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Tödliche Messerattacke in Pirna: Keine Anklage im Fall Jura

Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren zum gewaltsamen Tod des 20-Jährigen im September 2022 ein. Hinterbliebene und der Anwalt der Familie sind schockiert.

Von Thomas Möckel
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Grab von Jura auf dem Friedhof Pirna: Die Hinterbliebenen sind über die Einstellung des Verfahrens schockiert.
Grab von Jura auf dem Friedhof Pirna: Die Hinterbliebenen sind über die Einstellung des Verfahrens schockiert. © Daniel Förster

Über ein Jahr ist es her, seit der 20-jährige Jürgen, von seinen Freunden Jura genannt, am Abend des 24. September 2022 in dem kleinen Park vor der Commerzbank in Pirna eines gewaltsamen Todes starb: An den Folgen einer Stichverletzung im Bauch, die ihm offenbar ein anderer zugefügt hatte. Tatverdächtig war ein zum Tatzeitpunkt 15-jähriger Jugendlicher. Seither zieht sich die Aufklärung des Falls in die Länge.

Auf mehrfache Nachfrage teilte die Staatsanwaltschaft Dresden wiederholt mit, es handle sich im vorliegenden Fall um ein umfangreiches Verfahren mit einer komplexen Beweislage. Regelmäßig hieß es, die Ermittlungen seien noch nicht abgeschlossen und würden noch Zeit in Anspruch nehmen. Angaben zum Zwischenstand machte die Anklagebehörde keine, um die Ermittlungen nicht zu gefährden. So gab es auch Ende September - zum ersten Todestag von Jura - von der Staatsanwaltschaft nichts Neues zu berichten.

Doch nun gibt es in dem Verfahren ein Ergebnis. Eines, das viele ratlos zurücklässt, ernüchtert und schockiert – weil Juras Tod zumindest vorläufig wohl ungesühnt bleibt. Die Staatsanwaltschaft Dresden hat mit Verfügung vom 5. Oktober das Ermittlungsverfahren gegen den Tatverdächtigen hinsichtlich des Tatvorwurfs der Körperverletzung mit Todesfolge eingestellt. Das hat die Pressestelle der Staatsanwaltschaft inzwischen auch offiziell bestätigt.

Beschuldigter hat in Notwehr gehandelt

Hinsichtlich der Einstellung beruft sich die Staatsanwaltschaft auf Paragraf 170 Absatz 2 der Strafprozessordnung. Demnach kann sie das Ermittlungsverfahren gegen einen Beschuldigten einstellen, wenn die Ermittlungen aus Sicht der Anklagebehörde keinen genügenden Anlass zur Klageerhebung bieten. „Diese Entscheidung hat die Angehörigen und mich sehr schockiert“, sagt Rechtsanwalt Ulli Boldt, der die Familie des Toten vertritt, „denn damit hatte niemand gerechnet.“ Für die Hinterbliebenen fühle sich der Umstand, dass das Verfahren eingestellt ist, wie ein Schlag ins Gesicht an.

Zur Begründung führt die Staatsanwaltschaft an, es habe sich erwiesen, dass der Beschuldigte in Notwehr gehandelt habe. Er hatte am 24. September 2022 dem 20-Jährigen ein Messer in den Bauch gestochen. Der Mann erlag wenig später seinen Verletzungen. Umfangreiche Ermittlungen hätten ergeben, dass der 20-Jährige den Jugendlichen angegriffen hat und dieser sich wehrte.

Allerdings, sagt Boldt, habe die Staatsanwaltschaft in dem an ihn gerichteten Schreiben auch aufgeführt, man wisse nicht viel über die Tat, es lasse sich nicht feststellen, wie sich der Tod von Jura zugetragen habe. Neutrale Zeugen und objektive Beweismittel gebe es nicht, was die Ermittlungen erschwerte. Dass sich der Fall als kompliziert erweist und es schwierig wird, den Tathergang und die weiteren Umstände zu recherchieren, hatte sich schon kurz nach der Tat abgezeichnet.

Bereits damals schilderten Freunde des 20-Jährigen, dass keiner von ihnen die Tat unmittelbar gesehen habe. Als sie den jungen Mann nach einer Suche – weil der nach einer Weile nicht zum vereinbarten Treffpunkt im nahen Friedenspark zurückgekehrt war – fanden, habe er bereits schwer verletzt auf dem kleinen Querweg im Park vor der Pirnaer Commerzbank gelegen. Polizisten, Rettungskräfte und eine Notärztin kämpften dann über eine halbe Stunde um das Leben des jungen Mannes, konnten aber letztendlich nichts mehr für ihn tun.

Hinterbliebenen-Anwalt prüft Rechtsmittel

Darüber, was zuvor geschah, gab es widersprüchliche Aussagen, nichts davon ließ sich damals verifizieren oder nachprüfen. Einige aus Juras Freundeskreis berichteten seinerzeit, Auslöser der Tat sei eine Flasche Bier gewesen. Jura habe sie in der Hand gehalten, der Tatverdächtige habe ihm das Getränk weggenommen, Jura sei ihm deswegen hinterher, um es wiederzuholen. Dabei sei dann wohl die Situation eskaliert. Aber auch diese Version mit der Bierflasche, sagt Boldt, lasse sich nach Aussage der Staatsanwaltschaft nicht bestätigen.

Der damals 15-jährige Tatverdächtige wurde noch in der Tatnacht in Heidenau vorläufig festgenommen, kam aber kurz darauf wieder frei. Untersuchungshaft wurde keine angeordnet. Die Staatsanwaltschaft ging kurz nach der Tat zunächst dem Verdacht eines Tötungsdelikts nach, das änderte sich aber wenig später. Anderthalb Tage nach der Tat teilten die Ermittler mit, dass sie nun wegen des Verdachts einer Körperverletzung mit Todesfolge ermitteln. Gegen den Beschuldigten bestehe ein Anfangsverdacht, dem 20-jährigen Jura mit Verletzungsabsicht mit einem Messer in den Bauch gestochen habe.

Laut dem Ermittlungsstand kurz nach der Tat hätte nach Aussage der Staatsanwaltschaft auch eine Notwehrlage nicht ausgeschlossen werden können. Somit war ein dringender Tatverdacht vom Tisch, damit fiel auch eine entscheidende Grundlage weg, um Untersuchungshaft zu verhängen. Zudem kommt eine Untersuchungshaft bei Minderjährigen unter 16 Jahren bis auf wenige Ausnahmefälle ohnehin nicht in Betracht.

Für Boldt indes bleibt Juras Tod weiterhin die Folge einer Straftat, daher wollen er und die Familie des Toten die Entscheidung, das Ermittlungsverfahren einzustellen, so nicht hinnehmen und auf sich sitzen lassen. „Ich bewerte die Lage anders und kann auch keine Notwehrlage erkennen“, sagt der Jurist gegenüber Sächsische.de. Gemeinsam mit der Familie will Boldt nun beraten, ob er Rechtsmittel einlegt, im Moment läuft vieles darauf hinaus. Er habe die Möglichkeit, Beschwerde bei der Generalstaatsanwaltschaft einzulegen – um möglicherweise zu erreichen, dass das Ermittlungsverfahren wieder aufgenommen und fortgeführt wird.