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Warum es nicht reicht, gegen Rassismus zu sein

Die gebürtige Leipziger Autorin Tupoka Ogette sagt: Wer rassistische Gedanken hegt, ist nicht automatisch „böse“. Aber man sollte sich eingestehen, dass man sie hat.

Von Oliver Reinhard
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Tupoka Ogette spricht gerne Klartext: „Rassismus verschwindet nicht, indem wir auf Demos Plakate mit der Aufschrift ,Gegen Rassismus‘ hochhalten oder Schulen den Titel ,Schule ohne Rassismus‘ verleihen.“
Tupoka Ogette spricht gerne Klartext: „Rassismus verschwindet nicht, indem wir auf Demos Plakate mit der Aufschrift ,Gegen Rassismus‘ hochhalten oder Schulen den Titel ,Schule ohne Rassismus‘ verleihen.“ © Alina Schessler

Seit vielen Jahren ist die gebürtige Leipzigerin Tupoka Ogette (43) im deutschsprachigen Raum unterwegs und leitet Workshops, Seminare sowie Fortbildungen zum Thema Rassismus und Rassismuskritik. Ihr Buch „Exit Racism“ wurde ein Spiegel-Bestseller. Unlängst erschien „Und jetzt Du“ (Penguin, 336 S., 13 €) mit Anregungen für ein rassismuskritisches Denken und Leben. Wir sprachen mit Tupoka Ogette darüber, warum es nicht reicht, nur bei anderen Rassismus zu sehen, weshalb es wichtig ist, seine eigene Sozialisierung mit Stereotypen etwa über schwarze Menschen zu hinterfragen – und warum Unsicherheiten und Irritationen dabei völlig normal sind.

Frau Ogette, seit vielen Jahren sind Sie unterwegs und arbeiten mit Menschen über Rassismus. Wenn Sie sehen, dass rassistische Einstellungen bei uns trotzdem nicht weniger werden: Ermüdet und frustriert Sie das manchmal?

Es ist mitunter frustrierend, wie Sysiphus immer wieder von vorn zu beginnen. Aber es ist auch Teil meiner Jobbeschreibung. Gleichzeitig ist es natürlich bezeichnend, dass immer wieder die gleichen Fragen kommen. Zum Glück ist das nicht überall so. Ich habe inzwischen das Privileg, dass wir sehr genau auswählen können, welcher Einladung wir folgen wollen. Ich muss mich niemandem aufdrängen, der nicht lernen will. Ich mache ein Angebot, und wer das annehmen möchte, zu dem gehe ich. Von daher habe ich eigentlich vor allem schöne Begegnungen, die inspirierend und berührend sind. Aber gesamtgesellschaftlich betrachtet, schaue ich sehr besorgt auf die derzeitigen Entwicklungen.

Reagieren immer noch Menschen verstört, wenn Sie ihnen erklären, dass wir fast alle mit rassistischen Vorstellungen aufgewachsen sind und diese in uns tragen, ohne uns dessen bewusst zu sein?

Natürlich. Das ist ja Teil des Problems, das wir in Deutschland haben. Und: Wenn ich selbst Rassismus ablehne, scheint es ja zunächst widersprüchlich zu sein, dass ich trotzdem rassistische Denkmuster verinnerlicht haben soll. Aber wir sind alle rassistisch sozialisiert, weil wir in einer Welt leben, der seit über 500 Jahren Rassismus tief in den strukturellen Knochen sitzt. Und gleichzeitig wachsen wir auf mit der Vorstellung, dass es Rassismus nur bei Rechtsradikalen und Nazis gibt, und lernen, man könne nur rassistisch sein, wenn man das auch wirklich will.

Und sich bewusst dafür entscheidet, zum Beispiel Menschen anderer Hautfarbe abzuwerten?

Nicht Menschen „anderer“ Hautfarbe, sondern schwarze Menschen, indigene Menschen und People of Color werden in einem rassistischen System abgewertet, entmenschlicht. Wir lernen, dass Rassismus immer eine bewusste Entscheidung ist, und das ist schlichtweg falsch. Außerdem: Im Denken von Menschen, die Rassismus ablehnen, sind andere Menschen, die rassistische Gedanken haben, automatisch auch schlechte Menschen. Diese Vorstellungen sind miteinander gekoppelt. Aber sie gehören nicht zwingend zueinander. Sozialisierung betrifft uns alle. Unabhängig davon, ob wir „gut“ oder „schlecht“ sind. Es ist wichtig zu verstehen: Unsere Gesellschaft basiert gewissermaßen auf einer rassistischen Schieflage, wir haben aber nicht gelernt, das zu erkennen, wir sehen quasi den Wald vor lauter Bäumen nicht.

Haben Sie als Kind in Leipzig viele Erfahrungen mit Rassismus gemacht?

Es gab Situationen, die brenzlig waren, in denen meine körperliche Unversehrtheit in Gefahr war und ich mit rassistischen Begriffen bezeichnet wurde. Die kann ich an einer Hand abzählen, aber sie waren trotzdem traumatisierend. Meine Familie hat mich getröstet und beschützt, aber wir haben das Problem nicht beim Namen genannt. Wir hatten schlicht keine Sprache dafür. Offiziell gab es keinen Rassismus in der DDR, was natürlich absurd war.

Aber rassistische Prägungen äußern sich ja nicht allein in explizit rassistischen, abwertenden Sprüchen, oder?

Nein. Rassismus ist ein Spektrum. Körperliche Übergriffe und der rassistische Mord sind die Spitze des Eisbergs. Rassismus äußert sich durch eine abwertende paternalistische oder exotisierend oder auch dämonisierende Haltung gegenüber schwarzen Menschen und People of Color. Es können kleine Grenzüberschreitungen sein, rassistische Sprache, aber auch institutionelle Ausgrenzungsmechanismen auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt. Die paternalistische Haltung finden wir in allen Bereichen der Gesellschaft. Der Philosophie, der Biologie, dem Rechtssystem, dem Gesundheitssystem, dem Bildungssystem.

Diese Abwehrhaltung von wegen „Aber wir lehnen Rassismus doch ab, wie können wir also Rassisten sein“ – wie gehen Sie damit um?

Es kommt darauf an, ob ich darauf im Privaten oder in der Arbeit treffe. In meiner Arbeit antizipiere ich die Abwehrhaltung, weil sie Teil des Prozesses ist. Dann versuche ich, nicht moralisierend zu arbeiten und nicht mit Gut-Böse-Kategorien. Und den Leuten zu vermitteln: Wenn du rassistische Inhalte reproduzierst, bist du nicht automatisch böse, sondern du reproduzierst Rassismus, weil wir alle letztlich auch rassistisch sozialisiert sind – auch ich selbst. Im Privaten finde ich diese Kraft natürlich nicht immer. Das wäre auch eine unnatürliche Erwartungshaltung.

Tupoka Ogette arbeitet im Team mit ihrem Ehemann Stephen Lawson, einem Bildhauer und Künstler. .
Tupoka Ogette arbeitet im Team mit ihrem Ehemann Stephen Lawson, einem Bildhauer und Künstler. . © Alina Schessler

Auch Sie reproduzieren Rassismus?

Sicher. Sozialisierung betrifft uns alle. Aber rassistische Sozialisierung hat für schwarze Menschen andere Konsequenzen als für weiße Menschen. Für uns geht es darum, negative verinnerlichte Botschaften zu verlernen, das rassistische Skript, das wir in allen Bereichen der Gesellschaft vorfinden für uns zu dekonstruieren und herauszufinden: Wer bin ich wirklich, jenseits des weißen Blickes? Die Diskussion um Rassismus bleibt schmerzhaft und schwierig, aber es ist eben eine, die wir haben werden müssen. Und sie ist bei aller Schwierigkeit lohnend. Denn am Ende geht es darum, die Gesellschaft gerechter zu machen.

Vielleicht sieht man auch da den Wald vor lauter Bäumen nicht?

Und den Balken im Auge des anderen, aber nicht den Stachel im eigenen. Aber erst in dem Moment, indem wir mal auf Abstand zu uns selbst gehen und genau hinschauen, kann uns so etwas auffallen. Dafür müssen wir aber vorher raus aus der Abwehrhaltung und uns auch mit der Emotionalität des Themas konfrontieren. Die Emotionen entstehen in der Auseinandersetzung, sie sind eine kollektive Erfahrung. Diese Erkenntnis kann hilfreich sein für deinen eigenen Prozess. Schuld, Scham, Wut, die man empfindet, wenn man erkennt: Mist, ich habe ja wirklich rassistische Prägungen, ohne dass mir das bewusst war. Aber diese Gefühle sind normal, und wir sollten dabei nicht stehenbleiben.

In welchen Situationen ist das besonders schwierig?

In meinem Buch „Und jetzt du“ beschreibe ich folgendes Beispiel: Mein Sohn hat in seinem Kindergarten rassistische Erfahrungen gemacht. Die Erzieherinnen haben das dann aufzuarbeiten versucht, indem sie ein Buch gelesen haben über Afrika und einen Jungen namens Coffee, indem sie mit den Kindern rhythmisch geklatscht und getanzt haben. Damit aber haben sie zu rassistischer Sozialisierung aktiv beigetragen und Stereotype über Afrika reproduziert. Gut wäre es gewesen, über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu sprechen, über Rassismus und Grenzüberschreitungen.

Nun kann man in solchen Situationen, aber auch generell in Diskussionen zum Thema ja schon mal das Gefühl bekommen, ein Minenfeld zu betreten. Weil man gar nicht weiß, wo Rassismus anfängt und aufhört. Das geht sogar mir jetzt im Gespräch ein bisschen so.

Aber das ist doch erwartbar. Wenn wir uns die große gesellschaftliche Aufgabe stellen, Rassismus strukturell, institutionell und individuell zu erkennen und benennen zu lernen, muss das mit Unsicherheiten und Irritation einhergehen. Aber vielleicht können wir diese Unsicherheiten nicht als Minenfeld betiteln, sondern eher als Lernkurve. Ich würde mich über eine Kombination aus Mut, Selbstreflexion und Fehlerfreundlichkeit freuen. Und bei allem Verständnis für die Emotionalität der Auseinandersetzung für weiße Menschen; sie steht in keinem Verhältnis zu dem Erleben von Rassismus selbst.

Ich habe jahrelang gedacht, dass Schwarze besser tanzen können ...

Das wäre ein Beispiel für stereotypisierende Zuschreibung. Es wirkt erst einmal harmlos und vielleicht sogar „positiv“. Aber jede Zuschreibung wird dann schnell zur Festlegung, die dann in anderen Bereichen gegen schwarze Menschen arbeitet in Form einer Defizit-Orientierung: gut im Hip Hop – aber was ist mit Chemie, Physik, klassischer Musik? Es reduziert Menschen auf eine Eigenschaft, während es ein Privileg von Weißsein ist, ein komplexes Individuum sein zu können, ohne festgeschriebene Zuschreibungen. Rassismus findet nicht nur dann statt, wenn jemand mit dem N-Wort benannt und geprügelt oder umgebracht wird. Und Rassismus verschwindet auch nicht, indem wir auf Demos Plakate mit der Aufschrift „Gegen Rassismus“ hochhalten oder Schulen den Titel „Schule ohne Rassismus“ verleihen.

Nun läuft ja in der jüngeren und jungen Generation schon vieles anders, ältere Schülerinnen und Schüler und Studierende gehen oft sensibler mit Diskriminierungen um und auch mit dem Thema Sprache und Rassismus. Denken Sie, dass wir auf dem Weg in eine rassismuskritischere Gesellschaft sind?

Die Wahlen in Hessen und Bayern haben gezeigt: Menschen ab 18 haben die AfD gewählt. Daher ist die Frage nicht leicht zu beantworten momentan. Ich erlebe viele tolle engagierte junge Menschen, die viel selbstverständlicher Worte haben für ihre eigenen Erfahrungen, die über ihre Privilegien sprechen können, die sich beherzt und mutig einsetzen für eine bessere, gerechtere Welt. Gleichzeitig gibt es einen großen Rückschlag. Damit arbeiten Rattenfänger wie die AfD. Ich frage mich allerdings, ob viele der Menschen verstehen, dass sie mit der Wahl für die AfD auch gegen sich selbst und ihre Interessen wählen ... Ihre Frage nach dem „besser werden“ ist aber auch ein Klassiker, Herr Reinhard.

Warum?

Weil viele Leute der Mehrheitsgesellschaft, die nicht von Rassismus betroffen sind, von mir gerne hören würden: Ja, es wird besser, eure weiße Mehrheitsgesellschaft wird rassismuskritischer.

Okay, erwischt.

Ich gebe die Frage immer gerne zurück: Was hat sich bei dir verändert, seit du weißt, dass wir alle mit rassistischen Prägungen aufgewachsen sind? Wie oft unterbrichst du das Schweigen, wenn auf Familienfeiern oder im Kollegium etwas Rassistisches gesagt wird? Welche Gespräche hast du darüber geführt? Wie hast du dich persönlich für eine rassismusfreiere Welt eingesetzt? Es ist essenziell, dass alle, die Rassismus ablehnen, verstehen: Die Zeit des aktiven Bekämpfens von Rassismus ist jetzt. Nicht morgen oder übermorgen. Jetzt. Zeit für aktive Zivilcourage, zum Entlarven verinnerlichter Denkmuster, für das Unterbrechen rassistischer Handlungen und Kommentare. In der Öffentlichkeit. Im Team. In deiner Familie. Jetzt.

  • Das Gespräch ist vor dem 7. Oktober 2023 geführt worden.
  • www.tupoka.de