Meißen
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Ein Meißner im Himmel

Gerd Melchinger fährt den Besucherballon am Berliner Checkpoint Charlie. Als Pilot trifft er eine Gruppe besonders häufig: Adlige.

Von Dominique Bielmeier
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© Claudia Hübschmann

Gerd Melchinger wollte nicht immer so hoch hinaus. Als sich sein Leben im Frühjahr 1992 änderte, war der gelernte Maurer gerade im Keller eines Versicherungsvertreters in Heidelberg mit dem Bau einer Zwischenwand beschäftigt. Plötzlich stand sein Kunde vor ihm mit der Ansage: Alles stehen und liegen lassen und mitkommen! Auf einer Wiese in der Nähe landete gerade ein Heißluftballon von Ritter Sport. Das wollten die Männer sich ansehen.

Gasfesselballon über Berlin.
Gasfesselballon über Berlin. © Air Service Berlin

Beim Ansehen blieb es aber nicht: Melchinger half spontan, den Ballon herunterzuholen, lernte, wie eine Landung funktioniert. Und hatte dank seiner Neugier plötzlich einen neuen Job: "Verfolger". Der Assistent des Piloten hilft zum Beispiel beim Aufbau des Ballons, beim Einstieg der Gäste in den Korb und am Ende bei Landung und Aufräumen. Zwischendurch folgt er dem Ballon – immer vom Boden aus.

Noch heute erinnert sich der 51-Jährige genau daran, wann er das erste Mal selbst in der Luft war: am 28. Mai 1992. Sein Chef hatte erkannt, dass er Spaß am Ballonsport hat. Meist bleiben Verfolger nicht lange dabei. Anders Gerd Melchinger.

Von Gardinenverkäufer bis Lkw-Fahrer hatte der gelernte Maurer, der später auch Porzellanmaler in der Manufaktur war, nach der Wende alles einmal ausprobiert. Doch bei den Ballons blieb er hängen. Konnte seine neue Heimat Heidelberg ihn auch nicht halten – 1994 kehrte Melchinger nach Meißen zurück – so nahm er doch zumindest seine neue Leidenschaft mit. Zurück in der echten Heimat schloss er sich dem Dresdner Ballonfahrerverein an und entschied zwei Jahre später, sein Funksprechzeugnis zu machen – der erste Schritt in Richtung Berufsballonfahrer.

Die Theorie und Praxis lernte Melchinger bei der Lausitz Ballonfahrten GmbH. Dass die Flammen, die die Luft im Ballon erwärmen, bis zu neun Meter lang und 1 500 Grad heiß werden können, was der Unterschied zwischen Freiballonen und Gasfesselballonen ist, und dass man niemals, niemals, niemals vom "Fliegen" sprechen darf im Zusammenhang mit Ballons. "Ein Ballonfahrer lässt keinen fliegen", sagt Melchinger und lacht über seinen Witz.

Wohl die wenigsten Menschen können über sich sagen, dass sie schon für Rittersport, den Mdr, Feldschlösschen und die Tageszeitung Die Welt gearbeitet haben. Ihrer aller Werbung trug Melchinger auf seinen Ballons zur Schau, nicht nur im Kreis Meißen und in der Lausitz, sondern auch im Vogtland und sogar in Hamburg.

Eine zweite, zumindest berufliche Heimat hat der Pilot Ende 2013 in Berlin gefunden. Unweit des Checkpoint Charlie gibt es einen Gasfesselballon, der mehrmals täglich für Besucher aufsteigt. Wegen der großen Werbung heißt er auch Welt-Ballon. Melchinger kennt ihn wie seine Westentasche, weiß, dass jeder Quadratzentimeter des nur 0,3 Millimeter dicken Stoffes 40 Kilo Gewicht aushält, weiß sogar, wie sich die Ballonhülle unter seinen Füßen anfühlt: Wenn im Winter Schnee darauf liegt, muss Melchinger schon mal an dem Netz um die Kugel hochklettern und ihn abkehren.

Ob das nicht langweilig wird, jeden Tag dieselbe Aussicht, wird er oft gefragt. Der Ballon steigt ja immer am selben Fleck 150 Meter in die Luft und sinkt 15 bis 20 Minuten später wieder zu Boden, manchmal 20, 30 Mal am Tag, je nach Wetter. "Ich sage immer, ich gehe nur bei schönem Wetter arbeiten", so Melchinger.

Und nein, langweilig wird ihm nicht. Während der Fahrt muss er ständig hellwach sein und alles kontrollieren, dazu noch mit den Passagieren reden, die sich manchmal über den Dächern Berlins einfach bei jemandem aussprechen möchten. "Aber jeder, der bei mir mitfährt, hat seine Daseinsberechtigung", sagt Melchinger, "egal ob er traurig oder fröhlich ist. Und wenn ich ihn dann dazu bringe, dass er den Moment genießen kann, dann ist das für mich der Erfolg."

Sein persönlicher Lieblingsmoment im Ballon ist die Abenddämmerung, wenn es langsam dunkel wird. "Dann tritt so eine absolute Ruhe ein", sagt Melchinger und senkt selbst seine Stimme. "Dann flüstern die Leute, und diese bunten Lichter ..." Ein anderer Gedanke kommt ihm, und seine Stimme wird wieder laut: "Es gibt so herrliche Sonnenuntergänge – ich muss gar nicht nach Hawaii!"

Auch wenn Melchinger seinen Job liebt und der Letzte am Checkpoint Charlie ist, der noch hauptberuflich Ballon fährt – er mag auch die andere Seite, das Fahren mit den Freiballonen und die damit verbundenen Geschichten und kleinen Spleens.

Melchinger erzählt von den Anfängen der Fliegerei, von den Gebrüdern Montgolfier aus Frankreich, die entdeckten, dass wärmere Luft leichter ist und nach oben steigt. Von den ersten Heißluftballon-Passagieren in den königlichen Gärten Ludwigs des XVI. – ein Hahn, ein Hammel und eine Ente – und wie sich der letzte König des Ancien Régime beinahe blamiert hätte, weil er als erste menschliche Passagiere ausgerechnet zum Tode verurteilte Verbrecher einsetzen wollte. "Dabei durfte sich kein Bürgerlicher über die Köpfe des Adels erheben", erklärt Melchinger den Fauxpas. Schließlich wurden also doch Adlige in die Luft geschickt und landeten ein paar Kilometer entfernt unverletzt auf einer Wiese.

Seit 1783 hat sich zwar an der Ballontechnik einiges getan, doch die Tradition mit dem Adel, die Ludwig XVI. sogar per Gesetz festschreiben ließ, wurde beibehalten. Deshalb gibt es heute die Ballonfahrertaufe: Nach einer Rundfahrt wird jeder Passagier in den Ballonadelsstand erhoben und darf seinen Titel sogar inoffiziell verwenden. Manchmal dürfen sich die künftigen Adligen sogar selbst aussuche, ob sie Graf, Prinz oder Fürst werden möchten.

Unter den ganzen Blaublütern ist Gerd Melchinger praktisch der König. Oder wie er selbst seinen Werdegang zusammenfasst: Erst Maurer, dann Porzellanmaler und dann völlig abgehoben.