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Mahnwache für Moritzburger Ärztin wird zur Wahlkampfveranstaltung der Freien Sachsen

Seit einem Jahr sitzt Bianca W. hinter Gittern. Sie soll in mehr als 1.000 Fällen falsche Gesundheitszeugnisse ausgestellt haben. Ihre Unterstützer erklären sie zur politischen Gefangenen und machen vor allem eines: Wahlkampf.

Von Ines Mallek-Klein
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Mehr als hundert Menschen zogen am Mittwochabend durch Moritzburg. Sie fordern die Freilassung von Bianca W. Der Medizinerin wird vorgeworfen, falsche Gesundheitszeugnisse ausgestellt zu haben.
Mehr als hundert Menschen zogen am Mittwochabend durch Moritzburg. Sie fordern die Freilassung von Bianca W. Der Medizinerin wird vorgeworfen, falsche Gesundheitszeugnisse ausgestellt zu haben. © SZ

Moritzburg. Die grün-weißen Fahnen des Königreiches Sachsen wehen über den Köpfen. Doch wo ist das Plakat für die erste Reihe, jenes weiße Banner, auf dem die Unterstützer seit Monaten schon „Freiheit für Dr. Witzschel“ fordern?

Bislang geschah das in Hörweite der JVA in Chemnitz, jenem Frauengefängnis, in dem die Moritzburger Ärztin seit nunmehr einem Jahr untergebracht ist. Die Anklage wirft ihr das Ausstellen von gefälschten Gesundheitszeugnissen in mehr als 1.000 Fällen vor. Witzschel, die in Dresden studiert und viele Jahre in Moritzburg praktiziert hat, soll gegen Geld Atteste ausgestellt haben, die Ihre Patienten vom Tragen einer Maske, von Coronatests über den Mund und dem Impfen befreiten. Eine Straftat, die mit bis zu vier Jahren Haft geahndet werden kann. Der Gerichtsprozess läuft, am Donnerstag war der 15. Verhandlungstag. Bis Sommer soll das Urteil gefällt werden.

Doch jene 120 Menschen, die sich am Mittwochabend auf dem Moritzburger Marktplatz versammelt haben, sehen in Bianca W. keine Täterin. Sie sei vielmehr das Opfer eines politischen Systems, das vernichtet, mindestens aber grundlegend reformiert gehöre. Und da ist er zum ersten Mal an diesem Abend: Der eigentliche Grund, warum sich viele der Menschen hier versammelt haben.

Gastgeber und Anmelder der Demonstration ist Marcus Fuchs, Familienvater, IT-Experte und ehemaliger Kandidat für die Dresdner Oberbürgermeisterwahl. Vor allem aber ist Marcus Fuchs als Organisator der Querdenker-Demonstrationen zur Coronazeit in Dresden bekannt geworden. Nun also hat er nach Moritzburg eingeladen und schaut in viele bekannte Gesichter, die wenigsten stammen aus der Region.

Marcus Fuchs (auf der Bühne, links) hatte die Mahnwache angemeldet.
Marcus Fuchs (auf der Bühne, links) hatte die Mahnwache angemeldet. © SZ

Briefe aus der Gefängniszelle

Eine von ihnen ist Bärbel. Sie hält einige Zettel in der Hand, Briefe von Bianca W., die sie als Freundin bezeichnet. Der erste stammt vom 18. März vorigen Jahres. Die Medizinerin sitzt zu diesem Zeitpunkt seit gut zweieinhalb Wochen im Gefängnis. Sie erzählt von ihrem Radiowecker, der nur an guten Tagen jene Frequenz einfängt, um Nachrichten zu hören. Sie habe, so W., in der ersten Zeit viel geschlafen und nutze jetzt die Tage zum Lesen. In Ermangelung eigener Bücher studiere sie gerade das Lebensmittelgesetz, in einer Ausgabe von 1993.

Einmal am Tag sei Hofgang, 75 Schritte hoch, 40 Schritte quer und das Ganze wieder zurück, immer in der Zeit zwischen 9.30 und 10.30 Uhr. Vorausgesetzt, die Mitgefangenen fangen nicht an zu frieren, dann müssen alle wieder rein: im Gänsemarsch, wie W. schreibt. Am 11. April schreibt sie die nächsten Zeilen, da ist ihr erster Haftprüfungstermin Geschichte. Bianca W. erkundigt sich nach der Natur, nach dem Frühling, schreibt von Vögeln, die sie allenfalls in den frühen Morgenstunden sonntags aus ihre Zelle heraushöre und bedauert, von der Kundgebung vor der JVA, auf der ihre Freilassung gefordert wird, nichts mitzubekommen. Sie rät den Akteuren gar, ihre Bemühungen einzustellen. Doch die machen weiter.

Verhärtete Fronten auf beiden Seiten

Am Mittwochabend nun in Moritzburg, ordnungsgemäß als Mahnwache mit Demonstrationszug durch den Ort angemeldet. Die Polizei zeigt Präsenz. Zehn Mannschaftswagen und einige Polizeistreifen sind vor Ort. Eine parkt vor dem Rathaus in der Schlossallee 22.

Diese Moritzburger Prachtstraße sollte den Demonstranten dann aber doch nicht als Bühne dienen. Der Zug wurde in die zweite Reihe verbannt. Mit Musik und zwei Zwischenstopps, in denen vor allem Marcus Fuchs immer wieder auf die Opferrolle von Bianca W. aufmerksam machte. Sie sei eine politische Gefangene, so der Tenor. Außerdem bestehe weder Flucht- noch Verdunklungsgefahr, die U-Haft, noch dazu länger als die üblichen sechs Monate, sei deshalb völlig unbegründet und „staatliche Willkür“.

Das sah und sieht die Dresdner Staatsanwaltschaft ganz anders. Sie hatte vor einem Jahr die Verhaftung ausgelöst, weil sehr wohl die Gefahr bestehe, dass sich Bianca W. der Strafverfolgung entziehe. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Der Zug läuft, begleitet von flackernden Blaulichtfetzen, vorbei am Gartentor von einem Mitglied des Moritzburger Ortschaftsrat. Der tagt an diesem Abend. Es geht um das Baulückenkataster, zudem soll der Standort für die mobile Geschwindigkeitsmesstafel festgelegt werden. Der Mann, der nach der Wende in den Ort gekommen ist wie so viele, kannte Frau W. nicht. Sie zu unterstützen sei das eine, das andere seien die verhärteten Fronten – auf beiden Seiten. "Wir kommen nicht mehr miteinander ins Gespräch und das macht mir Angst", sagt er.

Unter den Protestlern ist auch ein junger Mann aus Dresden. Auch er kannte Bianca W. nicht persönlich. Es sei das Gefühl erlebte Ungerechtigkeit, das ihn heute Abend mitlaufen lassen. „Als ich das erste Mal wählen durfte, habe ich mein Kreuz bei den Grünen gemacht. Aber von denen bin ich mittlerweile maßlos enttäuscht“, ergänzt er. Aber, dass die Wahlen im Herbst nachhaltige Veränderungen bringen werden, daran glaubt er nicht.

Der Musiker Stefan Krähe, dem Nähe zu Reichsbürgern nachgesagt wird, trat bei der Mahnwache auf.
Der Musiker Stefan Krähe, dem Nähe zu Reichsbürgern nachgesagt wird, trat bei der Mahnwache auf. © SZ

Unterschriftensammlung für die Landtagswahl

Die Freien Sachsen nutzen die Mahnwache für ihre Parteipolitik. Sie planen, bei den Landtagswahlen im September anzutreten, brauchen dafür 100 Unterstützerunterschriften aus jedem Wahlkreis. Und so werden an diesem Abend eilig A4-Zettel ausgefüllt, im Schein der Straßenlaterne und teilweise mit einem Mülltonnendeckel als Unterlage.

Was die Freien Sachsen wirklich wollen, erklärt dann Wolfgang beim ersten Stopp. Die GEZ soll abgeschafft werden, Waffenlieferungen und Entwicklungshilfe werden eingestellt, die Zahl der Ministerien soll auf fünf reduziert werden, illegale Einwanderer werden abgeschoben und er kündigte eine große Entbürokratisierungswelle an. Dabei frei werdende Staatsdiener sollen dem freien Arbeitsmarkt zugeführt werden, schreit er förmlich in das Mikrofon. Es gibt Applaus und johlende Zustimmung - auch als Wolfgang von den Täterparteien spricht, deren Mitglieder zur Verantwortung gezogen werden sollen. Waren die Drohungen am Anfang noch subtil, werden sie jetzt ganz offensichtlich.

Viele Moritzburger haben das Schauspiel vom Fenster aus verfolgt. Kopfschüttelnd, staunend, viele auch mit dem Gefühl der Beklemmung. Ein Mann geht Gassi mit seinem Hund und läuft an dem Zug vorbei. Er wohnt nicht weit weg von der Medizinerin, in deren Namen hier aufmarschiert wird. Er verstehe die ganze Aufregung nicht. „Sie hat offensichtlich eine Straftat begangen und muss sich dafür verantworten“, sagt er und fügt mit Blick auf die im Konvoi fahrenden Einsatzwagen noch murmelnd an „wenn ich daran denke, was hier wieder für Steuergelder versenkt werden“.