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Pirna: Stadtrat verlässt Freie Wähler

André Liebscher kehrt der Fraktion nach nur einem Jahr den Rücken. Die früheren Mitstreiter sind enttäuscht und verärgert.

Von Thomas Möckel
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Der Pirnaer Stadtrat André Liebscher: Er arbeitet künftig als fraktionsloser Abgeordneter.
Der Pirnaer Stadtrat André Liebscher: Er arbeitet künftig als fraktionsloser Abgeordneter. © Sven Legler

Unruhe im Pirnaer Stadtrat. Kaum war die Nachricht publik, dass die AfD-Abgeordnete Liane Roy aus gesundheitlichen und Stefan Thiel, Chef der Fraktion "Bündnis 90/Die Grünen/SPD", aus beruflichen Gründen den Pirnaer Stadtrat verlassen wollen, dreht sich das Personalkarussell erneut weiter.

Am Dienstagvormittag verschickte Stadtrat André Liebscher eine Erklärung mit brisantem Inhalt: Er tritt zum 1. Februar aus der Fraktion "Freie Wähler" (FW) aus. "Dieser Schritt", sagt Liebscher, "war für mich ein längerer Prozess der Selbstreflexion."

Seinen Entschluss teilte er auch der Fraktion mit, allerdings nur mit einer knapp gehaltenen Kurznachricht an Fraktionschef Ralf Böhmer. Die Vorwürfe, die Liebscher in seiner Pressemitteilung gegen die Fraktion erhebt, sind darin nicht enthalten.

Böhmer ist darüber sehr verärgert, er hätte mehr erwartet, als die aus seiner Sicht "lächerlich kurze Erklärung". Erst am Montag hatten die Freien Wähler bei einer großen Fraktionssitzung miteinander konferiert, Liebschers Austritt war da noch kein Thema. Liebscher selbst hatte an dieser Sitzung nicht teilgenommen. "Uns das jetzt auf diese Weise mitzuteilen, zeugt nicht gerade von Größe", sagt Böhmer.

Es kriselte schon im Herbst 2020

So ganz überraschend kam Liebschers Abgang für die Freien Wähler allerdings nicht, es war eher einer mit Ansage. Laut FW-Stadtrat Thomas Gischke habe es schon im Herbst 2020 gekriselt, vor allem zwischen Liebscher und seinem einstigen Fürsprecher Böhmer. Anlass dafür seien hauptsächlich fehlende Abstimmungen darüber gewesen, welche Themen im Stadtrat aufgegriffen werden sollen.

Liebscher erbat sich Bedenkzeit, um auszuloten, wie er die noch verbleibende Zeit bis 2024 im Stadtrat mitarbeiten möchte. Nun steht fest: allein, als fraktionsloser Abgeordneter, ohne die Freien Wähler.

Mit seinem Entschluss manifestiert Liebscher vorerst das Finale seines kommunalpolitischen Engagements, das bislang ein durchaus wechselvolles war.

Ein wechselvolles politisches Engagement

2016 und 2017 unterstützte Liebscher den parteilosen Oberbürgermeister-Kandidaten Tim Lochner im Wahlkampf. Aus dieser Initiative ging später die Wählervereinigung "Pirna kann mehr" (PKM) hervor, sie wurde für eine Zeit lang Liebschers politische Heimat.

Im Dezember 2017 begann er, beruflich als Büromitarbeiter der partei- und fraktionslosen Bundestagsabgeordneten Frauke Petry zu arbeiten, die zuvor im September als Direktkandidatin der AfD in den Bundestag gewählt worden war. Kurz darauf trat sie jedoch aus Partei und Fraktion aus. Das Arbeitsverhältnis ist seit geraumer Zeit aufgelöst.

Einige Monate später spaltete sich PKM in zwei Lager, Liebscher und Lochner standen plötzlich auf verschiedenen Seiten, inzwischen haben sich die beiden längst überworfen. Liebscher trat zur Wahl 2019 für den einen PKM-Flügel an, wurde gewählt und bildete zunächst mit Thomas Mache (PKM) sowie Bernd Köhler und Walter Matzke (beide Pirnaer Bürgerinitiativen) eine Fraktion im Stadtrat. Diese Liaison hielt bis Anfang 2020.

Die Freien Wähler waren anfangs skeptisch

Bereits im Herbst 2019 gab es erste Annäherungsversuche zu den Freien Wählern, weil Liebscher mit der Arbeit der eigenen Fraktion haderte. Liebe auf den ersten Blick war es nicht, denn noch zu Wahlkampfzeiten trennten PKM und Freie Wähler Welten.

Die Freien Wähler befürworteten beispielsweise von Anfang an den Industriepark Oberelbe (IPO), Liebscher betrachtete das Projekt eher skeptisch bis ablehnend. Und die Freien Wähler mussten nach einem Formfehler auf Betreiben von PKM ihre Kandidaten für die Wahl 2019 noch einmal nominieren, andernfalls hätten sie gar nicht antreten können.

So war der Widerstand bei den Freien Wählern anfangs groß, Liebscher in ihre Fraktion zu holen. "Auch ich war sehr skeptisch, ob wir ihn aufnehmen sollen", sagt Gischke. Letztendlich habe Ralf Böhmer die Fraktion von Liebschers Fleiß und Kompetenz im sozialen Bereich überzeugt. Anfang Februar 2020 saß er in ihren Reihen.

Bei den Freien Wählern, sagte Liebscher damals, sehe er eine Kommunalpolitik, die zu 100 Prozent auf Pirna fokussiert und bei der Parteipolitik nachrangig sei. Die Fraktion stünde für gestaltende Ideen, auch habe ihn die gute Zusammenarbeit untereinander überzeugt.

Schwere Vorwürfe gegen die Fraktion

Ein Jahr später klingt das alles ganz anders, es liest sich wie eine Blaupause dessen, was Liebscher sagte, als er 2020 seine alte Fraktion verließ.

Zunächst war Liebschers Aufgabe bei den Freien Wählern klar umrissen: Er sollte die Themen Schule, Kita und Soziales voranbringen, weil der Fraktion dazu zum Teil die personelle Kraft fehlte.

Seine Erwartungen an eine gemeinsame Fraktionsarbeit hätten sich allerdings nicht erfüllt. "Diese Themen wurden kaum beachtet und weiter hintenan gestellt", sagt Liebscher. Zudem sei die Fraktionsarbeit zu wenig an den Erwartungen, Problemen und Wünschen der breiten Masse der Pirnaer ausgerichtet. Auch vermisse er eine ausreichende Handlungsfreiheit, er fühle sich zerrieben zwischen parteipolitischen Interessen.

"Wir weinen ihm keine Träne nach"

Trotz allem stellen die Freien Wähler auch jetzt Liebschers Fleiß und Engagement nicht infrage, gleichwohl sitzt der Ärger über diese Austrittsbegründung tief. "Diese Vorwürfe sind ziemlich heftig und diffamieren einen jeden von uns", sagt Böhmer. Auch für Gischke sei diese Begründung weit hergeholt.

Die Arbeit der Fraktion, sagt Böhmer, richte sich stets an den Interessen der Pirnaer aus. Die Fraktion sei Ansprechpartner für Einwohner und Rathaus gleichermaßen, sie vereine viele kompetente Mitglieder, die gemeinsam etwas bewegen wollen.

Im Vordergrund stehe Lokalpolitik für die Stadt, es gehe weder um bundespolitisches Geplänkel noch um parteipolitische Interessen. Bei den Freien Wählern gelte das Motto: Hauptsache, es ist gut für Pirna.

Über Aufgaben und Projekte, so Böhmer, stimme man sich stets in der Fraktion ab. Doch André Liebscher habe oft ohne Absprache sein eigenes Ding durchgezogen. Äußerst vergnatzt ist der Fraktionschef darüber, das Liebscher ein Jahr lang die Ressourcen der Freien Wähler nutzte, sie aber in seinem Stadtratsblog im Internet so gut wie nie erwähnte.

Insofern hält sich die Trauer über seinen Abgang in Grenzen. "Es ist sicher ein Verlust, den wir bedauern", sagt Böhmer, "aber wir weinen ihm keine Träne nach."

Eine Zukunft als fraktionsloser Stadtrat

Liebscher selbst will weiterhin Stadtrat bleiben und sich als Mann der Mitte positionieren. Im Fokus seiner Arbeit sollen soziale Themen, Stadtentwicklung und Verkehrswende stehen. Dabei verstehe er sich nicht als Opposition zu Rat und Rathaus, sondern als Partner.

Er wolle sich verantwortungsbewusst und sachorientiert für Pirna einsetzen. "Dabei sehe ich für mich als unabhängiger und fraktionsloser Stadtrat mehr Entscheidungs- und Handlungsspielräume innerhalb des Rates, um Pirna im Sinne der Stadt und der Pirnaer mitzuentwickeln", sagt Liebscher.

So ein fraktionsloses Dasein bringt allerdings auch Nachteile mit sich. So ist man beispielsweise von bestimmten Informationswegen abgeschnitten und hat keinen Anspruch auf Posten in Ausschüssen. Ob die Ausschüsse nach Liebschers Fraktionsaustritt nun neu besetzt werden, steht noch nicht fest.

Einen Anschluss an eine andere Fraktion, erst recht die Rückkehr zu seiner alten Fraktion, schließt Liebscher aus. "Ich bleibe lieber allein", sagt er, "da fühle ich mich in meinen Entscheidungen freier."

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