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Wie friedlich, divers und afrikanisch ist unsere Zukunft?

Große Tagung in Dresden: Science-Fiction kann Gesellschaften zum Besseren verändern, sagt Zukunftsforscher Moritz Ingwersen aus Dresden.

Von Karin Großmann
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Man wird ja noch träumen dürfen: Im Hollywood-Film  "Black Panther - Wakanda Forever" sind es die Frauen aus dem Königreich Wakanda, die unsere Welt vor dem Bösen retten.
Man wird ja noch träumen dürfen: Im Hollywood-Film "Black Panther - Wakanda Forever" sind es die Frauen aus dem Königreich Wakanda, die unsere Welt vor dem Bösen retten. © Marvel Studios

Zum ersten Mal treffen sich die älteste und renommierteste Gesellschaft für Science-Fiction aus Amerika und die deutsche Gesellschaft für Fantastikforschung zu einer Tagung. Bis Sonnabend diskutieren über 300 Gäste aus 36 Ländern an der TU Dresden über „Disruptive Imaginations“, störende Vorstellungen. Juniorprofessor Moritz Ingwersen (39) und seine Mitarbeiterin Julia Gatermann organisierten das Treffen. Wir fragten Ingwersen, ob eine Gesellschaft ohne biologische Geschlechter und ohne Rassismus auch Science-Fiction ist.

Herr Ingwersen, die Gegenwart ist von Kriegen, Krisen, Katastrophen bestimmt, und die Zukunft sieht auch nicht rosig aus. Wie beeinflusst das die Science-Fiction?

Die Science-Fiction setzt sich mit der Realität auseinander wie jede Kunstform. Sie nimmt ernst, was die Menschen bewegt. Und das ist vor allem eine große Verunsicherung. Viele fühlen sich irritiert, gestört und in den gewohnten Tagesabläufen bedroht, Vertrautes wird infrage gestellt. Diese Wahrnehmung von Disruption, von Störung, ist allgegenwärtig. Es verwundert also nicht, dass auch Science-Fiction darauf reagiert. Sie kann durchaus lehrreich sein, indem sie uns aufzeigt, wie andere Welten mit Störungen umgehen.

Überwiegen dabei utopische oder dystopische Werke?

Das Dystopische ist die verständliche Reaktion auf das Gefühl von Verunsicherung und Hilflosigkeit. Solche Werke sind oftmals viel kritischer als utopische. Sie halten uns den Spiegel vor und fragen: Was wäre, wenn alles so weitergehen würde wie bisher? Was-wäre-wenn ist die Kernfrage der Science-Fiction. Für uns in der Fachwissenschaft geht es unter anderem darum, zu verstehen und kritisch zu untersuchen, welche Denkmuster von Science-Fiction selbst verbreitet werden oder welche Gegenentwürfe sie bereitstellt.

Fliegende Untertassen kennt man jedenfalls schon länger.

Genau. Die popkulturellen Bilder, die seit den 1920er-Jahren zirkulieren, reagieren kontraproduktiv auf gefährdete Zukünfte. Die technik-optimistischen Entwürfe zeigen riesige Städte, fliegende Autos und ein unbedingtes Vertrauen darauf, dass uns die Ingenieure schon aus allem Übel heraushauen werden. Was man in diesen Entwürfen nicht sieht: Wie nachhaltig ist das? Woher kommen die Ressourcen? Wie sieht es mit der sozialen Gerechtigkeit in diesen Welten aus? All die Fragen, die uns angesichts der Klimakrise umtreiben, muss sich auch die Science-Fiction stellen. Nicht zufällig werden SF-Autorinnen und -Autoren als Berater vom IPCC eingeladen, dem Zwischenstaatlichen Sachverständigenrat für Klimaänderungen. Es wäre zu wenig, den Blick nur auf technologische Innovationen zu richten. Viel drängender sind neue Szenarien für soziale Veränderungen.

Kommt er in Frieden? Kampfroboter „Terminator“ – hier in einer Schau auf der Festung Königstein – verkörpert in den Science-Fiction-Filmen stets die böse künstliche Intelligenz, die uns bedroht. Dabei stehen Menschen unserem Wunsch nach einer friedlichere
Kommt er in Frieden? Kampfroboter „Terminator“ – hier in einer Schau auf der Festung Königstein – verkörpert in den Science-Fiction-Filmen stets die böse künstliche Intelligenz, die uns bedroht. Dabei stehen Menschen unserem Wunsch nach einer friedlichere © Marko Förster

Werden viele Technik-Visionen nicht ohnehin von der Realität ziemlich rasch eingeholt?

In den Achtzigern hieß es, die Zukunft sei in die Gegenwart kollabiert. Was eben noch Science-Fiction war, gab es in jedem Haushalt. Heute leben wir in einer Gesellschaft, die geradezu durchtränkt ist von Science-Fiction. Unser Selbstverständnis ist an eine Reihe von Maschinen geknüpft, die den eigenen Körper erweitern. Denken wir nur an die Gentechnik oder an die Künstliche Intelligenz – dieser Begriff ist selbst ganz eng an die Geschichte der Science-Fiction gekoppelt. Wer KI denkt, denkt an „Terminator“ und an Maschinen, die uns beherrschen. Was oft nicht mitgedacht wird: Der Begriff Künstliche Intelligenz verschleiert die eigentlichen Strukturen. Es sind Menschen, die Entscheidungen treffen, Datensätze markieren, und in der Regel tun sie das im Auftrag großer Firmen, die ihren eigenen Interessen folgen.

Wir schaffen nicht mal ein Tempo-Limit für Autobahnen. Warum sollte es der Science-Fiction gelingen, zur Veränderung der Gesellschaft beizutragen?

Das Wissen ist da, um solche Herausforderungen zu lösen, auch die Technologie dafür. Doch es hapert an der Übersetzung in soziales Verhalten. Da kann Science-Fiction helfen, den Blick zu weiten, einen größeren Rahmen abzustecken und festgefahrene Denkmuster aufzulockern. Das ist ja das, was Science-Fiction und Fantasy wirklich schön macht: Die absurdesten Einfälle sind erlaubt und müssen nicht sofort auf ihre Machbarkeit abgeklopft werden. Man kann Szenarien durchspielen, ohne dass es reale Folgen hat. Man kann Dinge ins Unwirkliche verschieben und übernatürliche Kräfte einbeziehen. Das kann sich letztlich in sozialen Aktionen niederschlagen.

Was haben Umwelt-Aktivisten wie die sogenannten Klimakleber mit Science-Fiction zu tun?

Sie sind von visionärem Denken getrieben. Sie arbeiten auf eine Zukunft hin, die noch nicht beschrieben ist. Und ja, sie können stören. Auf unserer Tagung geht es unter anderem genau um diese Art der Störung, um die direkte Intervention. Denn sie bekräftigt den Wunsch nach anderen Zukünften. Es wird sicher nicht der weiße männliche Held sein, der mit seiner Laserwaffe die Welt rettet. Die Science-Fiction fragt verstärkt danach, wie inklusiv und divers die anderen Welten aussehen.

Die "Matrix"-Trilogie stellt die Gretchenfrage: Wollen wir uns täuschen lassen und die Augen vor Problemen verschließen - oder wollen wir sie angehen? Letzteres ist nicht der leichtere Weg.
Die "Matrix"-Trilogie stellt die Gretchenfrage: Wollen wir uns täuschen lassen und die Augen vor Problemen verschließen - oder wollen wir sie angehen? Letzteres ist nicht der leichtere Weg. © ©Warner Bros/Courtesy Everett C

Schon Jahrzehnte vor den Gender- und Queer-Debatten beschrieb die amerikanische Autorin Ursula Le Guin eine Gesellschaft, in der das biologische Geschlecht keine Rolle mehr spielt. Ist das jetzt wieder ein Thema der Science-Fiction?

Viele Autorinnen und Autoren beziehen sich zum Beispiel auf Ursula Le Guin, Samuel Delauny oder Octavia Butler. Diese Rückbesinnung auf emanzipatorische Züge des Genres passiert verstärkt. Wir erleben gerade eine Riesenrenaissance von Geschichten, die aus marginalisierten Positionen geschrieben werden. Sie zeigen andere Welten aus weiblicher oder queerer Sicht oder aus der Sicht von Menschen mit Behinderung. Sie kamen bislang kaum vor. Denn in den Zukünften, die wir sonst kennen, sind wir alle unsterblich, niemand wird krank, und wir haben die tollsten Maschinen, die alle Wünsche erfüllen. Jetzt gibt es Science-Fiction von Menschen, die auch in anderen Welten ein Existenzrecht haben wollen mit all ihrer Vulnerabilität. Der Blinde will mit seiner Normalität Teil der Zukunft sein. Ohne Wunderbrille.

Spiegeln sich auch aktuelle Debatten über Kolonialismus in der Science-Fiction wider, die früher oft andere Planeten eroberte ohne Rücksicht auf deren Bewohner und Verluste?

Viele der klassischen SF-Motive sind Kolonialmotive. Sie besiegeln unsere Übermacht, denn wir gehen auf den anderen Planeten, und das Wir ist meist westlich geprägt. Nur dünn verschleiert erscheint die Angst vor dem Fremden, Wilden, Unbekannten, das uns angeblich bedroht, als Außerirdische oder was auch immer. Die Neue Rechte bedient sich bestimmter Motive der Science-Fiction. Das reicht bis in die Rhetorik. Im Film „Matrix“ gibt es die Wahl zwischen einer roten und einer blauen Pille und dazu die Frage: Willst du die Wahrheit wissen oder möchtest du nicht wissen, worum es geht? Dieses Motiv findet sich wieder bei dem von Trump gegründeten Medienunternehmen Truth Social. Von Verschwörungstheoretikern kennt man die Behauptung, dass wir in einer simulierten Welt leben mit bösen Hintermännern, die uns steuern. Auch dieses Motiv hat Tradition in der Science-Fiction. Ein Grund mehr, dass sich das Genre selbstkritisch betrachtet.

Juniorprofessor Moritz Ingwersen und Mitarbeiterin Julia Gatermann organisierten an der TU Dresden vom 15. bis 19. August das Jahrestreffen der Science Fiction Research Association und der Gesellschaft für Fantastikforschung.
Juniorprofessor Moritz Ingwersen und Mitarbeiterin Julia Gatermann organisierten an der TU Dresden vom 15. bis 19. August das Jahrestreffen der Science Fiction Research Association und der Gesellschaft für Fantastikforschung. © kairospress

Wo sehen Sie neue Trends?

Der Diskurs wurde lange von einer Minderheit von Stimmen bestimmt, die aber sehr laut sind: ob nun eine typisch amerikanische Technophilie im Sinne von Silicon Valley oder mitteleuropäische Standardpositionen über die Ordnung der Welt. Jetzt erleben wir eine Gezeitenwende. Schwarze, indigene, marginalisierte Communities, die nie Teil des Diskurses waren, bringen ihre Sichten ein. Eine große Vielfalt von Stimmen kommt hinzu. Sie fragen: Was wäre, wenn es keinen Rassismus mehr gäbe? Was wäre, wenn indigenes Wissen genauso akzeptiert würde wie westliche Wissenschaft? Was wäre, wenn Afrika ein hoch technisierter Kontinent wäre mit der Chance, seine Zukunft selbst zu gestalten? Das ist ja die entscheidende Frage: Wer gestaltet die Zukunft? Für wen? Und wie schlägt sich das in unseren Bildern nieder und natürlich in unseren Handlungen? In den Visionen der Science-Fiction spiegeln sich Machtfragen der Gesellschaft.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

„Das Ministerium für die Zukunft“ von Kim Stanley Robinson. Er ist ein klassischer Science-Fiction-Autor, der Roman liest sich aber fast wie ein realpolitischer Thriller. Es geht um ein Ministerium, das 2025 gegründet werden soll mit dem einzigen Ziel, die Welt für zukünftige Generationen zu erhalten. Der Autor spielt durch, welche Leute mit am Tisch sitzen müssten, welche Interessen man berücksichtigen sollte, aber auch, welche Widerstände sich entwickeln. Es ist ein Buch über die soziale und politische Komplexität der gesellschaftlichen Transformation, die uns bevorsteht.

Das Gespräch führte Karin Großmann.

Hygiene-Museum Dresden: Diskussion über Science-Fiction in der DDR an diesem Donnerstag um 19 Uhr. Im Anschluss läuft der Defa-Film „Eolomea“. Am Freitag um 19.30 Uhr findet eine Diskussion über progressive Fantastik statt, ab 21.30 Uhr eine Fantastik-Lesenacht.