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„Du dreckiger Penner, höre ich oft“

Michael Schramm lebt auf der Straße – wie Hunderte Dresdner. Kampf und Beleidigungen gehören zu seinem Leben.

Von Julia Vollmer
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Michael Schramm kommt zum Mittagessen in die Räume der Heilsarmee.
Michael Schramm kommt zum Mittagessen in die Räume der Heilsarmee. © René Meinig

Die Fotos seiner beiden Kinder sind sein größter Schatz. Sie hat Michael Schramm in seiner Reisetasche immer dabei – wo auch immer er schläft. Denn immer mal wieder lebt er auf der Straße. An diesem Dienstagmittag steht er mit vielen anderen Bedürftigen in der Schlange der Essensausgabe der Heilsarmee auf der Reicker Straße. Nudeln für 1,50 Euro gibt es. Gepflegt sieht er aus, der Bart gestutzt, die Jogginghose und der Pullover sauber. Aktuell schläft er im Übergangswohnheim auf der Hubertusstraße, teilt sich sein Zimmer mit drei anderen Männern. „Am liebsten schlafe ich eigentlich draußen, da bin ich für mich“, erzählt er. Aufgrund einer schweren Wirbelsäulenkrankheit und psychischer Probleme ist der studierte Sportlehrer seit 20 Jahren arbeitslos und bezieht Erwerbsunfähigkeitsrente.

So wie Michael Schramm geht es Hunderten Dresdnern. Die freien Träger Diakonie und Treberhilfe sprechen von 800 bis 1.000 Menschen, die von Wohnungslosigkeit- oder Obdachlosigkeit betroffen sind. Das Sozialamt zählt 268 Menschen, die wohnungslos sind, zur Obdachlosigkeit gibt es keine Statistik.

„Es werden täglich mehr Hilfsbedürftige“, sagt Rosi Scharf, Chefin der Dresdner Heilsarmee. Täglich kämen mehr Menschen zu ihr, um zu essen oder sich Klamotten aus der Kleiderspende zu holen. „Mir bereitet das große Sorgen, auch weil so viele Kinder darunter sind“, sagt sie. Außerdem kommen immer mehr alte Menschen, die von ihrer Rente nicht leben können. „Oft wiederholt sich aber auch die Spirale, bei der auf eine Trennung eine Alkohol- und Drogensucht folgen und dann erst die Arbeit und dann die Wohnung weg sind“, weiß Scharf. Wer Hilfe von der Heilsarmee bekommen möchte, muss einen Dresden-Pass oder einen Hartz-IV-Bescheid vorlegen. „Den meisten Menschen ist es unheimlich peinlich, überhaupt Hilfe anzunehmen und sich bei uns in der Essensschlange anzustellen“, so Scharf. Doch irgendwann siegt der Hunger. Von der Einschätzung „Die wollen doch auf der Straße leben“ hält sie gar nichts. „Viele der Bedürftigen wollen natürlich lieber in einer Wohnung schlafen, doch sie wollen vor allem nicht in ein Heim.“ Dort werde geklaut oder sich bepöbelt – darum würden sich viele Obdachlose dann doch eher für die Straße entscheiden, so Scharf.

Bei der Heilsarmee gibt es nicht nur Nudeln, sondern auch ein warmes Wort von Chefin Rosi Scharf.
Bei der Heilsarmee gibt es nicht nur Nudeln, sondern auch ein warmes Wort von Chefin Rosi Scharf. © René Meinig

So geht es auch Michael Schramm. „Ich bin den anderen im Heim ausgeliefert, das ist manchmal hart“, erzählt der 50-Jährige. Es gäbe täglich Konflikte. Jeden Tag muss er beim Sozialamt wieder den Platz zum Schlafen beantragen. „Die Konkurrenz untereinander ist groß, jeder kämpft für sich“, sagt er über den Kontakt untereinander. Wer auf der Straße um Geld bettelt, muss sich den Platz mit anderen teilen. Da gäbe es manchmal richtige Kämpfe um die beste Zeit vor dem Supermarkt. „Es ist schwer“, sagt Schramm.

Ebenso hart und erniedrigend fühlen sich die Blicke und Sprüche der Menschen an, die ihn manchmal von Passanten treffen. „,Du dreckiger Penner‘ höre ich oft“, so Schramm. Er erlebe auch, wie Mütter Kinder regelrecht wegzerren, wenn sie ihn oder andere Obdachlose irgendwo sitzen oder liegen sehen. Wenn er nachts im Dresdner Hauptbahnhof schläft, muss er spätestens um 4.30 Uhr wieder gehen, erzählt er. Die Reisenden sollen ihn und die anderen nicht sehen.

Heilsarmee-Chefin Rosi Scharf weiß von Obdachlosen, die im Alaunpark, im Großen Garten oder in der Heide schlafen. „Wenn es nun wieder kälter wird, fahren wir nachts auf Kältestreife, um die Menschen mit Essen und medizinisch zu versorgen“, sagt sie. Und um zu schauen, dass niemand erfriert. Aber erst ab Nächten ab fünf Grad unter Null. „Bei über null Grad ist für die Obdachlosen noch Sommer“, sagt sie. Dann werde sie von den Betroffenen wieder weggeschickt. „Viele wollen einfach ihre Ruhe und auch nichts mit Ämtern zu tun haben“, sagt sie.

Den täglichen Gang zum Sozialamt nimmt Michael Schramm gelassen. „Ich muss auch meinen Beitrag leisten“, betont er. Sein nächstes großes Ziel: eine eigene Wohnung in Dresden. Dort sollen auch die Fotos seiner Kinder an der Wand hängen.

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