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"Deshalb wohne ich nicht in Berlin, sondern in Görlitz"

Schriftsteller Lukas Rietzschel spricht über Underdogs, Parteienstreit und seinen Nachwenderoman, der auf die Bühne kommt.

Von Karin Großmann
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Chronist des Verfalls und der Zerrissenheit: der Schriftsteller Lukas Rietzschel, 1994 in Räckelwitz geboren.
Chronist des Verfalls und der Zerrissenheit: der Schriftsteller Lukas Rietzschel, 1994 in Räckelwitz geboren. © Thomas Kretschel

Lukas Rietzschel ist Mitte zwanzig, lebt in Görlitz und bohrt in den Wunden der Gesellschaft. Wer wissen will, warum junge Männer im östlichen Osten radikal werden, kann es in seinem ersten Roman lesen: „Mit der Faust in die Welt schlagen“. Da wird von Verunsicherung und Perspektivlosigkeit erzählt, vom Schweigen und von einer großen Wut. Das Buch erschien im Herbst kurz nach den ausländerfeindlichen Auseinandersetzungen in Chemnitz und wurde auch in den überregionalen Medien ernst genommen. Rietzschel diskutierte in Fernsehtalkshows und Foren und ging auf Lesereise. Jetzt bringt das Staatsschauspiel Dresden seinen Roman auf die Bühne. Die Taschenbuchausgabe ist gerade im Ullstein Verlag erschienen.

Hauptfiguren in Ihrem Roman sind zwei halbwüchsige Brüder in der Lausitz, die ihr Umfeld als abgehängt und gescheitert erleben und sich mehr oder weniger radikalisieren. Hat es Sie überrascht, dass zahlreiche AfD-Wähler genau diesem Bild entsprechen?

Das ist ja vor allem eine Zuschreibung von außen. Ich selbst würde niemanden als abgehängt oder gescheitert betrachten oder gar beschreiben. Im Roman und auch im Theaterstück verzichte ich darauf vollkommen. Aber ganz unabhängig davon kommen mir viele Aussagen, die im Umfeld der AfD getätigt werde bekannt vor, ja. All das habe ich in einem literarischen Text zu kondensieren versucht.

Gerade die Lausitz wurde vor der Wahl vom sächsischen Staat mit Fördermitteln reich bedacht. Warum hat das die Stimmung nicht aufgehellt?

Geld wiegt nicht alles auf, was lange schiefgelaufen ist. Es kam viel zu spät. So wurde der Vorwurf genährt, dass nur in Wahlkampfzeiten etwas passiert. Mancher fragte zu Recht: Was hat denn die Politik in den letzten 30 Jahren gemacht? Es ist doch bitter, dass erst eine Partei wie die AfD auftauchen muss, damit ein Ministerpräsident durch die Ortschaften reist und sich Zeit nimmt für Gespräche mit den Leuten. Das hat es in dieser Weise bei Biedenkopf, Milbradt oder Tillich nicht gegeben. Da herrschte ein fast monarchisches Staatsverständnis.

Geben Sie der CDU die Schuld an den Wahlerfolgen der AfD?

Es ist das gute Recht der Wähler, mit einer Regierungspartei unzufrieden zu sein. Jeder Staat braucht eine starke Opposition. Dass die AfD diese Rolle übernimmt, macht mich nicht froh. Die Sprache, die sie bemüht, das Geschichtsbild, das sie vertritt, ihre Auffassungen zur Kultur, das alles widerspricht meinem Denken. Es ist auch keine soziale Partei, sondern eher eine Art wirtschaftsnahe, altkonservative FDP.

Müsste man den Vorwurf, in den vergangenen 30 Jahren viel versäumt zu haben, nicht auch an die anderen Oppositionsparteien richten?

Sicher wäre es eine Aufgabe der Linken gewesen, die Lösung sozialer Konflikte viel stärker einzufordern. Und auch die Grünen könnten mehr tun, als sich von einem Hitzesommer zum nächsten zu hangeln. Sie hätten die CDU längst attackieren müssen. Jetzt ist das keine Kunst, wo sie fast am Boden liegt. Da kriegt man ja beinahe Mitleid.

Sie sind 2017 in die SPD eingetreten. Warum haben Sie sich einer Verliererpartei angeschlossen?

Weil ich Solidarität immer noch für ein wichtiges Gut halte. Ich glaube daran, dass Gerechtigkeit und soziales Wohlbefinden wichtiger sind als wirtschaftliche Förderspritzen. Außerdem war es mir nach den Auftritten der Rechten in Ostritz wichtig, mich zu engagieren.

Die SPD verströmt nun nicht gerade den größten Veränderungswillen.

Ach, ich bin einfach ein großer Fan von Underdogs und hab wohl mit Verlierern mehr am Hut als mit Gewinnertypen. Deshalb wohne ich nicht in Berlin, sondern in Görlitz, deshalb bin ich in der SPD. Dort erlebe ich, wie mühsam der Parteialltag ist mit seinen Personaldebatten und Flügelkämpfen. Das findet bestimmt in jedem Ortsverein statt. Dort ereignen sich die wahren Politthriller. Und man trifft mit Menschen zusammen, die ganz andere Lebenserfahrungen haben und einen anderen Wissensstand. Wie sie miteinander über Politik reden, das ist toll. Es wird so viel gestritten wie lange nicht. Das Land kippt nicht gleich um, wenn mal laut geredet wird. Solche Häutungsprozesse hat auch die alte Bundesrepublik durchgemacht.

Damals haben sich Schriftsteller wie Heinrich Böll oder Günter Grass noch direkt eingemischt. Heute gehören Sie zu den Ausnahmen.

Jeder nimmt in der Gesellschaft unterschiedliche Rollen ein. Im Ortsverein bin ich ein normaler Bürger, der moderierend und beratend mitwirkt oder auch mal Plakate aufhängt. Ich käme aber nie auf die Idee, in einem literarischen Text für die SPD zu werben. Ich würde niemals didaktische oder moralisierende Kunst machen. Vielleicht habe ich eine Winzigkeit dazu beitragen können, dass der Osten in der gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung anders erscheint als früher, differenzierter, nuancierter.

Lukas Rietzschel bei einer Buchvorstellung im Bautzener Burgtheater
Lukas Rietzschel bei einer Buchvorstellung im Bautzener Burgtheater © Carmen Schumann

In Ihrem Roman setzen Sie auf die präzise, detaillierte Beschreibung, auf starke Bilder, auf Atmosphäre – wie bringt man das auf die Bühne?

Wir haben uns zu dritt zusammengesetzt, die Regisseurin, die Dramaturgin und ich, und haben das Buch Kapitel für Kapitel geprüft: Was muss bleiben, welche Figuren sind entbehrlich? Es war ein schönes, arbeitsteiliges Miteinander. Danach habe ich die Stückfassung geschrieben. Wie im Roman erleben wir die beiden Brüder im Nachwendedeutschland, erleben das unerträgliche Schweigen der älteren Generation mit ihrer DDR-Erfahrung und ihren biografischen Brüchen.

Beim Eröffnungsfest im Dresdner Schauspielhaus wurde ein Ausschnitt aus der Inszenierung gezeigt. Wie erlebt man das als Autor im Saal?

Ich sah die Szene das erste Mal auf der Probebühne. Das hat mir eine Gänsehaut verschafft. Auf einmal stehen die Figuren, die ich im Kopf habe, auf der Bühne – und sie sehen genauso aus, wie ich sie mir vorgestellt habe. Sie reden auch so. Ich bin gespannt, wie das Stück für jemanden funktioniert, der das Buch nicht kennt.

Die Regisseurin Liesbeth Coltof kommt vom Amsterdamer Jugendtheater – war es schwierig, ihr die ostdeutschen Konflikte zu vermitteln?

Mit gefiel die Idee, mit einer Regisseurin zu arbeiten. Ich finde, es ist ein sehr männlicher Text, der einen anderen Blickwinkel gut vertragen kann. Als Niederländerin wusste sie wenig vom Niedergang der DDR mit all seinen Folgen. Wir haben sie zugedeckt mit Filmen, Bildern und Musik aus der Zeit. Zuerst aber sind wir zum Tagebau nach Weißwasser gefahren. In dieses riesige Loch passt eine ganze Stadt. Liesbeth Coltof fragte ziemlich entsetzt: Was macht ihr Deutschen eigentlich mit eurer Landschaft?

Viele Fragen können Sie nicht aus eigener Erfahrung beantworten. Woher dann?

Ich habe viel recherchiert und noch mehr zugehört. Nach einer Lesung in Herford zum Beispiel erzählte mir eine Frau ihre Geschichte. Sie war in der Wendezeit aus Sachsen weggezogen. Jetzt, sagte sie, hat sie Sehnsucht nach dem Ort, aus dem sie kommt, doch sie versteht ihn nicht mehr. Diese Zerrissenheit in einem Land, das aus zwei Ländern besteht, die hat mich getroffen. Gerade die Älteren wissen, dass die Region so dasteht, wie sie dasteht, weil sie weggegangen sind. Sie fühlen sich mitverantwortlich. Zugleich haben sie sich in drei Jahrzehnten emanzipiert.

Klingt das nach einer Fortsetzung des Romans, oder stimmt es, dass das zweite Buch immer das schwerste ist?

Für mich ist gerade die Entscheidung am schwersten, welches das zweite Buch wird und welches das dritte. Der eine Text führt noch näher heran an die Gegenwart. Der andere führt weiter zurück in die Vergangenheit. Ich glaube, dass die Ursachen für Rechtsextremismus viel tiefer liegen und auch in der DDR zu suchen sind. Aber es ist schwierig, einen Ton zu finden für eine Zeit, die ich nicht erlebt habe. Die Fragen, die mich in meinem ersten Buch beschäftigt haben, beschäftigen mich also weiter.

Sie haben bei Ihrem Verlag einen Vertrag über einen weiteren Roman unterschrieben. Setzt Sie das unter Druck?

Der Verlag macht keinen Druck. Aber wenn ich Geld verdienen will, muss ich etwas veröffentlichen.

Mit der Uraufführung von Lukas Rietzschels Stück „Mit der Faust in die Welt schlagen“ beginnt am 13. 9. die Saison im Kleinen Haus Dresden. Auch Düsseldorf und Heilbronn bringen das Werk auf die Bühne.

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