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Wie radikal sind Wähler einer radikalen Partei?

Der Ostbeauftragte Wanderwitz glaubt, viele AfD-Anhänger seien nicht in der Demokratie angekommen. Zu Recht. Ein Gastbeitrag von Ilko-Sascha Kowalczuk.

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Die Rechtsextremisten Andreas Kalbitz, Björn Höcke (rechts außen) und ihr Parteikamerad Jörg Urban, Vorsitzender der AfD in Sachsen (Mitte). Gerade im Freistaat wählen viele diese Partei aus Überzeugung.
Die Rechtsextremisten Andreas Kalbitz, Björn Höcke (rechts außen) und ihr Parteikamerad Jörg Urban, Vorsitzender der AfD in Sachsen (Mitte). Gerade im Freistaat wählen viele diese Partei aus Überzeugung. © dpa

Von Ilko-Sascha Kowalczuk*

Sie seien „teilweise in einer Form diktatursozialisiert“ und damit auch „nach 30 Jahren nicht in der Demokratie angekommen“. So lautet das harsche Urteil des Ostbeauftragten der Bundesregierung, Marco Wanderwitz, über ostdeutsche AfD-Wähler. Dass er damit nicht nur Zustimmung erntet, war abzusehen. Ich stimme Herrn Wanderwitz allerdings vollkommen zu. Es ist geradezu bewunderungswürdig, wie er in Wahlkampfzeiten nicht dem Volk nach dem Maul redet, sondern sagt, was gesagt werden muss. Die Erkenntnisse, die er wiedergibt, sind auch alles andere als neu. Sie sind vielmehr seit Jahren durch diverse Studien belegt. Das Einzige, was ich an seinen Aussagen vermisse, ist die Rolle der CDU in diesem Zusammenhang.

Gerade in Sachsen war diese Partei bis 2004 faktisch allein an der Macht und hat die Probleme des Neofaschismus, des Rechtsextremismus und des Rassismus nicht nur heruntergespielt, sondern für nicht existent erklärt. Insofern trägt die CDU eine große Mitverantwortung dafür, dass so viele Menschen mit rechtsradikalen Einstellungen quasi ungestört eine politische Heimat erst bei der NPD, dann bei der AfD suchen konnten. Dass es sie gibt, ist jedoch nichts Besonderes.

Es war noch nie so, in keinem Land der Welt, dass eine komplette Bevölkerung vollständig für die Sache der Demokratie gewonnen werden konnte. Man geht davon aus, dass mindestens 20 bis 25 Prozent einer Gesellschaft ihr fremdelnd bis ablehnend gegenüberstehen. Nun haben wir hier in Ostdeutschland und nahezu überall im früheren kommunistischen Osteuropa das besondere Phänomen, dass sich im vergangenen Jahrhundert der Diktaturen demokratische Einstellungen eher schwach entwickeln, kaum richtig verfestigen und im Prinzip erst 1990 entfalten konnten.

Ein Problem: Diktatursozialisierung

Das wird vollkommen zutreffend beschrieben mit dem Begriff „diktatursozialisiert“, den auch der Ostbeauftragte nun auf viele Ostdeutsche angewendet hat. Und „diktatursozialisiert“ heißt nicht, dass es nur Menschen betrifft, die in der DDR gelebt haben und erwachsen geworden sind. Die nachhaltigsten Prägungen finden in den Familien statt, durch Gespräche und Erzählungen von Eltern und Großeltern, die ihre Sozialisierung auf ihre in den Neunzigern geborenen Kinder und Enkel übertragen. Wir wissen ja auch, dass die meisten AfD-Wähler im Osten nicht ältere oder mittelalte, sondern die jungen Menschen sind.

Natürlich lässt sich dieses Phänomen nicht allein mit der Diktatursozialisierung erklären, und man darf Herrn Wanderwitz da nicht missverstehen. Schließlich gibt es rechtsextreme, rassistische und faschistische Haltungen überall, etwa in den USA, in Italien, Brasilien, auf den Philippinen. Denn es existiert ein großes, gobal beobachtbares vereinendes Band all dieser rechtsradikalen Haltungen wie Rassismus, Autoritätsbefürwortung, Chauvinismus und aggressiven Nationalismus. Allerdings gibt es auch spezifische nationale und regionale Ausprägungen. Und zu diesen Besonderheiten gehört in Ostdeutschland die Prägung durch eine lange diktatorische Vergangenheit, die erst 1990 endete. Hiervon profitiert die AfD. Sie ist eine nationalistische, rassistische und völkische Partei und spricht mit ihrem Wahlprogramm und ihrem Auftreten sowohl diktatursozialisierte als auch ohnedem rassistisch, nationalistisch, völkisch, reaktionär und autoritär eingestellte jüngere Menschen an.

Tatsächlich gibt es eine große Anzahl von Menschen, die durch die Demokratie irrlichtern. Sie haben wenig bis gar keine Ahnung von den Grundsätzen, von den Prinzipien und von der Funktionsweise einer repräsentativen Demokratie. Die Demokratie aber lebt von einem Vertrauensvorschuss, und dieser hat im Osten seit 1990 keine vergleichbare Entwicklung nehmen können wie im Westen, wo die Demokratie seit 1949 praktizierte Staatsform ist. Diese historischen Bedingungen liefern jedoch nur ein Erklärungsmuster.

Das Zweite ist die Globalisierung. Sie hat viele Gewinner hervorgebracht und viele Verlierer. Menschen, die ihren Status, ihre Identität bedroht sehen. Dabei geht es nicht so sehr darum, ob diese Menschen wirklich Status- oder ökonomische Verlierer oder real bedroht sind. Entscheidender ist, dass sie sich als bedroht empfinden, als Verlierer fühlen und sich entsprechend definieren. Selbst wenn das oft als rein gefühlig abgetan wird: Es sind tatsächliche Emotionen, auch Emotionen sind Fakten, müssen entsprechend ernst genommen werden und lassen sich meiner Überzeugung nach auch in die politische Arbeit aufnehmen – was ja spätestens seit der sogenannten Flüchtlingskrise auch zunehmend geschehen ist. Diese Krise aber verursachten nicht die flüchtenden Menschen. Es war vielmehr die infolge dieser Migrationsbewegung einsetzende Identitätskrise in vielen europäischen Gesellschaften, allen voran Deutschland.

Aber noch einmal: Die Annahme, man könne 100 Prozent der Bevölkerung unter der Flagge der Demokratie vereinigen, ist eine naive Illusion.

Hier kommen wieder Ost-West-Unterschiede ins Spiel: Nach meinen Erkenntnissen sind es im Westen ungefähr 20 Prozent, die der wirklich gelebten und manchmal auch anstrengenden Demokratie keinen Vertrauensvorschuss entgegenbringen, sondern ihr potenziell skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Im Osten sind es 40 bis 50 Prozent, durchgängig seit 1990. Es ist ein Märchen, dass auch die zahllosen Wählerinnen und Wähler der SED-PDS in den Neunziger- und Nullerjahren ganz normale freiheitlich-demokratische Gesinnungen gehegt hätten. Nein, das haben sie nicht. Woher hätte das auch plötzlich kommen sollen? Die Partei stand lange Zeit für Antidemokratie und vor allem für eine antiwestliche Grundhaltung. Die Reste davon kann man heute noch offen ablesen an der verbreiteten Putin-Verherrlichung und der damit verbundenen Neigung zu einem autoritären System beziehungsweise zu dessen Verharmlosung.

Der Hang zum autoritären Denken

Immer wieder wird zur Erklärung verwiesen auf die anhaltende soziale Benachteiligung vieler Ostdeutscher, auf Arbeitslosigkeit, Abwanderung und die geringe Repräsentanz von Ostdeutschen in den Machtstrukturen der Bundesrepublik. Das ist sicher kein unwichtiger Faktor, und wir können klar beobachten: Der Zustimmungsgrad zur AfD und deren Positionen ist in den Gebieten besonders hoch, die auch besonders stark von Abwanderung und schlechter Infrastruktur betroffen sind. Bis vor zehn Jahren war eben dort die Zuwendung zur Linkspartei besonders hoch. Zugleich sehen wir, dass die jüngeren Hinwendungen zur AfD eben nicht an soziale Muster gekoppelt sind, nicht an materiellen Verlust und Arbeitslosigkeit.

Die AfD-Anhänger von heute repräsentieren den gleichen Durchschnitt der Gesellschaft wie jene, die sie nicht wählen. Diese Tendenz mehr als nur zu einem kleinen Teil mitverantwortlich zu machen für die Beliebtheit der Partei, greift also viel zu kurz. Zwar wird es immer wieder behauptet und mag teils auch so sein, viele AfD-Wähler würden ihr Kreuzchen nur aus Protest gegen die so genannten Altparteien und deren Politik setzen. Doch Umfragen belegen auch dies: Die meisten AfD-Wähler entscheiden sich nicht trotz, sondern wegen der Inhalte für diese Partei, die die Demokratie in der praktizierten Form ablehnt und ein autoritäreres System etablieren will. Eben weil diese Wähler selbst rechtsextreme, nationalistische, rassistische Überzeugungen haben. Auch die jüngste Leipziger Autoritarismus-Studie von 2020 belegt es eindeutig: Der Hang zum autoritären Denken und der Wunsch nach autoritären Strukturen ist in Ostdeutschland überproportional ausgeprägt.

Genau darin liegt die Antwort. Nichts anderes hat Marco Wanderwitz richtigerweise zur Sprache gebracht. Und wir müssen es zur Kenntnis nehmen: Weniger die gesamtdeutsche als in sich die ostdeutsche Gesellschaft ist zutiefst gespalten.

*Unser Autor: Ilko-Sascha Kowalczuk (geb. 1967 in Berlin-Friedrichshagen) ist Historiker. Seit 2001 war er Mitarbeiter der BStU und ab 2018 Mitglied der von der Bundesregierung eingesetzten Kommission „30 Jahre Revolution – 30 Jahre Einheit“. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde“ (C. H. Beck)