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Das bewegte Leben des Uhrvater Mühle

Hans-Jürgen Mühle hat die Glashütter Industrie mitgeprägt. Erstmals erzählt er, wie er das Unternehmen aufbaute und durch schwierige Zeiten lotste.

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Mit Schiffsuhren startete Hans-Jürgen Mühle nach der Wende erfolgreich durch.
Mit Schiffsuhren startete Hans-Jürgen Mühle nach der Wende erfolgreich durch. © Egbert Kamprath

Sein Leben würde Bücher füllen, allein: geschrieben ist noch nicht einmal das erste Kapitel. Hans-Jürgen Mühle, der Gründer der gleichnamigen Manufaktur für Uhren und nautische Instrumente in Glashütte, ist kein Mann der großen Worte. Er ist ein Mann der Tat, präzise und akkurat. Jetzt, im Alter von 78 Jahren, könne man sich schon einmal die Zeit nehmen, um zurückzuschauen.

Und doch gilt sein erster Blick auch heute der Zukunft. Bei der Mühle-Glashütte GmbH wird gebaut. „Wir brauchen mehr Platz in unseren Produktionsräumen“, sagt der Firmengründer. Der Anbau sollte längst schon fertig sein, aber erst kam der Winter, und dann stieß man beim Baggern noch auf eine unvermutete Sandschicht. Was dazu führte, dass man die Gründung für das Fundament deutlich tiefer legen musste.

Widerstände und Unwägbarkeiten – wie diese – schrecken ihn nicht. Sie begleiten ihn sein ganzes Leben. Das fing schon in der Schule an, die er als „Kapitalistenkind“ nach der achten Klasse verlassen musste. Er hätte gerne Sport studiert. Doch der Vater, der eine Firma für Feinmechanik besaß, riet, „etwas Vernünftiges zu lernen“. Hans-Jürgen Mühle ging zur NVA. In einer Kaserne im brandenburgischen Werder ließ er sich zum Funker ausbilden. Dort hat er auch gelernt, Telefone abzuhören. Wissen, das ihm Jahre später nutzte. Er war in den Glashütter Uhrenbetrieben (GUB) für den Vertrieb von Schiffsuhren weltweit und Armbanduhren in Osteuropa zuständig, reiste in den Westen, nach Dänemark oder Großbritannien und geriet damit auch in das Visier der Stasi. „Ich wusste, dass ich abgehört werde, und habe mir einen Spaß daraus gemacht, meine Gesprächspartner um eine kurze Pause zu bitten, damit das Band im Aufnahmegerät gewechselt werden kann“, sagt Mühle. Irgendwann gab die Stasi auf.

Nach der Wende kamen Glücksritter

Angefangen hat seine berufliche Laufbahn mit einer Lehre in Feinmechanik und der Abendschule, um die 9. und 10. Klasse nachzuholen. Nach der Armeezeit durfte Hans-Jürgen Mühle studieren. Als Ingenieur für Feinwerktechnik kam er schließlich ins erzgebirgische Beierfeld und arbeitete als Konstrukteur in einem Betrieb für Industriethermometer. Drei Jahre später, 1968, wechselte er mit Frau und Tochter nach Blankenfelde im Kreis Zossen bei Berlin. Eine eigene kleine Wohnung lockte die Familie, die bisher übergangsweise auf 35 Quadratmetern in einem Hotelzimmer gewohnt hatte, in die Gegend südlich von Berlin. Mühle wurde Produktionsleiter der Konsumgüterabteilung eines Ziegelwerkes, sollte dort Miniaturschalter, die unter anderem für Kontakteinrichtungen für Druck- und Temperatur-Messgeräte gebraucht werden, zur Marktreife führen. Doch wirklich einleben konnte sich die Familie hier nicht. Im Januar 1970 starb der Vater von Hans-Jürgen Mühle kurz vor einer geplanten Operation an einem Infarkt.

Der Unternehmersohn kehrte zurück nach Glashütte und übernahm die Verantwortung für einen Betrieb mit damals 55 Mitarbeitern. „Dabei war ich ein Techniker, hatte von Betriebswirtschaft gar keine Ahnung und kannte gerade einmal den Unterschied zwischen Brutto- und Nettolohnrechnung“, erinnert er sich.

Zwei Jahre später wieder ein Umbruch. Die Firma der Familie Mühle, die Getriebe für Druck- und Temperaturmessgeräte herstellte, wurde verstaatlicht: „Bis Sonntag, 16. April 1972, war ich ein unerwünschter Kapitalist, ab Montag, 17. April, 7 Uhr, ein Direktor der sozialistischen Arbeit.“ Den Betrieb habe er so weitergeführt, als ob es sein eigener wäre. Später ging die Firma in den Glashütter Uhrenbetrieben (GUB) auf. Mühle hätte für ein Dreivierteljahr nach Japan gehen können, um dann in Glashütte die Schwingquarzproduktion aufzubauen. Er verzichtete, mit Rücksicht auf seine Frau und die Kinder, es waren inzwischen drei. Stattdessen bot ihm der Direktor der Glashütter Uhrenbetriebe, Siegfried Bellmann, eine Stelle im Vertrieb an. Mühle reiste viel und lernte den Uhrengeschmack der Regionen kennen. „In Mecklenburg mussten sie rund sein mit zwölf Zahlen drauf“, erinnert sich der Unternehmer.

Dann kam die Wende. Mühle wurde vom Vertriebsleiter Uhren zum kaufmännischen Geschäftsführer, erlebte mit, wie die Zahl der 2.500 Mitarbeiter im Glashütter Uhrenbetrieb rasant abnahm. Er und seine Mitgeschäftsführer unterschrieben die Entlassungspapiere im Dutzend. Und wurden dafür in der Stadt, in der fast jede Familie vom Uhrenbau lebte, mit Missachtung gestraft. Die Treuhand hatte das Ende der Uhrenindustrie besiegelt, doch ausgerechnet der für die GUB zuständige Mitarbeiter war Uhrenfan und versprach die Rettung durch einen Investor.

Die Suche erwies sich als schwierig. Stattdessen zog das Know-how von Glashütte zweifelhafte Glücksritter an. Ein bekannter deutscher Titelhändler hatte zum Beispiel die Namensrechte sämtlicher in Glashütte hergestellten Uhrenmarken angemeldet. Das verstieß gegen den Einigungsvertrag, in dem die beim Patentamt der DDR eingetragenen Marken mit einer fünfjährigen Schutzfrist belegt worden waren. Die Firmen sollten genügend Zeit erhalten, ihre Marken nach bundesdeutschem Recht eintragen zu lassen. Die Markenrechte mussten wieder abgegeben werden, und mit der Manufaktur Lange Uhren GmbH fand sich das erste Unternehmen, das den Neuanfang in Glashütte wagte.

Hans-Jürgen Mühle dachte damals nicht an Armbanduhren, sondern an Schiffschronometer. Die waren ursprünglich auch in Glashütte hergestellt worden, das Know-how war also vorhanden. Er gründete 1994 und präsentierte auf der Messe sein erstes Chronometer. Er erhielt prompt einen Großauftrag für Uhrenanlagen auf hoher See. Die Mutteruhr, die auf der Brücke hängt, erhält ihr Signal per GPS und gibt es elektronisch an alle anderen Uhren an Bord weiter. „Wir waren mit unserer Elektronik damals Weltmarktführer“, sagt Mühle. Im Sommer 1995 fragte dann eine Werft an, ob Mühle auch eine robuste, wasserfeste Armbanduhr als Schiffsausrüstung liefern könne? Hans-Jürgen Mühle sagte kurzerhand: Ja! Die erste Mühle-Armbanduhr besaß ein Messing-Gehäuse und wurde in einer Auflage von 25 Exemplaren ausschließlich für die anfragende Werft gefertigt. Daraus erwuchs die Idee, eine eigene Armbanduhren-Kollektion vorzustellen – wozu Mühle auch Geschäftsführer anderer Glashütter Uhrenhersteller rieten. Wer solche Präzisionsuhren bauen kann, die in 30 Tagen eine Abweichung von gerade einmal einer Hunderstel Sekunde haben, der kann auch gute Armbanduhren fertigen, sagte Günter Blümlein, der Geschäftsführer eines anderen Glashütter Uhrenherstellers war.

Mühle vertrautet ihm und stieg 1996 in das klassische Uhrmacherhandwerk ein. Damals redeten alle über Fliegeruhren. Mühle schaffte es, die Elemente Luft und Wasser zu vereinen und entwickelte eine Marinefliegeruhr. Den verwendeten Tachymeterring würde der Unternehmer heute nicht mehr so wählen. Und dennoch wurde die Uhr zum Selbstläufer. Noch heute stattet Mühle die Seenotretter und die Rettungsflieger der Marine mit robusten Uhren aus. So ist das Saphirglas der Seenotretteruhr vier Millimeter dick und toleriert selbst härteste Stöße – während die Funktion des S.A.R. Flieger-Chronografen es den Piloten erlaubt, ihre Fluggeschwindigkeit zu berechnen. Mit immer neuen Modellen und Erfindungen, wie der einzigartigen Spechthalsregulierung, machte sich Mühle einen Namen. Mehr als 200.000 Uhren sind in der Zwischenzeit weltweit verkauft.

Der Erfolg gefiel nicht allen. 2007 landetet ein Streit um die „Glashütte- Regel“ vor Gericht. Sie besagt, dass Glashütter Uhren nur als solche bezeichnet werden dürfen, wenn mindestens 50 Prozent der Wertschöpfung in der Stadt stattfinden. Nomos, in Teilen in einem ähnlichen Preissegment wie Mühle unterwegs, veranlasste das Verfahren. Das Gericht entschied zwischen den unterschiedlichen Auffassungen zur Berechnung der Wertschöpfung – und Mühle hätten mehrere Millionen Euro Vertragsstrafe gedroht. Zu viel für den Familienbetrieb, der daraufhin Insolvenz in Eigenregie anmeldete. Mühle zog sich zurück und übergab die Geschäftsführung an seinen Sohn Thilo.

Der Rechtsstreit war eine Zäsur, aber auch eine Chance. „Wir haben die Kollektion gestrafft und sind als Marke erkennbarer geworden“, sagt Mühle. Er kümmerte sich damals zunächst um den Vertrieb, heute ist er als Repräsentant des Familienunternehmens.