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Meißens vergessener Friedhof: Der Anfang vom Ende?

Ein verunglückter Testpilot, eine bekannte Meißner Künstlerin und ein Bürgermeister. Sie und noch viele andere liegen auf einem (fast) vergessenen Meißner Friedhof.

Von Andre Schramm
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Das Grab vom Testpiloten Alois Jost auf dem Friedhof St. Nikolai. Seine Schwester fand hier ebenfalls ihre letzte Ruhe.
Das Grab vom Testpiloten Alois Jost auf dem Friedhof St. Nikolai. Seine Schwester fand hier ebenfalls ihre letzte Ruhe. © Claudia Hübschmann

Meißen. 10. Dezember 1925, Flugplatz Staaken, westlich von Berlin. Ein junger Mann besteigt eine Focke-Wulf A 16. Es handelt sich um ein leichtes Passagierflugzeug der noch jungen Focke-Wulf Flugzeugbau AG. Flugzeuge dieser Bauart bringen es zu jener Zeit auf über 100 Kilometer pro Stunde in der Luft. Was der Pilot zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Er wird von dem Flug nicht zurückkommen, jedenfalls nicht lebendig.

Die "Vossische Zeitung" notiert am Tag darauf: "Ein schwerer Flugunfall hat sich gestern Nachmittag gegen 15 Uhr auf dem Flugplatz Staaken zugetragen. Der 24 Jahre alte Flugschüler Alois Jost unternahm mit dem Flugzeug D.776 einen Alleinflug. Als sich die Maschine in geringer Höhe über der Chaussee Staaken - Dagelow befand, verminderte der Motor plötzlich die Tourenzahl und setzte aus. Der Führer versuchte, das fallende Flugzeug noch auf dem Flugplatz zu landen. Dabei geriet die Maschine in die Drähte einer Überlandleitung und stürzte ab. Jost wurde schwer verletzt unter den Trümmern hervorgezogen und nach dem Spandauer Krankenhaus gebracht. Auf dem Transport starb der Verlezte, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben." Alois Jost wurde nur 24 Jahre alt.

Missglückte Notlandung. Testpilot Alois Jost starb bei dem Unfall am 10. Dezember 1925. Er liegt auf dem neuen Nikolaifriedhof in Meißen begraben.
Missglückte Notlandung. Testpilot Alois Jost starb bei dem Unfall am 10. Dezember 1925. Er liegt auf dem neuen Nikolaifriedhof in Meißen begraben. © AG Deutsche Luftfahrthistorik

"Der Friedhof lebte und starb mit der Industrie"

Beim Nachnamen dürfte vor allem bei geschichtsaffinen Meißnern und Kennern der hiesigen Kunstszene ein Lämpchen angehen. Alois Jost war der Bruder der Meißner Künstlerin und Politikerin Many Jost. Ihr selbst war ein wesentlich längeres Leben vergönnt. Sie wurde 94 Jahre alt. Ihre letzte Ruhe fand sie 1992 auf dem neuen Nikolaifriedhof am Lerchaweg, direkt neben ihrem verunglückten Bruder.

Das Familiengrab ist heute in keinem guten Zustand, teilweise zugewuchert. Die Innenschrift am Grabstein ist kaum noch lesbar. Beim Blick auf die Kapelle wenige Meter dahinter wird es auch nicht besser. Zustand: kritisch. Sie ist inzwischen eingezäunt.

Der Nikolaifriedhof, so erzählt Jörg Schaldach, werde nicht mehr belegt. Das heißt: Es finden dort keine Bestattungen mehr statt. "Die Bausubstanz ist meiner Ansicht nach nicht mehr zu retten, weder die Kapelle noch das ehemalige Verwaltungsgebäude daneben", erzählt der Geschäftsführer der Städtischen Bestattungswesen Meißen GmbH weiter.

Was Grabmale von Persönlichkeiten anbelangt, gäbe es keine Verpflichtung, sich darum zu kümmern. "Wenn sich niemand findet, der das Grab pflegt, dann verwildert es eben. Der neue Nikolaifriedhof lebte und starb mit der Industrie im Triebischtal", so sein Fazit.

Blick auf die baufällige Kapelle.
Blick auf die baufällige Kapelle. © Claudia Hübschmann

Steinreich und mäusearm

Die Friedhofsanlage und ihr Interieur stehen zwar in der Liste der Kulturdenkmale im Freistaat Sachsen und sind "orts- und baugeschichtlich von Bedeutung". So richtig genutzt hat die Klassifizierung ihr aber bislang nicht. Dabei dürfte der gegenwärtige Zustand niemanden überraschen. Vor vier Jahren mahnte der ehemalige CDU-Stadtrat Jörg Schlechte: "Hier muss eine Notsicherung vorgenommen werden, um den Verfall zu stoppen." Falls die Kirche überfordert sei, so Schlechte damals, müsse der Staat einspringen.

Gesprungen ist bisher niemand, höchsten ein paar weitere Fenster oben in der Leichenhalle. Die gibt es ja auch noch. Das Areal ist inzwischen durch einen litzenähnlichen Zaun abgetrennt. Verantwortung für den Nikolaifriedhof trägt die Kirchgemeinde St. Afra. Deren ehemaliger Pfarrer Uwe Haubold sagte einmal, dass Meißen nicht nur in Bezug auf Kirchen und Kapellen reicher als vergleichbare Städte gesegnet sei, sondern auch, was die Anzahl und Bedeutung seiner Friedhöfe anbelangt. Beim Abschied aus dem Amt letztes Jahr ergänzte er, dass die Gemeinde sowohl "steinreich als auch mäusearm" sei. Sollte Ersteres auf die sakrale Bausubstanz zutreffen, dann war mit Letzterem wahrscheinlich der Füllstand der kirchengemeindlichen Schatzschatulle gemeint.

Die Sanierung vom Haus am Markt 10, die Sanierung der Frauenkirche, die Restaurierung der Orgel. Das hat Geld gekostet. Aktuell ist das Tragwerk der Türmerstube dran. Das Porzellanglockenspiel braucht ebenfalls Fürsorge. Alles wichtig, keine Frage. Obendrein muss sich die Kirchgemeinde noch um vier weitere Begräbnisstätten kümmern. Gegenwärtig wird der Wolfgang Friedhof teil saniert. Bei alldem rangiert eine Ruhestätte, die man selbst durch Zufall nicht entdeckt, weiter hinten auf der Prioritätenliste. Augenscheinlich wird der Nikolaifriedhof aber noch gepflegt. Die Rasenflächen zwischen den Gräbern machen einen ordentlichen Eindruck.

Steampunker auf dem Nikolaifriedhof

Vergangene Woche, genauer noch am Mittwoch, gab es ebenda kurz vor Sonnenuntergang ungewöhnliches Begängnis. Meißens Steampunker schlenderten unter der Leitung von Jens Mahlow an ein Nachbargrab der Josts. Anlass: Auf den Tag genau, bloß 165 Jahre früher, war ein Bürgermeister ins Amt gekommen. Der hieß Karl Richard Hirschberg, und liegt ebenfalls hier begraben, zusammen mit Gemahlin Emma.

Sorgen sich um den Nikolaifriedhof: Meißens Steampunker. Am 20. März trafen sie sich am Grab des ehemaligen Bürgermeisters Karl Richard Hirschberg.
Sorgen sich um den Nikolaifriedhof: Meißens Steampunker. Am 20. März trafen sie sich am Grab des ehemaligen Bürgermeisters Karl Richard Hirschberg. © privat

Die Sympathie für den Meißner Amtslenker a. D. hat mindestens zwei Gründe: Seine Regentschaft fällt ins Lieblingszeitalter der Steampunker. "Und er hat Meißen wesentlich vorangebracht", sagt Mahlow. Das Grab des Bürgermeisters, der u.a. eine Eisenbahnbrücke über die Elbe bauen ließ, den Stadtteil Triebischtal entwickelte und keinen Bock aufs besser bezahlte Chemnitzer Rathaus hatte, ist wesentlich besser in Schuss. Der Verein "Mit Zahnrad und Zylinder" kümmert sich auch darum. Bis heute gibt es nur drei Bildnisse (Fotografie war bereits erfunden) von Hirschberg. Klarer Fall für die Zahnrad-und-Zylinder-Leute: Kein Showman, sondern ein Macher. Randnotiz: Seine Gedenktafel an der Eisenbahnbrücke war zum Jubiläum graffitifrei. Immerhin.

Für die Steampunker ist der gegenwärtige Zustand unbefriedigend. "Da brauchen wir uns nichts vormachen: Die Friedhofskapelle ist nicht mehr zu retten", meint Mahlow. Das Harmonium, eine Art Orgel, hat man mit der Erlaubnis der Kirchgemeinde aus der Ruine geborgen. Das Instrument steht im ZuZ-Laden in der Burgstraße und wartet auf die Restaurierung.

"Uns geht es um eine Perspektive für die Anlage. Der Nikolaifriedhof als Parkanlage – das wäre ein gutes Projekt für die Elfhundert-Jahrfeier. Es würde auch über das Jubiläumsjahr hinaus Bestand haben", meint Mahlow. Er befürchtet, dass es längst Begehrlichkeiten gibt. "Der Blick hinunter ins Triebischtal ist klasse", sagte er mit Blick auf potenzielle Eigenheimbauer.

"Die Nachnutzung soll zum Ort passen"

Wem die Infotafel am Friedhofsportal nicht entgangen ist, der wird dort von "Entwidmung (Aufhebung als Bestattungsplatz) von Teilflächen" und "Reduzierung der Flächen" gelesen haben. Das erklärt auch die aufgestellten Zäune. Dazu zählt nicht nur der obere Bereich, sondern auch das Areal der Kapelle. Mit anderen Worten: Der Nikolaifriedhof ist kleiner geworden. "Auf diesen Flächen befinden sich keine Gräber. Sie bleiben zwar im Eigentum der Kirchgemeinde, werden künftig nicht mehr gepflegt", sagt Pfarrer Christoph Rechenberg von der Kirchgemeinde St. Afra.

Selbiges Schicksal droht auch den übrigen Flächen. "Allerdings erst in etwa 15 Jahren", so Rechenberg. Bis dahin werde der Friedhof weiterhin von Landschaftspflegern angefahren. Rechenberg ermunterte bei der Gelegenheit die Meißner, eine Grabpatenschaft zu übernehmen. "Wenn sich jemand findet, um die Kapelle in Erbbaupacht zu übernehmen, dann verschließen wir uns dem natürlich nicht", so der Pfarrer weiter.

Eine Parkanlage hält er prinzipiell für möglich. "Jedoch erst dann, wenn unsere Verpflichtungen hier ausgelaufen sind. Es müsste sich dazu auch ein Träger finden. Außerdem sollte die Nachnutzung zum Ort passen", sagt er.