflege wurde besonders häufig betrogen. 1.943 Fälle sind hier aufgedeckt worden. Aufgrund falsch und betrügerisch abgerechneter Leistungen konnten allein in diesem Bereich 11,25 Millionen Euro für die Versichertengemeinschaft gesichert werden, sagt AOK-Sprecher Kai Behrens. Auch im Zusammenhang mit Medikamenten wurden viele Fälle aufgedeckt – einer auch durch die AOK Plus, die für Sachsen und Thüringen zuständig ist. Sie hat Anzeige gegen einen Inhaber einer Apotheke in Chemnitz erstattet, der im Verdacht steht, Krebsmedikamente nicht vorschriftsmäßig hergestellt zu haben. „Eine Durchsuchung der Räume im Oktober 2021 ergab, dass sichergestellte Krebsmedikamente und andere Arzneimittel entweder gar keinen, zu wenig oder zu viel Wirkstoff enthielten“, sagt AOK-Plus-Sprecherin Hannelore Strobel. Damit machte der Apotheker große Gewinne. „Zwischen 2019 und 2021 wurden für die betroffenen Rezepturen Umsätze in Höhe eines einstelligen Millionenbetrages abgerechnet. Der Schaden ist noch nicht genau beziffert, die Ermittlungen dauern an.“

Drogen auf Rezept

Doch auch Versicherte betrügen die Kasse. So betrieb ein Mann regelrechtes Ärzte-Hopping, um an Beruhigungsmittel in hohen Dosen zu kommen, das in der örtlichen Drogenszene gefragt ist. Zwischen Oktober 2017 und Januar 2020 suchte er 24 kassenärztliche Praxen dafür auf. Der Schaden für die Krankenkasse lag bei rund 7.000 Euro. Der Versicherte wurde zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten auf Bewährung verurteilt. Die Einziehung der Schadenssumme sei angeordnet worden, so der Bericht.

Teststreifen weiterverkauft

Auch mit Teststreifen werden immer wieder illegale Geschäfte gemacht. Sie dienen der Blutzuckermessung oder zur Feststellung des Gerinnungswertes. Und es gibt sie nicht in unbegrenzter Anzahl auf Kassenkosten. So fiel bei einer Apothekenabrechnungsprüfung auf, dass einem Dialysepatienten zum Teil am gleichen Tag mehrfach Teststreifen von verschiedenen Arztpraxen verordnet wurden. In einem Jahr habe er mehr als 2.000 davon zur Verfügung gehabt, obwohl er sich nur einmal wöchentlich testen musste. Er hat die Streifen online weiterverkauft. Der Schaden für die Kasse betrug knapp 11.000 Euro, die der Versicherte nun zurückzahlen muss. Er wurde außerdem zu zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt.

Kassen holten sich 35,4 Millionen Euro zurück

Durch solche Fälle von Korruption, Abrechnungsbetrug und Abrechnungsmanipulationen sind dem Gesundheitswesen trotz des Rückgangs von Operationen und Behandlungen in der Pandemie 2020 und 2021 große Schäden entstanden. Allein die elf AOKs ermittelten in diesem Zeitraum ein Betrugsvolumen von rund 73 Millionen Euro. Die Dunkelziffer übersteigt diesen Betrag vermutlich um ein Vielfaches. Knapp die Hälfte davon – 35,4 Millionen Euro – fordert sie durch Urteile, Vergleiche, gerichtliche und/oder außergerichtliche Einigungen nun von den Betrügern zurück. Das sind 1,6 Millionen Euro weniger als im Vorberichtszeitraum 2018/2019.

Mehre Hundert Hinweise in Sachsen

„Während der Corona-Pandemie haben sich für die Fehlverhaltensbekämpfung ganz neue Herausforderungen ergeben“, sagt AOK-Bundesverbands-Chefin Carola Reimann. Verfahren hätten länger gedauert, die Aufklärung von Sachverhalten habe sich verzögert. Teilweise konnten gerichtlich angeordnete Durchsuchungsbeschlüsse oder Vor-Ort-Prüfungen des Medizinischen Dienstes nicht umgesetzt werden. „Wir müssen hier schnell wieder den Vor-Corona-Stand erreichen“, fordert Reimann.

In Sachsen und Thüringen sei die AOK Plus in den Jahren 2020 und 2021 mehr als 1.000 Hinweisen nachgegangen. „Knapp drei Millionen Euro Beitragsgelder konnten wir für unsere Versicherten zurückholen“, sagt Kassensprecherin Hannelore Strobel. Krankenkassen prüften regelmäßig, ob Abrechnungen korrekt sind. Wenn es aber um strafrechtliche Relevanz gehe, würden Experten aktiv. „Jede Krankenkasse muss eine solche Stelle zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen haben“, sagt sie. In der AOK Plus bestehe dieses Team aus acht Mitarbeitern.

Geld fehlt für die Versicherten

Insgesamt wurden im Berichtszeitraum von allen AOKs 13.662 Fälle verfolgt. 7.400 davon waren neu, der Rest Bestandsfälle. 7.432 Fälle konnten abgeschlossen werden.

„Das betrügerische Verhalten Einzelner belastet die Beitragszahlenden und fügt der Solidargemeinschaft erheblichen finanziellen Schaden zu. Dieses Geld steht dann nicht mehr für die Versorgung kranker und pflegebedürftiger Menschen zur Verfügung“, sagt Susanne Wagenmann, Vorsitzende des Aufsichtsrats des AOK-Bundesverbandes für die Arbeitgeberseite. In diesen für die Kranken- und Pflegekassen finanziell herausfordernden Zeiten sei es daher wichtiger denn je, die Fehlverhaltensbekämpfung zu stärken. Die Kranken- und Pflegekassen haben dafür sogar einen gesetzlichen Auftrag.

Doch der Verdacht endet in vielen Fällen nicht an Landesgrenzen. Deshalb arbeiten die Fehlverhaltensstellen der elf AOKs untereinander, aber auch mit anderen Kassenarten und dem GKV-Spitzenverband eng zusammen, sagt Knut Lambertin, Vorsitzender des Aufsichtsrats des AOK-Bundesverbandes für die Versichertenseite.

Eigene Ermittlungsbehörden notwendig

Für eine effiziente Fehlverhaltensbekämpfung seien jedoch auch entsprechend ausgestattete Ermittlungsbehörden notwendig, die es in Deutschland bisher nicht flächendeckend gibt. Daher sollten in allen Bundesländern spezielle Schwerpunktstaatsanwaltschaften eingeführt werden, die sich mit landesweiter Zuständigkeit ausschließlich mit Wirtschaftskriminalität im Gesundheitswesen befassen, fordert Carola Reimann.

Dennoch seien solch kriminelle Handlungen Einzelfälle. „Mit der großen Mehrheit der Leistungserbringer arbeiten wir gut zusammen. Sie rechnen ihre Leistungen auch korrekt ab“, sagt Hannelore Strobel. „Doch wir gehen den Hinweisen konsequent nach, um sicherzustellen, dass Beitragsgelder nicht zweckentfremdet werden.“