SZ + Zittau
Merken

Sind Kinder im Kreis Görlitz wirklich so unsportlich?

Körperkoordination, Balance, Disziplin lassen seit Jahren nach - sagt Zittaus Ex-OB und Trainer Jürgen Kloß. Was Zahlen und Experten dazu sagen.

Von Anja Beutler
 5 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Balancieren, springen, klettern - die Leistungsspanne bei kleinen Kindern im Kreis Görlitz ist gewachsen.
Balancieren, springen, klettern - die Leistungsspanne bei kleinen Kindern im Kreis Görlitz ist gewachsen. © SZ-Archiv/Claudia Hübschmann

Zittaus früherer Oberbürgermeister Jürgen Kloß hat neben der Politik stets einer zweiten Leidenschaft gefrönt: Der heute 83-Jährige war und ist Handballer beim OSV Zittau. Dort engagiert er sich seit Langem für die Jüngsten und macht sich dabei zunehmend Sorgen: "Die Kinder von heute können nicht einmal mehr eine Rolle vorwärts - höchstens einen Purzelbaum", spitzt er seine Beobachtungen zu. Körperbeherrschung und Beweglichkeit haben spürbar ab-, das Gewicht hingegen eher zugenommen.

Hauptsächlich auf die Coronazeit will Kloß diese Entwicklung nicht schieben, denn er habe den Trend schon vorher beobachtet. "Es fehlt oft das normale, kindliche Bewegen", sagt er und nennt ein weiteres Beispiel, das ihn betroffen macht: "Wenn wir mit dem Verein unsere Winterwanderung machen, sagen einige Kinder, sie seien vorher noch nie im Gebirge wandern gewesen." Kein Wunder also, dass die Kinder immer unsportlicher werden? Der Trend generell ist nicht neu - aber wie schlimm ist es wirklich? Eine Analyse:

Zahlen des Kreises zeigen Trend

Der Landkreis sammelt Daten vor allem aus den Schulanfänger-Untersuchungen. Im jüngsten Sozialstrukturatlas des Kreises gab es dabei auch Daten zur Körperkoordination - allerdings mit den Zahlen aus dem Schuljahr 2020/21. Aktuellere Daten liegt laut Kreis nicht vor. Demnach haben die Schulanfänger generell "kaum Schwierigkeiten" mit der Körperkoordination - zum Beispiel mit seitlichem Springen oder rückwärts laufen. Dennoch steigt der Anteil der dabei auffälligen Kinder an. Insgesamt haben im Kreis insgesamt 15,5 Prozent der Vorschüler unterschiedlich ausgeprägte Auffälligkeiten - ein leichter Anstieg. Aber es gibt deutliche Unterschiede: Während im Raum Görlitz nur 3,1 Prozent der Kinder erkennbare Schwierigkeiten bei der Körperkoordination haben, sind es in Löbau 11,3, in Niesky 15,7 und in Weißwasser und Zittau sogar 22,9 beziehungsweise 27,9 Prozent.

Auch die Tendenz zu Übergewicht oder gar Adipositas geht seit Jahren nach oben - zum Schuljahr 2020/21 besonders stark. Hier liegt der Kreis sogar mit 7,6 Prozent übergewichtigen und 6,5 Prozent adipösen Schulanfängern über dem Sachsenschnitt. Auch hier gibt es Unterschiede: Am höchsten fällt die Quote mit 19,8 Prozent im Raum Löbau aus, in der Region Görlitz liegt sie mit 16,9 und in Weißwasser mit 14 Prozent etwas besser. Niesky und Zittau haben Werte unter zehn Prozent.

Viele Gründe für Trend

Neben den Effekten der Coronazeit, wo Sport- und Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt waren, nehmen Erzieher und Lehrer wahr, dass das Thema Bewegung in manchen Familien eine geringere Rolle spielt. Mitunter wollen Eltern ihre Kinder auch weniger Risiken aussetzen - sich frei zu bewegen ist damit schwerer. Da schon die Grundschüler oft längere Schulwege als früher haben, bleibt weniger Zeit für Sport und Spiel. Die Leiterin der Grundschulen in Großhennersdorf und Ruppersdorf, Anke Kaczmarek, sieht hier einen wichtigen Punkt. Generell mache sich aber vor allem das veränderte und größere Freizeitangebot und -verhalten der Menschen bemerkbar - und das nicht nur seit der Pandemie: "Einen Purzelbaum schlagen die Kinder heute sicher seltener zu Hause."

Schulen: größere Unterschiede

Während Lehrer in Schulen die ganze Bandbreite sehen, finden sich in den Vereinen vor allem diejenigen wieder, die gern Sport machen. Daher sieht man in Grundschulen viele sportliche Kinder, aber eben auch eine zunehmend wachsende Zahl, die weniger können als die Jahrgänge zuvor. "Die Bandbreite und die Unterschiede sind größer geworden", beobachten sowohl Schulleiterin Kaczmarek als auch Thomas Wockatz von der Oppacher Fußballschule Kickfixx. Viele Jahre hat Wockatz an Schulen im Oberland GTA-Sport angeboten. Dass mehr Kindern als sonst inzwischen die Kletterstange nicht mehr hochkommen oder es auch bei der Disziplin und Konzentration hapert, sei auffällig, sagt er. Doch auch wenn die Unterschiede größer werden, seien Probleme bei der Körperkoordination kein Massenphänomen, betont er.

Ähnlich schätzt es Friedhelm Gerlich ein. Der Trainer beim TSV Herwigsdorf führt seit Jahren erfolgreich Mannschaften zu Streetsoccer-Turnieren bis an die Bundesspitze. Mit Schülern arbeitet er seit 50 Jahren. Genügend Fußballbegeisterte findet er nach wie vor an der Herwigsdorfer Grundschule - aber es seien insgesamt pro Jahrgang etwas weniger geworden. Auch er betont, dass die Spanne zwischen sehr sportlichen und weniger sportlichen Kindern deutlich auseinandergegangen ist.

Vereine: Sportlust wächst wieder

Auch bei einem der größten Vereine im Kreis, der HSG Turbine Zittau, spiegeln sich diese Entwicklungen: Balance und Koordination, aber auch Ausdauer und Durchhaltewillen generell, seien nicht mehr so selbstverständlich wie früher, schätzt Karin Adler vom Vorstand ein. Selbst gute Sportler reichen an Spitzenleistungen von früher mitunter nicht mehr heran. Dennoch ist Adler optimistisch gestimmt, denn das Corona-Loch scheint überwunden, die Anmeldungen steigen, bei manchen Sportarten reichen die Plätze nicht aus. Die Frage nach genügend Übungsleitern ist dabei oft entscheidend und nicht in jedem Verein einfach. Aber auch hier, so heißt es beim Kreissportbund, gehe die Tendenz erfreulicherweise wieder nach oben.