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Lehren aus Schwedens Corona-Strategie

Keine Verbote, kaum Masken, kann das gut gehen? Und wie ist die Bilanz in anderen Teilen der Welt? Der große Länder-Report.

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Geht Schweden in der Corona-Krise wirklich den besseren Weg?
Geht Schweden in der Corona-Krise wirklich den besseren Weg? © mauritius images / Yauhen Akulic

Von André Anwar (Stockholm), Felix Lill (Tokio), Thomas J. Spang (Washington), Dominik Straub (Rom) und Jochen Wittmann (London)

Baumarkt oder Kindergarten? Das ist hier die Frage. In Deutschland war die Grundversorgung mit Schrauben und Dübeln als allererstes wieder zugelassen. In Dänemark waren es Treffpunkte für die Kleinsten. Das Land im Norden ist als Paradies für Kinder bekannt. Schon im April wurden Schulen bis zur fünften Klasse, Krippen und Kindergärten wieder geöffnet, nachdem wegen Corona auch hier alles dicht war. „So bekommen Eltern mehr Ruhe bei der Arbeit zu Hause“, sagte die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen. „Das braucht ihr. Das brauchen wir alle.“

Corona geht um die Welt. Das Virus kennt keine Grenzen, es macht keinen Unterschied zwischen Deutschen, Dänen oder Chinesen. Aber die Menschen machen einen Unterschied. Gut zwei Monate nach dem Ausbruch der Pandemie in Europa und Amerika zeigt sich, wie verschieden die politischen Reaktionen sein können. Und wie unterschiedlich die Ergebnisse.

Eine Familie genießt die Sonne in Kopenhagen. Markierte Flächen auf dem Grasland helfen den Menschen, Abstand voneinander zu halten, wobei etwa 40 Quadratmeter Fläche für maximal 10 Personen markiert sind.
Eine Familie genießt die Sonne in Kopenhagen. Markierte Flächen auf dem Grasland helfen den Menschen, Abstand voneinander zu halten, wobei etwa 40 Quadratmeter Fläche für maximal 10 Personen markiert sind. © Ida Guldbaek Arentsen/Ritzau Scanpix/AP/dpa

Haben zum Beispiel die Dänen keine Angst vor Kindergarten-Virenschleudern? In Deutschland gelten miteinander spielende oder kabbelnde Kinder als besonders gefährlich, auch wenn Virologen sich noch nicht sicher sind, ob Corona in diesem Alter tatsächlich so ansteckend ist. Aber eins ist klar: Man kann Dreijährigen kaum klarmachen, dass sie Masken tragen und zwei Meter Abstand halten sollen.

Tatsächlich gab es auch in Dänemark nicht nur Jubel. „Mein Kind ist kein Versuchskaninchen“, lautete eine Petition gegen die Wiedereröffnung der Kindergärten. Immerhin 18.000 Unterschriften kamen zusammen. Laut staatlicher Studie hat sich die Zahl der Ansteckungen nach der Öffnung von Schulen und Kindergärten wieder erhöht. Allerdings nur so leicht, dass insgesamt die Rate der Neuansteckungen niedrig geblieben ist.

Schweden: Modell für die Zukunft?

Mehr noch als Dänemark sorgt weltweit vor allem ein anderes skandinavisches Land mit seinem Sonderweg für Aufsehen: Schweden. Für die einen ist es ein Musterbeispiel des lockeren Umgangs ohne staatliche Zwangsmaßnahmen, für die anderen ein hochriskantes Experiment. Seit Beginn der Krise blieb in Schweden fast alles geöffnet: Geschäfte, Schulen bis einschließlich neunte Klasse, Kindergärten, Büros, Bars, Restaurants, Fitnessstudios, Büchereien und sogar einige Kinos.

Relativ lange galt die Regel von maximal 500 Menschen, die zusammenkommen durften. Erst Ende März wurde die Zahl auf 50 Personen begrenzt, was im EU-Vergleich immer noch großzügig ist. Dies und eine Besuchssperre in Altenheimen sind die einzigen Verbote. Eine Maskenpflicht gibt es nicht. Die schwedische Regierung setzt auf Freiwilligkeit und das Verantwortungsbewusstsein der Bürger. Tatsächlich halten sich die Schweden gewissenhaft an alle Empfehlungen: Händewaschen, Abstandhalten, Daheimbleiben, wenn man sich auch nur leicht krank fühlt oder einer Risikogruppe angehört.

Mit Freunden im Restaurant sitzen? In Stockholm auch während der Pandemie nicht verboten.
Mit Freunden im Restaurant sitzen? In Stockholm auch während der Pandemie nicht verboten. © Anders Wiklund/AP/TT NEWS AGENCY/dpa

„Schwedens Art zu reagieren kann ein zukünftiges Modell dafür sein, wie man einer Pandemie begegnet“, sagt der Nothilfedirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Michael Ryan. Es sei falsch zu glauben, Schweden hätte gar keine Kontrollmaßnahmen ergriffen und einfach die Ausbreitung der Krankheit zugelassen. Die Behörden hätten sich jedoch auf ihr gutes Verhältnis zu den Bürgern und deren „Selbstregulierung“ verlassen.

Dabei ist Schweden an zwei Fronten erfolgreich. Zum einen zeigen Prognosen, dass hier viel schneller als anderswo eine Herdenimmunität erreicht werden könnte. Wenn viele das Virus irgendwann in sich hatten und dadurch wahrscheinlich immun sind, kann es sich nicht mehr so schnell ausbreiten. Allein in Stockholm, wo die meisten Infizierten leben, soll schon seit Anfang Mai ein Viertel aller Bürger durch eine überstandene Corona-Erkrankung immun geworden sein, schätzt das Gesundheitsamt. Deshalb gingen auch Kennziffern wie die Zahl der Neuinfizierten und Schwerkranken in Intensivstationen zurück, glaubt der Epidemiologe Anders Tegnell, eine Art schwedischer Christian Drosten.

Zum anderen will Schweden, wie andere Länder auch, vor allem eine Überlastung der Krankenhäuser durch zu viele Patienten gleichzeitig vermeiden. Dies ist dank schneller Verlagerung der Ressourcen in der Krankenpflege gelungen. Die Zahl der Corona-Patienten auf Intensivstationen lag stets weit unter der Zahl der oft leeren Behandlungsplätze.

Ausbreitung des Coronavirus in den einzelnen Ländern
Ausbreitung des Coronavirus in den einzelnen Ländern © dpa

Für Kritik an der schwedischen Strategie sorgt jedoch die Zahl der Corona-Toten. Inzwischen sind es über 3.000. Donald Trump sprach gar von einem Negativbeispiel. Auf die Einwohnerzahl gerechnet, liegt die Todesrate in Schweden etwa dreimal so hoch wie in Deutschland. Andererseits zeigen Länder wie Frankreich oder Großbritannien und Spanien eine deutlich höhere Sterblichkeit. Dort gelten längst viel drastischere Verbote. Letztlich sind die unterschiedlich erhobenen Werte sowieso nicht immer von Land zu Land vergleichbar. Vor allem sagen solche Statistiken wenig aus über die Strategien der Länder. Dazu spielen laut schwedischem Gesundheitsamt zu viele andere Faktoren mit hinein. In einigen Ländern werden etwa nur Corona-Tote in Krankenhäusern, nicht aber in Altenheimen gezählt.

Im Schutz der Altenheime liegt einer der größten Schwachpunkte in der Corona-Krise, auch in Schweden. Laut der Zeitung DN gab es in 541 Altersheimen Corona-Fälle, oft mit tödlichem Ausgang. „Es ist sehr unglücklich, dass es dort schon sehr früh eine große Ausbreitung gab“, sagt der Epidemiologe Anders Wallensten. Wie in anderen Ländern auch steht Schwedens Altenpflege nach Kürzungen und Privatisierungen seit Jahren in der Kritik. WHO-Nothilfechef Ryan hält es dennoch für falsch, Schwedens Grundstrategie mit der Anzahl der Infizierten in Altenheimen zu bewerten. Denn Länder mit scharfen Verboten hätten ganz ähnliche Probleme.

Italien: Europas Corona-Versuchslabor

Vor allem den Italienern wurde die Schwachstelle Altenheim zum tödlichen Verhängnis. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass hier ein gravierender Fehler die Ursache war: Als in Krankenhäusern für Corona-Patienten dringend Platz nötig war, wurden viele betagte Patienten zurück in ihre Altersheime geschickt, ohne zuvor einen Test zu machen. So wurden aus Spitälern und Altersresidenzen die schlimmsten Infektionsherde.

Eine Krankenschwester betreut einen Patienten auf der Notfallstation des Krankenhauses San Carlo in Milan.
Eine Krankenschwester betreut einen Patienten auf der Notfallstation des Krankenhauses San Carlo in Milan. © Antonio Calanni/AP/dpa

Aus solchen Fehlern konnten andere Länder später lernen, das ist das tragische Schicksal Italiens. Es war als erstes Land Europas mit der Corona-Pandemie konfrontiert: Als in Norditalien Anfang März ganze Städte zu Sperrzonen erklärt wurden und die Intensivstationen kurz darauf die ersten Patienten abweisen mussten, zählte man in Deutschland und in anderen Staaten der EU erst eine Handvoll Infizierte. So wurde Italien unfreiwillig eine Art von Corona-Versuchslabor Europas, auf das die Regierungen der Nachbarländer mit einer Mischung aus Gruseln und Interesse blickten.

Italienische Epidemiologen und Virologen rieten zu einem vollständigen Lockdown im ganzen Land schon ab 10. März. Diese europaweit härtesten Quarantäne-Maßnahmen haben Erfolg: Nachdem gegen Ende März noch täglich bis zu tausend Patienten starben, sind es Anfang Mai noch rund 200 pro Tag. Am Montag dieser Woche konnte sich die Regierung die ersten Lockerungen erlauben.

USA: Infizierte Gesellschaft

Davon sind die USA weit entfernt. Hier breitete sich das Virus später aus, dann aber umso verheerender. Es hat nicht nur viele Menschen, sondern auch Politik und Gesellschaft infiziert. Anders als der Zweite Weltkrieg oder der 11. September schweißt die Corona-Krise die Amerikaner nicht zusammen. Im Gegenteil verschärfen sich die Gegensätze zwischen Stadt und Land, religiösen und säkularen Kräften, Weißen und Minderheiten, Besserverdienern und prekär Beschäftigten, Republikanern und Demokraten.

Das Gesundheitssystem ist schon in normalen Zeiten überfordert, mit rund 29 Millionen unversicherten Amerikanern ohne Zugang zu medizinischen Leistungen. Drei Monate nach dem ersten nachgewiesenen Corona-Fall in Seattle fehlt es immer noch an Testkits, Schutzkleidung und Intensivbetten. Die Pandemie legt auch die krassen ökonomischen Gegensätze offen. Das auf Heuern und Feuern basierende System des Arbeitsmarkts hat auf einen Schlag zum Verlust von fast 30 Millionen Arbeitsplätzen geführt. Arme Amerikaner in sozialen Brennpunkten erkranken häufiger und sterben überproportional.

Die USA verzeichnen so viele Corona-Tote wie sonst kein Land. Dennoch fordern Anhänger Donald Trumps den baldigen Ausstieg aus dem Lockdown.
Die USA verzeichnen so viele Corona-Tote wie sonst kein Land. Dennoch fordern Anhänger Donald Trumps den baldigen Ausstieg aus dem Lockdown. © Watchara Phomicinda/The Orange County Register/dpa

Statt die Nation in dieser Krise zusammenzubringen, schürt Präsident Donald Trump die Gegensätze und versucht die Verantwortung für sein eigenes Versagen auf andere abzuschieben. Es sind vor allem die demokratischen Gouverneure, gegen die Trump mobilisiert. Seine Anhänger halten sich wider alle Vernunft nicht an die Regeln der sozialen Distanzierung.

Das Ergebnis ist ein Land, in dem es mit über 1,2 Millionen Menschen so viele Infizierte gibt wie nirgendwo sonst auf der Welt. Und das sich, uneins über den weiteren Umgang mit der Pandemie, mit großen Schritten auf 100.000 Corona-Tote zubewegt.

In Europa ist inzwischen Großbritannien trauriger Spitzenreiter bei den Totenzahlen. Mittlerweile hat das Land Italien überholt und verzeichnete laut der nationalen Statistikbehörde ONS am Dienstag mehr als 32.000 Corona-Opfer. Und das sind nur die offiziellen Zahlen. Wird die Übersterblichkeit mit berücksichtigt, also die Todesfälle in Altersheimen und in privaten Haushalten, so sind nach einer Schätzung der Zeitung Times sogar mehr als 55.000 Menschen dem Virus zum Opfer gefallen. Großbritannien, das wird immer deutlicher, ist erst Ende März und damit viel zu spät in den Lockdown gegangen. Jetzt sollen die Verbote erst einmal bleiben. Restaurants, Kinos, Fitnessstudios sind geschlossen, nur Geschäfte des Grundbedarfs sind geöffnet, und für die Bevölkerung gilt weiterhin die strikte Anweisung: Zu Hause bleiben!

Die Kritik der Opposition am Vorgehen der Regierung bleibt trotz der horrenden Zahlen verhalten – in einer nationalen Krise will sich der neue Labour-Chef Keir Starmer nicht dem Vorwurf der „politischen Sabotage“ aussetzen. Doch die Gewerkschaften laufen Sturm gegen die mangelnde Versorgung von Arbeitern in Schlüsselsektoren mit Schutzkleidung und Gesichtsmasken.

Südkorea: eine Krise Vorsprung

Und dann ist da noch, neben Schweden, das zweite Musterbeispiel am anderen Ende der Welt: Südkorea. Dabei sah es Anfang März noch so aus, als wäre der ostasiatische Staat mit seinen knapp 52 Millionen Einwohnern das internationale Sorgenkind. Binnen zwei Wochen ab Mitte Februar hatte sich die Zahl infizierter Personen von nur 28 auf weit über 5.000 vervielfacht. Und das, nachdem Präsident Moon Jae-in versichert hatte, im Land drohe kein großer Ausbruch. Nachdem aber eine Sekte südöstlich der Hauptstadt durch ihre Gottesdienste eine Infektionskette losgetreten hatte, war klar: Der Präsident hatte sich getäuscht. Südkorea steckte plötzlich tief im Schlamassel.

Mitglieder der Koreanischen Bürgervereinigung für Umweltgesundheit bereiten sich auf einen Auftritt auf einer Veranstaltung zur Feier des 50. Jahrestages des Earth Day vor.
Mitglieder der Koreanischen Bürgervereinigung für Umweltgesundheit bereiten sich auf einen Auftritt auf einer Veranstaltung zur Feier des 50. Jahrestages des Earth Day vor. © Ahn Young-Joon/AP/dpa

Hinter China war es Anfang März das vom Virus am stärksten betroffene Land der Welt. Mittlerweile stagniert die Zahl positiver Infektionsfälle seit Wochen bei gut 10.000. So schaut die Welt längst mit Bewunderung nach Südkorea. Denn nach dem kurzen Verschlafen des Ausbruchs schmiss die Regierung in Seoul ihr Krisenmanagement mit voller Kraft an.

Binnen Tagen waren an die 100 Labore etabliert, in denen durchgehend Tests gemacht werden konnten. Öffentliche Orte wurden desinfiziert. Menschen werden über ihre Smartphones informiert, ob sich in ihrer Nähe eine infizierte Person aufgehalten hat. Bei uns lässt so eine App noch heute auf sich warten. In Deutschland geht Datenschutz vor.

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