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Was den "Fliegenden Holländer" in Görlitz zur Offenbarung macht

Getrieben von großer Schuld oder von großer Liebe? In Görlitz wirft Richard Wagners „Der fliegende Holländer“ szenisch einige Fragen auf.

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Auf der Bühne präsent, wird er dennoch nicht zu einer überzeugend schlüssigen Figur: Christian Henneberg als „Der fliegende Holländer“ in Görlitz.
Auf der Bühne präsent, wird er dennoch nicht zu einer überzeugend schlüssigen Figur: Christian Henneberg als „Der fliegende Holländer“ in Görlitz. © Pawel Sosnowski

Von Jens Daniel Schubert

Der fliegende Holländer mag Papierbötchen. Schon als Kind faltete er sie mit der Mutter. Doch immer kam einer, der die Idylle störte. Zwischen sich hoch auftürmenden Wolkenkratzern beginnt die Görlitzer Inszenierung von Wagners romantischer Oper. Auch wenn der szenische Rahmen mehr Fragen aufwirft als klärt: Er generiert große Bilder. Die Solisten und Ensembles musizieren beeindruckend, und so wurde die Premiere am Sonnabend begeistert gefeiert.

Tatsächlich ist das Bühnenbild mit der nächtlichen Großstadt-Silhouette, mehreren Spielpodesten und Spiegeln, die den Raum optisch weiten, eine beeindruckende Erfindung. Mithilfe der Videos von Raphael Howein kann man sich in eins der erleuchteten Fenster zoomen und auf die Erinnerungen des die Ouvertüre verträumenden Helden sehen. An den Ordnern mit den Zahlenkolonnen interessieren nur die Seiten, die man zu Booten falten kann. Papierschiffchen als Metapher für Flucht aus gewinnoptimierter Realität. Auch die Seeleute um Daland sind eher wie Wirtschaftskapitäne und Börsenspekulanten gekleidet.

Christian Henneberg als "Fliegender Holländer" und Patricia Bänsch als Senta.
Christian Henneberg als "Fliegender Holländer" und Patricia Bänsch als Senta. © Pawel Sosnowski

Doch die Ausstattung von Fabian Lüdicke hat szenisch-inhaltlich keine nachvollziehbare Konsequenz. Außer, dass die „Spinnstube“ zu einer Art Kindergarten mutiert. So konkret wie Wagner das Bild textlich entworfen und musikalisch angelegt hat, bleibt diese Uminterpretation im Albernen stecken. Schrill orange-pink-gelb gekleidete Kinder mit Pippi-Langstrumpf-Frisuren tollen um eine gestrenge Kindergärtnerin herum. Senta malt mit Filzstift den Schattenriss eines Mannes an die Wand. Das soll das ihre Fantasie beherrschende Porträt des fluchbeladenen Holländers sein. Den zu erlösen hat Senta sich vorgenommen. Vielleicht, um selber kindtümelnder Indoktrination zu entgehen?

Es mag an mangelnder Fantasie des Zuschauenden liegen, wenn er die Bilderrätsel nicht entschlüsselt, daraus keine erhellenden Einsichten gewinnt. Deutlich problematischer an der Regie von Andreas Rosar erweist sich die wenig erhellende Figurenführung. Wesentliche Fragen der Beziehungen zwischen den Protagonisten und ihrer Handlungsmotivation bleiben unbeantwortet. Woher rührt Sentas Erlösungsdrang, ihr selbstverleugnendes Treue-Gelöbnis?

Patricia Bänsch, die am Premierenabend etwas Zeit brauchte, um stimmlich an die von ihr gewohnte Qualität anzuknüpfen, spielt eine zunehmend emanzipierte, selbstbewusste Frau. Sie liebt rückhaltlos und konsequent den ihr unbekannten Fremden. Es ist eine „Coming of age“-Geschichte. Aber was treibt sie von Kindergarten, Vater und Liebhaber Erik weg, hin in die Arme des Neuankömmlings?

Heutige Optik öffnet vage neue Aspekte

Christian Henneberg ist von der Titelrolle herausgefordert. Sein Bariton verspricht viel, stimmlich kann er in die Partie des Holländers weiter hineinwachsen. Auch szenisch hat er sich die Vorgänge und Abläufe offenbar noch nicht ganz angeeignet. Er ist uneingeschränkt präsent, agiert situationsgerecht, allerdings ohne zu einer überzeugend schlüssigen Figur zu werden. Was treibt ihn, wie echt ist seine Liebe, wie groß seine Schuld, wie groß seine Sehnsucht nach Erlösung? Ist es Fatalismus, Selbstmitleid oder ein sich bahnbrechendes menschliches Gefühl von Liebe, dass er Senta, als er sie mit Erik erlebt, freigibt? Was motiviert Senta, ihm dennoch zu folgen? Die Fragen bleiben.

Die heutige Optik öffnet vage neue Aspekte. Aber sie liefert kaum Anhaltspunkte, was den Interpreten die Geschichte aktuell erzählenswert macht. Peter Fabig ist als Daland eigentlich der negative Katalysator. Seine Tochter setzt er wie Handelsware ein. Stimmlich überzeugt er. Aber szenisch ist er viel zu nett, ein jovialer Papa, keineswegs ein Grund für Eriks Ängste oder Sentas Flucht. Erik, der Jäger, ist stimmlich weit mehr als eine realistische Alternative zur mythischen Figur des Holländers. Wonjong Lee bringt italienischen Schmelz in den romantischen Wagner-Kosmos. Seine Figur ist ziemlich verlassen, nicht nur, weil man nie erleben kann, was ihn mit Senta verbindet. Läuft er, wie sie, einer Fiktion nach?

Finale Konfrontation der Chöre

Zum fulminanten Erlebnis wird der Abend durch die Musik. Zügigere Tempi hätten manchem Sänger vermutlich die Aufgabe erleichtert und der Geschichte etwas mehr Drive gegeben. Insgesamt aber hat die scheidende Generalmusikdirektorin Ewa Strusińska die Interpretation sicher einstudiert und geleitet.

Die Neue Lausitzer Philharmonie zaubert stimmungsvolle romantische Klangbilder und der Chor glänzt mit außerordentlicher Fülle und Ausdrucksstärke. Großartig das Festbild mit dem ausgelassenen Jubel, der atemberaubenden Herausforderung an die unsichtbare Mannschaft des Geisterschiffes und schließlich die Kulmination in der Konfrontation der beiden Chöre; der der Holländer-Mannschaft wurde von der Konserve eingespielt.

Wieder am 17., 23., 28., 30.3. und 1.4.; Kartentelefon: 03581 474747.

Ab 23.3. kommt jedes Mal ein anderer Dirigent zum Einsatz. Vermutlich kann man so die Anwärter auf Strusinskas Posten live erleben.