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Richter am Amtsgericht Meißen: Verkauf falscher Atteste war schon vor Corona strafbar

Richter Andreas Ball verhandelt gegen Patienten einer Moritzburger Ärztin, die falsche Gesundheitszeugnisse ausstellte. Im Interview spricht er über die Belastung am Gericht und die Motive der Täter.

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Seit Oktober 2021 ist der Amtsrichter in Meißen tätig. Andreas Ball urteilt in etwa 200 Verhandlungen pro Jahr. Nun kümmert sich der 52-Jährige um 70 weitere Fälle wegen der Moritzburger Ärztin Bianca W.
Seit Oktober 2021 ist der Amtsrichter in Meißen tätig. Andreas Ball urteilt in etwa 200 Verhandlungen pro Jahr. Nun kümmert sich der 52-Jährige um 70 weitere Fälle wegen der Moritzburger Ärztin Bianca W. © Claudia Hübschmann

Herr Ball, Sie verhandeln seit einem halben Jahr die Verfahren gegen Patienten der Moritzburger Ärztin Bianca W. wegen des Anstiftens zur Ausstellung von falschen Gesundheitszeugnissen. Um wie viele Verfahren geht es?

Also es sind etwa 70 Verfahren. In allen geht es nur um einen Ort: Neustadt-Glewe in Mecklenburg-Vorpommern. Dort soll Bianca W. falsche Gesundheitszeugnisse verkauft haben. Nach meinem Kenntnisstand gibt es aber noch mehr Orte, wo die Ärztin tätig war. Um wie viele Verfahren es da insgesamt geht, das kann ich auch noch nicht abschätzen.

Laut Anklage soll die 66-Jährige in den Jahren 2021 und Anfang 2022 bei vier Sammelterminen ohne Behandlung mehr als 1.000 Corona-Atteste ausgestellt haben. Das heißt ja im Umkehrschluss, dass Sie diese Fälle möglicherweise am Amtsgericht Meißen noch verhandeln.

Bianca W. hat die Atteste in ihrer Praxis in Moritzburg ausgestellt und sie erst danach in ganz Deutschland verteilt. Deshalb ist der Tatort in Moritzburg und deshalb ist grundsätzlich zunächst das Amtsgericht Meißen zuständig.

Sie sind unter anderem auch als Jugendrichter am Amtsgericht tätig. Bedeutet das, dass Sie wegen der Moritzburger Ärztin für andere Verhandlungen weniger Zeit haben?

Natürlich ist es eine zusätzliche Belastung. 70 Fälle zu einem Thema sind relativ viel. Das ist eher selten.

Wie anstrengend sind denn die Verfahren für Sie oder ist das Berufsalltag?

Ich würde gern die Verfahren hintereinander verhandeln, damit allein die Zeugen nicht jedes Mal herkommen müssen. Das mache ich aber nie. Maximal drei gleich gelagerte Verfahren am Tag führe ich, sonst ist es schwer, den Einzelfall zu beurteilen. Wenn Sie immer wieder Ähnliches hören, werfen Sie schnell alles in einen Topf. Insgesamt ist es aber eher Berufsalltag.

Wie ich am Gericht schon selbst mitbekommen habe, verlaufen die Verhandlungen ähnlich. Wie vermeiden Sie es, nicht nach Schema F zu verfahren?

In gewisser Weise muss ich mich jedes Mal neu hineindenken, trotzdem kenne ich den Gesamtzusammenhang. Das heißt, die Zeugen erzählen das Gleiche und dadurch habe ich einen Kenntnisvorsprung. Deshalb muss ich aufpassen, dass es für einen Fall immer nur um das geht, was in einer Verhandlung besprochen wird. Das ist nicht immer leicht und ob ich mich immer ganz freimachen kann? Das hoffe ich.

Warum müssen die Menschen überhaupt Strafen befürchten, sie haben doch keine Gesundheitszeugnisse selbst ausgestellt?

Genauso haben sich die Menschen oft am Gericht eingelassen: "Die Ärztin hat mich doch untersucht und mir das Gesundheitszeugnis förmlich aufgedreht." Das taucht in jedem Prozess auf und muss einzeln beantwortet werden. Aber die Verurteilten sind natürlich bewusst zur Moritzburger Ärztin gegangen, um ein Attest zu bekommen, für eine Masken-, Test- oder Impfbefreiung. Sie wollten sich einen Vorteil verschaffen, den sie bei ihrem Hausarzt, bei einem Arzt, den die Krankenkasse bezahlt hätte, nie bekommen hätten.

Da ärztliche Bescheinigungen einem besonderen Schutz unterliegen, ist das Ausstellen falscher Gesundheitszeugnisse schon immer eine Straftat gewesen. Das ist nichts Neues und hat auch nichts mit Corona zu tun. Wenn ich zu dem Arzt gehe und sage, ich möchte hier ein falsches Zeugnis, ist das eine Anstiftung zur Ausstellung eines falschen Gesundheitszeugnisses.

Wie glaubwürdig schätzen Sie das Argument ein, "die Ärztin hat mich doch untersucht"?

Es haben in allen Fällen einige Punkte dagegen gesprochen. Die Angeklagten vereinbarten Termine über eine Heilpraktikerin mit der Moritzburger Ärztin, die sie nicht kannten, die viele 100 Kilometer weit weg wohnte und die sie maximal zwei Minuten zu Gesicht bekommen hat. Dort von Untersuchung zu sprechen, das ist zweifelhaft, und sie bezahlten brav das Attest mit Bargeld, ohne Krankenkasse und ohne Quittung. Das sind für mich Punkte, die nicht zu einer normalen Untersuchung gehören.

Genauso wenig das Untersuchungsgerät: ein Magnetresonanzanalysator. Ein angeblich medizinisches Gerät, das sich aber jeder im Internet kaufen kann. Die Mehrheit der Angeklagten muss das doch als Quatsch wahrgenommen haben.

Also es gibt einige, denen das komisch vorkam und die Zweifel hatten. Andere vertrauten der Ärztin blind, ohne unbedingt davon überzeugt gewesen zu sein. Ein Magnetresonanzanalysator wird so bedient: Man fasst einen Stab für eine Minute oder zwei Minuten an und dann gibt das Gerät Hunderte von Daten aus, die angeblich über den Gesundheitsstatus des Patienten Auskunft geben sollen. Wenn man rein logisch darüber nachdenkt, selbst ohne medizinischen Sachverstand, kann das gar nicht sein. Also spätestens da weiß man, wenn man ehrlich zu sich selbst ist, dass das keine vernünftige Untersuchung gewesen sein kann.

Wie lange wurden die Patienten untersucht?

Die Ärztin hat um neun Uhr an dem Tag angefangen und bis 18 Uhr gearbeitet. Es waren 162 Patienten an dem Tag im Januar 2022 anwesend.

Gibt es denn Angeklagte, die ihre Straftat sofort gestanden?

Die Hälfte der Verfahren ist schriftlich durchgegangen. Das heißt, die Leute, die keinen Einspruch eingelegt haben, mussten nicht zur Verhandlung. Die haben es für sich akzeptiert, dass sie eine Straftat begangen haben. Und die, die Einspruch eingelegt haben, akzeptierten es teilweise in der Verhandlung. Sie hatten vielleicht die Hoffnung, dass es nie auffällt, dass es viele machen, was ja in der Corona-Zeit auch tatsächlich so war. Vielleicht dachten sie, dass es keine Straftat, sondern nur eine Mogelei ist.

Viele Verfahren wurden auch schon im Vorfeld gegen Geldauflage eingestellt, weil sich die Angeklagten geständig eingelassen haben. Wie kann das sein?

Es geht immer auch um die Rechtssicherheit. Und soweit ist es doch sinnvoll, in einem politisch sensiblen Bereich, den Angeklagten mitzunehmen und nicht auf Teufel komm raus ein Verfahren durchzuziehen. Am Ende ist es ja doch eine Geldauflage, die auch weh tut, sodass auch insoweit eine gewisse Befriedung eintritt. Das sind keine Schwerkriminellen, ihre Taten liegen im unteren Bereich und nahezu keiner ist vorbestraft. Wenn wir jetzt die Geldstrafe der einzelnen Taten bemessen, sind wir bei 15 bis 20 Tagessätzen. Wenn Sie ein Einkommen von 1.500 Euro haben, sind Sie bei 750 bis 1000 Euro. Wenn wir das Verfahren einstellen, bewegt sich die Geldstrafe auch in diesem Bereich. Wir verzichten auf die förmliche Verurteilung, haben im Gegenzug aber einen Rechtsfrieden.

Verändert sich denn etwas für Ihre Verhandlungen, wenn die Moritzburger Ärztin verurteilt werden würde?

Es gab in den Verhandlungen in Meißen immer wieder mal die Anregung, sie als Zeugin zu berufen. Sie würde als Zeugin aber von ihrem Schweigerecht Gebrauch machen, deshalb ist ihre Vernehmung ausgeschlossen. Wenn sie rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen würde, sähe das anders aus. Wenn jemand darauf besteht, sie zu vernehmen, würde man das wohl machen müssen.

  • Das Gespräch führte Martin Skurt.