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Nach Ofarim-Geständnis: SPD-Politikerin verteidigt Demo vor Hotel

Der jüdische Musiker Gil Ofarim hat in seinem Prozess wegen Verleumdung überraschend gestanden, gelogen zu haben. Aus der Politik kommen unterschiedliche Reaktionen.

Von Sven Heitkamp
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Der Sänger Gil Ofarim (l.) hat am Dienstag in Leipzig gestanden, im angeblichen Antisemitismus-Fall gelogen zu haben.
Der Sänger Gil Ofarim (l.) hat am Dienstag in Leipzig gestanden, im angeblichen Antisemitismus-Fall gelogen zu haben. © dpa

Leipzig. Am Ende sind es nur vier dürre Sätze, die ein Kartenhaus zum Einsturz bringen. Mehr als zwei Jahre lang hatte der jüdische Musiker Gil Ofarim behauptet, er habe wegen einer Kette mit Davidstern im Leipziger Hotel Westin sein gebuchtes Zimmer nicht bekommen. Das millionenfach geklickte Video bei Instagram, auf dem er die Geschichte über einen leitenden Hotelmitarbeiter erzählt, ließ er die ganze Zeit online stehen.

Auch als ihn die Staatsanwaltschaft wegen Verleumdung, falscher Verdächtigung und Betrugs anklagte, weil seine Erzählung nicht stimmen könne. Am Dienstagvormittag nun, dem sechsten Prozesstag, wendet sich das Blatt. Gil Ofarim, der offenkundig nervös ist und viel an seiner Kette mit Stern herumspielt, ergreift das Wort und gesteht: "Die Vorwürfe treffen zu." Er entschuldigt sich beim Hotelmitarbeiter, Herrn W., und sagt: "Es tut mir leid. Ich habe das Video gelöscht." Mehr sagt er nicht.

Damit ist der Fall, der die Öffentlichkeit seit Anfang Oktober 2021 beschäftigt hatte, erledigt. Das Landgericht stellt das Verfahren ein, Ofarim muss innerhalb von sechs Monaten 10.000 Euro Geldauflage zahlen, je zur Hälfte an die Israelitische Religionsgemeinschaft in Leipzig und den Trägerverein des Hauses der Wannseekonferenz. Hotelmanager W., der als Nebenkläger aufgetreten war, hatte zuvor die Entschuldigung des Musikers angenommen. Ofarim akzeptierte seinerseits einen Vergleich, laut dem er Schmerzensgeld an den Mitarbeiter zahlen muss. In welcher Höhe verrieten die Beteiligten nicht.

Gil Ofarim: Seit Vorfall kaum noch als Musiker aufgetreten

Die israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig hat lange diskutiert, ob sie den vom Gericht zugewiesenen Geldbetrag überhaupt annehmen soll. "Das Verhalten von Gil Ofarim war überhaupt nicht koscher. Daher ist das Geld negativ belastet", sagte der Vorsitzende der israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig, Küf Kaufmann, am Mittwoch der Deutschen Presse-Agentur.

Man habe sich schließlich doch dafür entscheiden, das Geld annehmen zu wollen. "Wir werden es für die Vertiefung und Verbreitung der interreligiösen Arbeit verwenden", betonte Kaufmann.

Der Musiker hatte seinerzeit Anzeige gegen den Hotelmanager erstattet, der Mitarbeiter wehrte sich dagegen und zeigte den Musiker wegen Verleumdung an. Der Vorsitzende Richter Andreas Stadler betonte nun in seiner Erklärung, für den Rechtsfrieden sei es vor allem darum gegangen, die Wahrheit darüber herauszufinden, was an jenem Abend im Hotel Westin wirklich geschehen sei. Die Verhängung einer Strafe spiele dabei eine untergeordnete Rolle. Durch die Entschuldigung des Angeklagten sei der Hotelmanager wirkungsvoller rehabilitiert als durch ein Urteil. Stadler: "Ein Urteil ist anfechtbar. Eine Entschuldigung nicht." Ofarim sei "einen weiten Weg gegangen", um diese Einigung möglich zu machen. Und auch er habe "erhebliche Nachteile" erlitten. Ofarim ist seit dem Vorfall vor zwei Jahren kaum noch als Musiker aufgetreten.

"Die Kammer ist davon überzeugt, dass das heutige Geständnis des Angeklagten der Wahrheit entspricht", sagte der Vorsitzende Richter, Andreas Stadler.
"Die Kammer ist davon überzeugt, dass das heutige Geständnis des Angeklagten der Wahrheit entspricht", sagte der Vorsitzende Richter, Andreas Stadler. © dpa/Hendrik Schmidt

In dem Video vor gut zwei Jahren hatte sich der Popsänger als Opfer antisemitischer Ausgrenzung beschrieben. Sehr emotional hatte er erzählt, dass er im Hotelfoyer zunächst eine Weile in einer Schlange vor der Rezeption warten musste, weil die Computer streikten. Als er an der Reihe war, so erzählte er, habe jemand aus einer Ecke des Foyers gerufen: "Pack deinen Stern ein!" Der Hotelmitarbeiter habe dann hinzugefügt: "Packen Sie Ihren Stern ein!" Ofarim: "Er sagt, wenn ich ihn jetzt einpacke, darf ich einchecken. Wirklich?" Das Video sorgte international für Schlagzeilen und für heftige Kritik. Vor dem Hotel wurde abends spontan demonstriert.

Unter den Demonstrierenden war an diesem Abend auch die Grünen-Abgeordnete Paula Piechotta. Auf X schreibt sie: "Auch ich habe am besagten Abend vor dem Leipziger Hotel aus Solidarität protestiert - im Vertrauen darauf, dass hier Unrecht passiert war. Ich entschuldige mich bei allen, die fälschlicherweise des Antisemitismus bezichtigt wurden."

Für die Aufklärung des Falles war aus Sicht des Richters die Aussage einer neutralen Zeugin maßgeblich, die in unmittelbarer Nähe zu Ofarim gestanden hatte. Sie habe zeitnah einer Freundin von einem Streit zwischen Ofarim und dem Hotelmanager in einem Messenger-Dienst berichtet. Entscheidend waren überdies die Videos der Hotelkameras und ein Gutachten über die Aufnahmen. Demnach habe Ofarim innerhalb des Hotels die Kette mit Davidstern gar nicht sichtbar getragen. Insofern entspreche auch das Geständnis der Wahrheit.

Das Verfahren, so betonte der Richter in seinem Schlusswort, habe mehrere Gewinner: Die Gesellschaft, die die Wahrheit erfahren habe. Der Hotelmanager, dessen guter Ruf mit der öffentlichen Entschuldigung wiederhergestellt und der vollständig rehabilitiert sei. Und auch Ofarim erlaube die Verfahrenseinstellung einen befreiten Neustart. Stadler: "Unsere Gesellschaft kennt keine ewige Verdammnis." Doch Antisemitismus sei eine Tatsache, und der Kampf dagegen bleibe eine Aufgabe.

Zentralrat der Juden verurteilt Ofarims Verhalten

Als Gewinner des Verfahrens stellten sich auch beide Kontrahenten des Prozesses dar. Hotelmanager W., der inzwischen in einem anderen Haus arbeitet, sei sehr froh über den Ausgang dieser "Odyssee", betonte sein Anwalt Daniel Baumgärtner. "Er ist sehr froh, dass die Wahrheit ans Licht gebracht werden konnte." Doch auch Ofarims Anwälte nannten die Einstellung einen "riesigen juristischen Erfolg". Ihr Mandant gelte vor dem Gesetz weiterhin als unschuldig und nicht vorbestraft. "Die Alternative wäre eine Verurteilung gewesen", sagte Anwalt Alexander Stevens. Die Beweislage sei schwierig gewesen und es gelte weiterhin die Unschuldsvermutung. "Was wirklich war, werden wir wahrscheinlich nicht aufklären können."

Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD), der sich vor zwei Jahren bewusst nicht zu dem Vorfall geäußert hatte, sagte nun: "Wir dürfen nicht auf jeden vermeintlichen Skandal aufspringen." Das zeige dieser Vorfall sehr deutlich. "Dieser Fall darf aber unsere Wachsamkeit in Bezug auf Antisemitismus nicht schmälern." Ähnlich äußert sich der SPD-Bundestagsabgeordnete Holger Mann.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland verurteilte Ofarims Verhalten. Er habe die jüdische Gemeinschaft belogen und all denen, die tatsächlich von Antisemitismus betroffen sind, großen Schaden zugefügt. Für seine Lüge müsse er "in jeder Hinsicht die Konsequenzen tragen".

Politiker in Sachsen entschuldigen sich für vorschnelle Urteile

Der rechtspolitische Sprecher der AfD-Fraktion, Volker Dringenberg, erklärt, es sei erfreulich, dass Ofarim reinen Tisch gemacht habe und übt Kritik an Sachsens Justizministerin Katja Meier (Grüne). Laut Dringenberg habe sie den Fall zum Anlass genommen, "den Sachsen und insbesondere der Stadt Leipzig einen unsäglichen und unerträglichen Antisemitismus zu unterstellen." Auf Twitter hatte sie geschrieben, dass "der offene Antisemitismus im Hotel Westin sei unsäglich und unerträglich" sei. In einem LVZ-Interview sagte sie, ihre vorschnelle Einordnung sei fehl am Platz gewesen.

Auch Sachsens Verkehrsminister Martin Dulig (SPD) twitterte am Mittwochabend: "Es tut mir sehr leid, dass ich mich unter dem Eindruck der unglaublich schweren Vorwürfe, die Gil Ofarim seinerzeit öffentlich erhoben hat, zu einem falschen und vorschnellen Urteil habe hinreißen lassen." Er bedauere den Twitter-Post vom Oktober 2021. Damals schrieb er, er entschuldige sich stellvertretend für "die antisemitische Demütigung", die Ofarim in seinem "Heimatland" widerfahren sei.

Derweil verteidigt die Anmelderin einer damaligen Solidaritätskundgebung vor dem Westin-Hotel ihre Aktion. "Nein, die Demo war kein Fehler", sagt die Leipziger SPD-Politikerin Irena Rudolph-Kokot im Interview mit der Leipziger Volkszeitung. "Wir als Aktionsnetzwerk 'Leipzig nimmt Platz' sehen es auch weiterhin als unsere Aufgabe, Betroffenen von rechter Gewalt, von Antisemitismus oder sexistischen Übergriffen grundsätzlich erst mal zu glauben." Es sei bei der Demo nicht nur um den Fall an sich gegangen. "Sondern auch darum, der Welt zu zeigen, dass wir in dieser Stadt keinen Antisemitismus dulden."

Der Leipziger Bundestagsabgeordnete Jens Lehmann übt scharfe Kritik an Ofarim. Dieser habe Leipzig und dem Osten Deutschlands "massiven Schaden zugefügt, indem er verbreitete Vorurteile vom 'bösen, rechten Osten' aufgegriffen hat." Mit seinem Beitrag habe er "billige Aufmerksamkeit erhaschen" wollen. Sein Verhalten sei schwer wiedergutzumachen. Ofarim sei als Sohn jüdischer Eltern mit dem Missbrauch des Davidstern "auf den Gräbern von Millionen Juden herumgetrampelt." Und das in einer Zeit, "in der die Sicherheit jüdischen Lebens in Israel wie auch bei uns in Deutschland in seit der Shoah nicht mehr gekannten Ausmaß bedroht ist." (mit dpa)