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Als Horch und Guck mit dem Mangel kämpfte

Beim Bau des „Lugsteins“ muss selbst die Stasi um Material betteln. Und dann fehlen auch noch Fachkräfte.

Von Jörg Stock
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Mit diesem Schlüssel eröffnete die Staatssicherheit 1978 symbolisch ihr Ferienheim „Am Lugstein“. Der heutige Lugsteinhof-Chef Jochen Löbel hütet das Relikt.
Mit diesem Schlüssel eröffnete die Staatssicherheit 1978 symbolisch ihr Ferienheim „Am Lugstein“. Der heutige Lugsteinhof-Chef Jochen Löbel hütet das Relikt. © Egbert Kamprath

Zimmerleute denken praktisch. Das Problem: Ihre Werkstatt ist im Sockelgeschoss der Baubaracke, die Küche oben drüber. Zugang hinten rum. Für die Kaffeepause wären etliche Schritte zu gehen. Die Lösung: Kräftig gegen die Decke klopfen, dabei „Ingrid, zwei Kännchen Kaffee!“ rufen, anschließend eine Stange mit improvisiertem Tablett zum Küchenfenster hochschieben – und schon ist die Bestellung da.

So soll es zugegangen sein auf der Baustelle des Ferienheims „Am Lugstein“ in Zinnwald. Jedenfalls erinnert sich der Maurer Konrad Nitzsche sehr gut an diese Episode. Der 79-jährige Geisinger war von Beginn an bei dem Großprojekt dabei. Eine schöne Zeit, sagt er, ein gutes Miteinander unter den Kollegen. Man quatschte zusammen, machte zusammen seine Fuffzehn. „Nicht so ein Gerammel wie heutzutage.“

Die Richtkrone schwebt über dem Rohbau des Ferienheims „Am Lugstein“. Gut zu sehen: die Stahlskelettbauweise mit eingepassten Betonfertigteilen.
Die Richtkrone schwebt über dem Rohbau des Ferienheims „Am Lugstein“. Gut zu sehen: die Stahlskelettbauweise mit eingepassten Betonfertigteilen. © BStU

Kein Stress? Dabei ist das „Sonderobjekt Zinnwald“ bei seinem Bauherrn, der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden, hoch angebunden. Der Lugstein wird das erste Ferienobjekt des Geheimdienstes im Osterzgebirge sein. Er steht in herrlicher Landschaft, die winters zum schneesicheren Skigebiet wird. Der Urlaub soll die Mitarbeiter für den Klassenkampf stärken, verkündet Dresdens MfS-Chef, Generalmajor Rolf Markert, im Mai 1976 am Grundstein. Das will sich der Staat runde 20 Millionen Mark kosten lassen.

Generalauftragnehmer ist der VEB Spezialhochbau Berlin, kurz SHB genannt. Pro forma eigenständig, untersteht der Betrieb doch faktisch der Verwaltung Rückwärtige Dienste des MfS. Dutzende „Offiziere im besonderen Einsatz“ koordinieren die Arbeit an den verschiedenen Projekten, darunter Dienstgebäude und Sportstätten. Maurer Nitzsche kommt eher zufällig zum SHB, als seine Firma Dynamobau in diesem frisch gegründeten Betrieb aufgeht.

Bereit für die urlaubsbedürftigen Mitarbeiter der DDR-Geheimpolizei: das Ferienheim bei seiner Fertigstellung im Jahr 1978.
Bereit für die urlaubsbedürftigen Mitarbeiter der DDR-Geheimpolizei: das Ferienheim bei seiner Fertigstellung im Jahr 1978. © BStU

Nun tuckerte der Handwerker allmorgendlich mit seinem Moped von Geising an den Lugstein. Die Baustelle hat er als gut organisiert erlebt. Dass mal Leute oder Material gefehlt hätten, so wie auf seinen Feierabendbaustellen die Regel, das ist ihm nicht erinnerlich. „Der Bauablauf wurde durchgezogen.“ Die Oberaufsicht durch die Stasi war damals kaum spürbar, sagt Nitzsche. Formelle Verschwiegenheitserklärungen habe man nicht abgeben müssen. Trotzdem sei jeder gehalten gewesen, außerhalb nicht zu viel „zu plappern“. Nitzsche nennt das eine Art „inoffizielle Schweigepflicht“. Dass die MfS-Bauleitung die Arbeiter durch örtliche IMs beobachten ließ, wie aus den Stasi-Unterlagen hervorgeht, überrascht ihn wenig. „Es hieß ja nicht umsonst Horch und Guck.“

Doch die Mangelwirtschaft trifft Horch und Guck durchaus. Schon kurz nach der Grundsteinlegung, im Juni 1976, meldet Hauptmann Schirpke vom Rückwärtigen Dienst der Dresdner MfS-Zentrale große Schwierigkeiten bei der Materialversorgung auf der Baustelle Zinnwald. So fehlten Fundamenteisen, Kabel, Steckverbindungen, Werkzeuge. Die laufende Umgruppierung der Arbeiter sorge bei diesen für „Unwillen und Unlust“. Weil der Kran plötzlich nach Karl-Marx-Stadt beordert worden sei, hätten in Zinnwald Platten nicht abgeladen und verlegt werden können. Die schlechte Organisation und die Mangelerscheinungen, so resümiert der Hauptmann, führten zu Arbeitsausfällen. Bei der Brigade E etwa summierten sich die Fehlzeiten pro Woche auf bis zu acht Stunden.

Originelle Innenausstattung: Im Haus gibt es mehrere thematisch gestaltete Gesellschaftsräume, darunter auch ein Jagdzimmer.
Originelle Innenausstattung: Im Haus gibt es mehrere thematisch gestaltete Gesellschaftsräume, darunter auch ein Jagdzimmer. © BStU

Dass es am Lugstein immer wieder klemmt, obwohl das Ferienheim als sogenanntes LVO-Vorhaben eingestuft ist, also der Landesverteidigung dient, belegen die Stasiakten an viele Stellen. So sieht sich der VEB Hochbau Hermsdorf/Erzgebirge außerstande, für 160 000 Mark das Dach des Ferienheims zu decken, weil damit die gesamte Jahreskapazität des Betriebs gebunden wäre und es dafür keine Erlaubnis vom Kreisbauamt gebe. Der VEB Baustoffversorgung Rostock meldet in Oktober 1977, die bestellten verchromten Auslaufventile, gemeint sind Wasserhähne, stünden nicht bereit. Nur ein einziges Fabrikat komme infrage, und das sei ein Import, den der Leitbetrieb für sanitäre Armaturen in Herzberg erst genehmigen müsse. Lieferung? Vielleicht im nächsten Sommer.

Auch die Stühle sind ein Problem. Das Dresdner MfS möchte 500 Stück Stahlrohrarmlehnstühle in Rot, Grün, Gold und Sand haben. Zwar ist das mit dem VEB Rabenauer Polstermöbel schon im November 1976 abgesprochen. Doch im September 1977 grätscht die Vereinigte Sitzmöbelindustrie Neuhausen forsch dazwischen: Zuweisung von Stühlen an Sonderbedarfsträger nur mit Bestätigung der staatlichen Plankommission. „Außerdem möchten wir bemerken, daß die von Ihnen gewünschten Modelle nicht zur Verfügung stehen.“

Die Ferienprogrammtafel in der Lobby ist das Werk des Oelsaer Intarsienmachers Helmut Raabe. Sie wird bis heute benutzt.
Die Ferienprogrammtafel in der Lobby ist das Werk des Oelsaer Intarsienmachers Helmut Raabe. Sie wird bis heute benutzt. © Egbert Kamprath

Die Wirtschaft in der DDR läuft streng nach Plan. Und der Plan ist Gesetz. Sonderaufträge staatlicher Organe können den Betrieben zwar Privilegien einbringen. Ihre zivilen Aufgaben müssen sie aber dennoch erfüllen, und das verschärft die Engpässe. So kümmern sich die VEBs im Stillen um Reserven oder jagen sich gegenseitig das Personal ab. Auch der Spezialhochbau Berlin schreckt nicht davor zurück, wie die MfS-Akten bezeugen.

Im Juni 1976 empört sich der Vorsitzende des Rates des Kreises bei der Dippoldiswalder Stasi-Kreisdienststelle, der Spezialhochbau habe drei LPG-Arbeiter von der Baustelle der Milchviehanlage Johnsbach abgeworben. „Dabei wurde unter anderem ausgeführt, daß sie neben der höheren Vergütung (Berliner Tarif) auch die Möglichkeit erhalten, moderne Technik zu bedienen, die sie in ihrem jetzigen Baubetrieb in den nächsten Jahren nicht erhalten würden“, protokolliert Dienststellenleiter Major Wenzel die Beschwerde des Ratsvorsitzenden. Dieser habe die Sicherstellung des Bauwesens im Bereich der Landwirtschaft als „gröblichst gefährdet“ bezeichnet. Kein Einzelfall. Auch beim Betrieb Hochbau Schmiedeberg hatte der SHB laut Aktennotiz zu „wildern“ versucht.

„Ausgezeichnetes Ergebnis sozialistischer Gemeinschaftsarbeit“: Stasi-General Rolf Markert übergibt am 11. Oktober 1978 den symbolischen Schlüssel zum „Lugstein“.
„Ausgezeichnetes Ergebnis sozialistischer Gemeinschaftsarbeit“: Stasi-General Rolf Markert übergibt am 11. Oktober 1978 den symbolischen Schlüssel zum „Lugstein“. © Repro/Kamprath

Die Staatssicherheit nutzt die Ressourcen der Gegend, um ihr Ferienheim möglichst originell einzurichten. So stehen eines Tages zwei diskrete Herren bei dem Oelsaer Intarsienmacher Helmut Raabe auf der Matte und betrauen ihn mit einem Großauftrag. Er soll die Veranstaltungstafel fürs Foyer des Lugsteins mit seinen Holzbildern ausstatten. Dafür schaffen sie umgehend eine Kiste mit den sonst so raren Feinsägeblättern ran. Die Stasi habe auch ganz gut gezahlt, meint Raabes Sohn Jürgen. Die Arbeit habe sein Vater aber nicht der „Firma“ zuliebe gemacht, sagt er. „Er hat sie gemacht, weil er das Holz liebte.“

Am 11. Oktober 1978 wird das Ferienheim „Am Lugstein“ des Ministeriums für Staatssicherheit eingeweiht. Generalmajor Markert hängt den symbolischen Schlüssel aus Schmiedeeisen an eine Wand der Eingangshalle und trägt sich ins Gästebuch ein: „Dem Heimpersonal wünsche ich jederzeit ein gutes Gelingen, damit alle Potenzen und Möglichkeiten dieses Ferienobjekts voll ausgeschöpft werden.“

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