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Abschied von der Vollkasko-Mentalität

Die Corona-Pandemie hat das Bewusstsein für Bedrohungslagen geschärft. Das hilft auch dem Katastrophenschutz.

Von Karin Schlottmann
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Aus der Corona-Krise lernen, heißt auch, medizinisches Personal besser mit Schutzkleidung auszustatten.
Aus der Corona-Krise lernen, heißt auch, medizinisches Personal besser mit Schutzkleidung auszustatten. © Ronald Bonß

Volle Supermarktregale, Lebensmittel aus aller Welt, ein teures Gesundheitssystem: Wer hätte gedacht, dass in Deutschland eines Tages einfache Produkte wie Toilettenpapier, Desinfektionsmittel, Reis, Nudeln oder Hefe knapp werden? Dass medizinische Schutzkleidung im Ausland bestellt werden muss und schlichte Gesichtsmasken Mangelware sind? Warum, fragen sich Politiker und Bürger nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie, waren wir nicht besser vorbereitet?

Katastrophenschützer kennen die Debatte, die nach Krisenlagen aufflammt. Nach dem Terroranschlag in New York am 11. September 2001 kritisierten Experten des damaligen Komitees für Katastrophenvorsorge die „Vollkasko-Mentalität“ in Deutschland. Aus dem Komitee ist inzwischen das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe geworden.

„Das Bewusstsein für Bedrohungslagen ist durch gemäßigte Klimabedingungen und jahrzehntelangen Frieden oft verloren gegangen“, sagt Andreas Hirth, Referatsleiter im sächsischen Innenministerium. Er ist zuständig für den Aufbau der neuen Abteilung „Bevölkerungsschutz“ im Ministerium. Erst seit einigen Jahren gebe es eine größere Sensibilität in der Bevölkerung für mögliche Bedrohungen. Das Jahrhunderthochwasser 2002, Hurrikane, der Stromausfall 2005 im Münsterland, Terroranschläge und Cyber-Angriffe auf die kritische Infrastruktur hätten den Blick für mögliche Risiken geschärft. Auch das 2012 erschienene Buch „Blackout“, das romanhaft die denkbaren Krisenszenarien nach einem großflächigen Stromausfall schildert, habe wie ihn viele zum Nachdenken angeregt, sagt Hirth.

CDU, Grüne und SPD haben schon Ende 2019 im Koalitionsvertrag vereinbart, Feuerwehren, Rettungsdienste und den Katastrophenschutz in Sachsen zu verbessern. Das entsprechende Gesetz soll unter Einbeziehung der Akteure und wissenschaftlicher Expertise bis 2021 runderneuert werden. Außerdem will die Regierung eine aktuelle, umfassende Risiko- und Gefährdungsanalyse hinsichtlich der Anforderungen an Katastrophen- und Bevölkerungsschutz vornehmen. Profitieren sollen davon unter anderem die Feuerwehren. Ihnen verspricht die Koalition eine bessere Ausstattung, unter anderem zur Waldbrandbekämpfung.

Doch auch wenn die Koalition früh Handlungsbedarf erkannt hat, ist sie von der aktuellen Entwicklung rasch überholt worden. Die unzureichende Versorgung mit Schutzausrüstung für das Personal in Krankenhäusern und Altenheimen war wochenlang das bestimmende Thema im Corona-Krisenstab der Landesregierung. Innenminister Roland Wöller (CDU) will als Konsequenz Unternehmen für den Aufbau einer regionalen Produktion für Schutzausrüstung gewinnen und eine strategische Reserve für die kritische Infrastruktur schaffen. Wer regionale Versorgungssicherheit verbessern wolle, dürfe nicht nur auf den niedrigsten Einkaufspreis achten, warnte er kürzlich in einem SZ-Interview.

Katastrophenschutz bedeutet nicht, dass der Staat für jeden einzelnen Bürger in jeder denkbaren Lage alles Notwendige vorhält. Hirth: „Katastrophenschutz ist ein Ordnungssystem, ein Organisationsprinzip. Es greift ein, wenn die Kraft des Einzelnen nicht ausreicht und hilft, die Wirkungen einer Notlage abzufedern“. Trotz aller staatlichen Maßnahmen trägt jeder Bürger und jedes Unternehmen auch Eigenverantwortung bei individueller Vorsorge. Vorratshaltung ist zwar Teil der Krisenvorsorge in Deutschland, funktioniert aber nur in gewissen Grenzen. Für den Fall einer von der Bundesregierung ausgerufenen Versorgungskrise beispielsweise infolge eines Kernreaktorunfalls, einer Seuche oder einer Naturkatastrophe, hat die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung umfangreiche zivile Notfallreserven angelegt. Sie besteht aus Reis, Hülsenfrüchten, Kondensmilch sowie Lagerhallen mit Brotgetreide. Auch für Erdöl gibt es eine strategische Reserve.

Darüberhinaus appelliert der Bund an die Verantwortung des Einzelnen, sich einen Notvorrat für mindestens zehn Tage anzulegen. Die auf der Webseite veröffentlichten Empfehlungen sind überraschend präzise – Toilettenpapier steht aber nicht auf der Liste. Der Freistaat unterhält selbst keine eigenen Lager. Die Standorte der bundeseigenen Vorratshallen seien geheim, teilte ein Sprecher des Umweltministeriums mit. Die zuständigen Ministerien in Dresden erhalten erst Zugriff, wenn ein Notfall eingetreten ist.

Das Deutsche Rote Kreuz hat im Zuge der Pandemie mehr Vorsorge von der Bundesregierung verlangt. Das Konzept von DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt sieht vor, dass bundesweit an zehn Standorten Betten, Zelte und medizinische Betreuung für je 5.000 Menschen gelagert werden können. Andreas Rümpel, Chef der Dresdner Feuerwehr, sagt, beim Hochwasser 2002 hätten die Helfer sich erst einmal durch die Gelben Seiten wühlen müssen, um Hilfsgüter besorgen zu können. Seitdem arbeitet er mit einer Software, die Auskunft gibt, was in den eigenen Lagern vorhanden ist oder welche Firmen kurzfristig liefern könnten.

Weitsicht ist gefragt, sagt Hirth. Hundertprozentige Sicherheit wird es trotz aller staatlicher Vorsorgemaßnahmen nicht geben. „Allerdings müssen wir auf die unterschiedlichen Bedrohungsszenarien vorbereitet sein, um deren dramatische Folgewirkungen zu minimieren.“

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