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Mit Ekelfaktor: Till Lindemann bringt sein „Zunge“-Soloalbum heraus

Nach dem Skandal ist vor dem Skandal. Sänger Till Lindemann plant eine Karriere nach Rammstein. Sein Soloalbum „Zunge“ ist eine detaillierte Nahaufnahme des eigenen körperlichen Verfalls.

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Screenshot des Videos von „Zunge“.
Screenshot des Videos von „Zunge“. © Till Lindemann/Youtube

Von Kai Müller

Der Maler Francis Bacon erklärte 1962 in einem Interview, dass er schon immer sehr bewegt gewesen sei „von Abbildungen, die Schlachthäuser und Fleisch zeigen“. In Bacons Gemälden mit ihren eruptiv verzerrten Körpern war diese morbide Faszination sofort wiederzuerkennen.

Der Mensch wird zerrissen, gelöchert, aufgeschnitten und wie etwas zutiefst Hinfälliges behandelt. Unter den Darstellungen des Martyriums der Kreuzigung gefiel Bacon der Isenheimer Altar am besten, wie er einmal verriet. Er zeigt Jesus, als würde er am Kreuz beinahe verfaulen.

Es ist vielleicht interessant zu erfahren, dass Bacons Lieblingsorgan der Mund war. Er meinte, dass er den Mundraum gerne so schön malen würde wie Monet Sonnenuntergänge. Dass den Mund von Innen zeigen zu wollen, bedeutete, einen Schrei darzustellen, war Bacon bewusst.

Till Lindemann hat eine ähnlich gelagerte Fantasie. „Da ist ein Loch in dem Gesicht/Das ist der Mund, mit dem man spricht“, singt er, um zu erklären, warum er immer sagen müsse, was ihm quasi auf der Zunge brenne. Der Mund als Ausfluss-Organ unerhörter Dinge. Böser Junge, böse. Wie mit ihm umgehen? Da fällt Lindemann ein Verfahren ein: Im Video lässt er sich den Mund zunähen. Das wird man doch wohl zeigen dürfen.

Lindemanns neues Soloalbum: Irgendwas mit Fleisch

Man hätte sich gewünscht, Till Lindemann bisse sich lieber auf die Zunge, als ihr ein Album zu widmen. Aber das muss man ihm lassen: Seine Selbstgerechtigkeit wird nur von seinem Sinn fürs Geschmacklose übertroffen. Mehr Ekelfaktor geht nicht.

„Ich lutsch das auf“, singt er in „Lecker“ lüstern, „ich leck das ab/Ich saug das weg die ganze Nacht.“ Gemeint ist der Schweiß oder das Salz auf der Haut oder Sekret in ihren Falten und Ritzen, was Lindemann im würgenden Ton vibrierender Geilheit offen lässt. Irgendwas mit Fleisch ist es auf jeden Fall.

Damit ist der Tonfall gesetzt bei dem am Freitag erscheinenden Skandalwerk „Zunge“, dessen Erscheinen nach Meinung vieler schon skandalös ist.

Seit sich der Rammstein-Sänger Anschuldigungen wegen seines ausschweifenden Sexlebens sowie des Verdachts des Missbrauchs erwehren muss, ist sein Nimbus, schwer lädiert. Er weist die Vorwürfe zurück und geht auch anwaltlich gegen Behauptungen vor, er habe sich Mädchen aus der sogenannten „Row Zero“ für eine schnelle Nummer hinter der Bühne zuführen lassen, doch steht er als perverser, gefühlskalter Wüstling da, Erklärungsnöte inbegriffen.

Die Plattenfirma Universal distanzierte sich, gab die Rechte an Lindemanns Solodebüt zurück, so dass der es pünktlich zur längst gebuchten Tournee selbst herausbringen kann.

Lindemanns Album „Zunge“ als Rammstein-Hybrid

Aber was ist „Zunge“ nur für ein wirres Konstrukt. Musikalisch kommt das Album als Rammstein-Hybrid daher, kopiert die dramaturgischen Bögen der Band, ohne ihr Format zu haben. Heavy-Metal-Riffs, Elektro-Beats und schwülstiges Pathos. Der Sänger macht weiter in seiner Rolle als Hampelmann eines Kasperletheaters der Brutalitäten.

Sein Thema ist der eigene Körper, diese vergängliche Hülle männlichen Begehrens. Man lernt: Der Mann schwitzt und stinkt („Schweiß“), Schweißtropfen rinnen ihm sogar aus den Augen, so dass er sagen muss, „es wären Tränen“. Wie überhaupt alles in schlüpfriger Feuchtigkeit zerfließt. „Das Rote und das Tote Meer/Laken nach Geschlechtsverkehr/Offene Beine, Bier vom Fass/Alles ist nass.“

Der letzte Akt des dominanten Mannes

Über den autoritären Charakter hat Klaus Theweleit in „Männerfantasien“ gesagt, er fürchte nichts so sehr wie den Dammbruch, das Übermanntwerden von weiblicher Energie, auf die er mit abwehrender Aggression, Härte und Vernichtungswillen reagiere. Bei Lindemann sind Empfindungen geflutet, und er selbst wird fortgeschwemmt von sentimentaler Verzückung. Geweint wird viel. Meistens von Engeln.

Dennoch ist Lindemanns Körper-Obsession nicht leicht aus der Welt zu schieben. Ist sie doch Symptom dafür, wie mit dem entmachteten Mann im Stadium seines Abgangs umzugehen ist. Das erklärt die Hingabe, mit der die Veröffentlichung jeder Vorabsingle darauf abgeklopft wurde, was sie über Lindemanns Sexleben verrät. Erklärt er sich in seinen Songs zu den Vorwürfen, wenn er es schon vor Gericht nicht muss?

Selbst ein so banales Liedchen wie „Sport frei“ ist nur ein Beleg, wie sehr der frühere Leistungsschwimmer Lindemann mit seiner Hinfälligkeit hadert. „Die Jahre laufen dir davon“, heißt es im Refrain, „jeder Tag ein Marathon.“ Und warum das alles? Darauf hat Lindemann die klare Antwort: „Gar nichts, nichts hat man davon.“

Lindemanns Video zeigt Schleimfahrten durch den Körper

Bei einem solchen Nihilismus ist es folgerichtig, den Körper zum Objekt schmerzhafter Selbsterkundungen zu machen. Das hat Tradition: Von der Entdeckung des Körpers als physiologisches Wunder in der Renaissance über die Akt-Malerei bis zu Lady Gagas Kotelett-Kleid führt eine direkte Linie. Stets wurde die Aneignung des Fleischlichen erstmal als schockierend empfunden. Auch Lindemanns Endoskopie-Exkursion im Video zu „Zunge“ sind wenig appetitlich.

Doch was sollen die Schleimfahrten durch Körper-Innenräume bezwecken? Dem Ich-Terror fehlt ein Gefühl, das ihn beglaubigt. Leid? Qual? Bloße Behauptung einer gegen Schmerz abgeschotteten Elektro-Metal-Maschinerie, die ihr durchschaubares Programm abfährt.

Einmal entführt uns der Sänger zu wehenden Synthesizer-Fanfaren ans Meer, das seine unergründliche Wahrheit nicht preisgibt, dann wieder beklagt er die Bosheit der Herzlosen, zu denen er sich offenbar nicht zählt („Du hast kein Herz“). Ach, ja, und die Tanzlehrerin wird gevögelt – zu Flamenco-Klängen. Hier lebt sich ein animalischer Narzissmus aus, für den nichts zählt, außer die eigene Biomasse.

Lindemann – nur Fleisch und kein Gewissen?

Man könnte das als Fußnote abtun, würde sich darin nicht auch eine Methode des entmachteten Mannes offenbaren, jede Form von Verantwortung von sich zu weisen. Einer, der nur Fleisch ist, hat kein Gewissen. Muss auch keines haben. Was wollt ihr denn von einem Mann, scheint Lindemann in einem Fort zu sagen, der so „selbstverliebt“ ist wie er. Zudem noch „blass und bleich ... schlaff und weich“.

Wahren Schrecken kann es in dieser absoluten Selbstbespiegelung nicht geben. Spiegel haben keine Tiefe. So läuft die Ballade am Schluss auf die banale Botschaft hinaus: „Ich finde mich gut.“ Schön, Herr Lindemann, dass das geklärt ist.„Wenn ich zum Schlachter gehe“, hatte Francis Bacon seine Fleisch-Obsession erklärt, „überrascht mich jedes Mal, dass nicht ich dort liege, sondern Tiere.“