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Herr Wenzel fährt ab - Unterwegs mit einem Zugbegleiter in Sachsen

Wenn in der Regionalbahn auf dem Weg von Görlitz nach Dresden die Plätze knapp werden, läuft Zugbegleiter Veit Wenzel zur Höchstform auf. Eine Spätschicht zwischen Jux und Pendelei.

Von Henry Berndt
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Ein flotter Spruch muss immer sein: Seit etwa einem Jahr kontrolliert Veit Wenzel die Tickets im Trilex zwischen Görlitz und Dresden.
Ein flotter Spruch muss immer sein: Seit etwa einem Jahr kontrolliert Veit Wenzel die Tickets im Trilex zwischen Görlitz und Dresden. © Paul Glaser

Nicht jede schlechte Laune lässt sich verhindern. Zum Beispiel die der mittelalten Dame mit blondem Pferdeschwanz, die lange hoffen durfte, an diesem Nachmittag kostenlos die zwei Haltestellen vom Görlitzer Hauptbahnhof bis nach Reichenbach chauffiert zu werden. Wenige Sekunden vor ihrer Haltestelle bittet Veit Wenzel sie dann aber doch zur Kasse. Ein wenig zu schnell hat sich der Zugbegleiter durch den halben Triebwagen bis zu ihr durchgearbeitet. Wer in Sachsen mit dem Trilex fährt, der darf sein Ticket auch beim Schaffner kaufen. Oder muss es eben.

„Reichenbach“, hustet ihm die Dame mit versteinertem Gesichtsausdruck entgegen und hält Wenzel einen Fünf-Euro-Schein hin, ohne ihn dabei eines Blickes zu würdigen. Als sie aufsteht und zur Tür geht, wünscht er ihr noch „einen schönen Tag“, und zuckt ein klein wenig mit den Schultern, als wolle er sagen, dass es ihm leidtue. Aber Regeln sind nun mal Regeln. Und Veit Wenzel kennt sie alle.

Seite 2014 ist Veit Wenzel bei der Länderbahn angestellt, allerdings erst seit einem Jahr in Sachsen unterwegs.c
Seite 2014 ist Veit Wenzel bei der Länderbahn angestellt, allerdings erst seit einem Jahr in Sachsen unterwegs.c © Paul Glaser

Beim Trilex, der zur Länderbahn gehört, ist der 53-Jährige erst seit gut einem Jahr im Einsatz. Tickets kontrolliert er allerdings schon seit 2014. Zuletzt war er in Bayern angestellt, bevor er seine Versetzung nach Sachsen erwirkte. Als gebürtiger Dresdner hätte er gern auch hier seine Meldestelle bekommen, aber den Bedarf gab es nun mal in Görlitz. Deswegen wohnt Wenzel jetzt hier in einer kleinen Wohnung, nur fünf Minuten vom Bahnhof entfernt. Zuletzt ist er mit einem Oberschenkelhalsbruch und der anschließenden Reha lange ausgefallen. Seit Ende August kann er endlich wieder ran.

Heute hat Veit Wenzel Spätschicht. Er wird in der Regionalbahn 60 von Görlitz nach Dresden fahren, dann wieder nach Görlitz, und dann noch zweimal hin und zurück. Dienstbeginn ist 15.10 Uhr, Dienst-ende kurz vor Mitternacht. Bereits einige Minuten vor drei läuft er die Treppen zur Meldestelle am Bahnhof hoch, grüßt freundlich und füllt sich seine Flasche am Wasserspender. Zu Hause hat er sich schon kleine Apfelstückchen reingeschnitten. Da schmeckt’s nach was.

Die Flasche passt gerade noch in den Rucksack, an dem jede Menge Schlüsselbänder von Marken der Länderbahn baumeln: Alex in Bayern, Vlexx in Mainz, Oberpfalzbahn in der Oberpfalz. Die Vogtlandbahn fehlt ihm noch. Jetzt aber los zum Gleis, wo der Zug in den Trilex-Farben Weiß, Orange und Grau bereits abfahrbereit ist. Pünktlich 15.22 Uhr setzt er sich in Bewegung und schon jetzt sind beinahe alle Plätze besetzt.

"Danke, danke, danke“

Schnell packt Veit Wenzel noch seinen Rucksack in den „nicht arbeitenden Führerstand“ am hinteren Ende des Wagens. Der ist so etwas wie sein fahrendes Büro. Zum Sitzen auf dem gepolsterten Stuhl wird er bis zur Endhaltestelle Dresden-Hauptbahnhof allerdings nicht kommen.

„Schönen guten Tag, die Fahrscheine bitte!“, ruft er in den Wagen, und schon leuchten ihm Handydisplays mit QR-Codes entgegen. Tickets auf Papier hat hier kaum noch jemand.

„Ja, danke, danke, danke.“ Würde Wenzel jeden QR-Code einzeln mit seinem etwas klobigen und nicht besonders schnellen mobilen Verkaufsterminal scannen, würde er bis zum Ende der Fahrt kaum einmal durch den Wagen kommen. „Da braucht man ein bisschen Fingerspitzengefühl, wo wirklich harte Kontrollen nötig sind.“ Zu dem Gerät der Marke Casio hat Wenzel ein etwas angespanntes Verhältnis. Man kommt miteinander klar, aber man muss nicht beste Freunde sein. So ähnlich wie mit den Lokführern, sagt er, wobei er mit allen gut klarkomme.

Weit über die Hälfte der Passagiere sind an diesem Nachmittag wie üblich Schüler auf dem Weg nach Hause. Lässig zeigen sie ihre Ausweiskarten.

Vorsicht an der Bahnsteigkante: Nur wenige Sekunden bleiben dem Zugbegleiter, um alle Fahrgäste und sich selbst im Abteil zu verstauen.
Vorsicht an der Bahnsteigkante: Nur wenige Sekunden bleiben dem Zugbegleiter, um alle Fahrgäste und sich selbst im Abteil zu verstauen. © Paul Glaser

Züge an sich waren immer schon Wenzels Welt. Als Elfjähriger bekam er seine erste Modelleisenbahn. Sein Kinderzimmer bot zwar nicht viel Platz, abends kippte er die Platte aber einfach an die Wand hoch oder schlief gleich darunter. Seit vielen Jahren engagiert er sich nun schon in Eisenbahnvereinen und trägt gern seine historische Uniform, auch wenn ihm die Mütze inzwischen ein bisschen klein geworden ist.

Für den Dienst im Trilex bekommt er die Kleidung gestellt. Unter seiner dunkelblauen Weste trägt er ein kurzärmliges weißes Hemd. Über dem Namensschild außerdem einen Trilex-Anstecker, den ihm die Marketingabteilung ins Fach gelegt hat. Dazu eine blaue Hose und schwarze Schuhe. Zweimal im Jahr darf jeder Mitarbeiter sich neue Sachen im Internet bestellen.

Ein paar Plätze weiter im Zug nach Dresden sitzt der coolste Gast mit umgedrehter Kappe, Sonnenbrille und einer 0,5-Liter-Dose Energydrink in der Hand. „Ich hab es zeitlich nicht geschafft, mir ein Ticket zu holen“, sagt er. „Kein Problem“, antwortet Wenzel. „Hier kommt der sprechende Automat auf zwei Beinen.“ Er mag diese lustigen Sprüche, und manchmal lachen die Fahrgäste auch. Der hier lacht nicht, lässt sich sein Ticket ausstellen und widmet sich wieder seinem Energydrink.

Die Zange kommt bei der Kontrolle nur noch selten zum Einsatz. In der Regel schaut Wenzel auf Handydisplays.
Die Zange kommt bei der Kontrolle nur noch selten zum Einsatz. In der Regel schaut Wenzel auf Handydisplays. © Paul Glaser

Die Bahnhöfe in Breitendorf, Pommritz und Kubschütz gehören zu den sogenannten Bedarfshalten. Wenn niemand drückt und keiner am Bahnsteig wartet, dann fährt der Lokführer weiter. Heute muss er allerdings überall halten, was den sowieso schon knapp kalkulierten Zeitplan nochmals strafft. In Löbau hält der Zug kaum 30 Sekunden lang. Dabei steigt hier fast die Hälfte der Passagiere aus und genauso viele wieder zu. Die Türen schließen sich, und der Trilex setzt sich wieder in Bewegung. Bis Bischofswerda besteht der Zug nur aus einem Triebwagen, deswegen kann es zu dieser Zeit vor allem ab Bautzen schon mal etwas enger werden. Heute kann aber jeder sitzen – außer Veit Wenzel natürlich.

Für ihn ist das hier ein Traumjob. Bis 2008 war er noch Fahrdienstleiter im Leitstand, musste diese Aufgabe aber krankheitsbedingt abgeben. Nach drei Jahren bei einer Zeitarbeitsfirma wurde ihm dort gekündigt. „Etwas Besseres hätte mir gar nicht passieren können“, sagt er heute. „Deswegen hat mir das Jobcenter die Ausbildung zum Zugbegleiter bezahlt.“

In Bischofswerda wird ein zweiter Triebwagen angekoppelt.
In Bischofswerda wird ein zweiter Triebwagen angekoppelt. © SZ/Henry Berndt

Ein junger Mann reicht ihm eine weiße Chipkarte – seinen Studentenausweis von der HTW in Dresden. „Nee, geht nicht“, sagt Wenzel und gibt die Karte zurück. Für einen Moment schauen sich die beiden wortlos an. Seit Kurzem gelte der HTW-Ausweis nur noch im Verkehrsverbund Oberelbe und nicht mehr im Verbund Oberlausitz-Niederschlesien, erklärt der Zugbegleiter. Der junge Fahrgast ist nicht begeistert, zahlt aber bereitwillig die 10,80 Euro von Bautzen bis Arnsdorf.

Als es Wenzel einmal hin und zurück geschafft hat, nimmt er erst einmal einen großen Schluck aus seiner Apfelstückchen-Wasserflasche. Und weiter geht's. „Ist hier noch jemand zugestiegen?“ Wieder leuchten die Displays. „Eigentlich mag ich diese Handytickets ja nicht so“, flüstert er in einer ruhigen Ecke. „Das dauert oft ewig, bis die Leute den Code auf ihrem Telefon gefunden haben.“ Andererseits, in vollgestopften Portemonnaies ist das mit den Papiertickets manchmal nicht anders.

Ein Mann mit Musik auf den Ohren schläft mit dem Kopf auf dem Tisch vor sich. Wenzel mustert ihn kurz und beschließt dann, dass er ihn vorhin schon kontrolliert hat. Wenn doch mal jemand ein Papierticket vorzeigt, dann kommt manchmal noch der Knipser zum Einsatz, den Wenzel liebevoll „Zangenrevolver“ getauft hat. Manchmal, so sagt er, hätten die Leute schon geglaubt, er ziehe eine Pistole aus dem Holster, wenn er zur Zange greift.

Kurz vor Dresden-Hauptbahnhof ist der zweite Wagen fast leer.
Kurz vor Dresden-Hauptbahnhof ist der zweite Wagen fast leer. © SZ/Henry Berndt

Nächster Halt: Bischofswerda. Jetzt wird's spannend. Ein zweiter Triebwagen wird angekoppelt. Wenzel springt aus dem Zug und beobachtet das Schauspiel. Dank der modernen Scharfenberg-Kupplung muss da niemand was mit der Hand drehen, erklärt er. Das macht einmal „Zisch“, und die Sache ist erledigt. Wenn richtig viel los wäre, dann wäre jetzt eine Durchsage fällig, dass der hintere Wagen noch frei ist. Heute ist das nicht nötig. In Arnsdorf wechselt Wenzel im Laufschritt in den zweiten Wagen und schaut auch hier nach dem Rechten. Viel zu kontrollieren gibt es nicht, aber ein paar Gurte einzuhaken und leere Flaschen aufzuräumen.

„Hatschiii“, bricht es zwischendurch aus ihm heraus. „Alle wach?“

Durchsage im „nicht arbeitenden Führerstand“: "Einen schönen Abend und gute Weiterfahrt!"
Durchsage im „nicht arbeitenden Führerstand“: "Einen schönen Abend und gute Weiterfahrt!" © SZ/Henry Berndt

Kurz vor Dresden-Neustadt säuselt er dann doch eine Durchsage ins Mikrofon im „nicht arbeitenden Führerstand“ und informiert die Gäste textsicher über die möglichen Anschlüsse. Vor dem Hauptbahnhof verabschiedet er sich freundlich. Erster Akt geschafft. In einer halben Stunde geht es zurück. Diesmal mit drei Wagen, alle mit unterschiedlichen Zielen: Zittau, Zgorzelec, Liberec. Zwischendrin werden die getrennt, aber wo und wann? Im Minutentakt sprechen ihn die Gäste auf dem Bahnsteig an und jeder bekommt eine freundliche Antwort. „Am Ende brauche ich allerdings ne Schere, um mir die Fransen vom Mund abzuschneiden“, sagt er und kichert.

Auf dem Rückweg ist auf halber Strecke in Bischofswerda Pause. Für einen Döner reicht die Zeit nicht, aber Veit Wenzel hat sich Schnitten mit Käse und Kohlrabi mitgebracht. Der Schmaus gibt ihm die nötige Energie für den zweiten Teil der Schicht. Jetzt setzt er sich sogar mal hin, aber nur so lange wie nötig. Der Automat auf zwei Beinen hat noch viel vor bis Feierabend.

  • Mehr als 9.000 Menschen aus Ost- und Mittelsachsen haben für den Mobilitätskompass Einblick in ihr Mobilitätsverhalten gegeben. Der Mobilitätskompass wurde unter wissenschaftlicher Begleitung der Evangelischen Hochschule Dresden und in Kooperation mit der Agentur "Die Mehrwertmacher" entwickelt und ausgewertet, die darauf geachtet haben, dass die Aussagen belastbar sind. Bis Anfang Dezember veröffentlicht Sächsische.de die regionalen und lokalen Ergebnisse. Alle erschienenen Beiträge finden Sie auch auf www.saechsische.de/mobilitaetskompass

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