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270 Menschen spazieren in Großenhain

Auch an diesem Montagabend ist der Hauptmarkt dicht umlagert: Die Teilnehmer protestierten still, friedlich - im Beisein des Oberbürgermeisters.

Von Catharina Karlshaus
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Großenhains Oberbürgermeister Sven Mißbach im Gespräch mit Christian Tarkotta. Der Familienvater kritisiert unter anderem die Regelungen für die Beschulung und Kinderbetreuung.
Großenhains Oberbürgermeister Sven Mißbach im Gespräch mit Christian Tarkotta. Der Familienvater kritisiert unter anderem die Regelungen für die Beschulung und Kinderbetreuung. © Foto: Kristin Richter

Großenhain. Nein, in eine Ecke verkrümelte er sich nicht. Ganz bewusst gönnte sich Sven Mißbach den Platz in der ersten Reihe. Bereits in der vergangenen Woche hatte Großenhains Verwaltungschef angekündigt, am schon zum dritten Mal stattfindenden  Montagsspaziergang teilzunehmen - und hielt Wort. "Ich finde das total gut, dass er sich hier hinstellt und bereit ist, mit den Leuten zu reden", sagt Steffen Klemt.

Der stellvertretende Vorsitzende des hiesigen Judovereins macht keinen Hehl daraus, dass er mit den momentanen Festlegungen des Freistaates inmitten der Corona-Krise nicht einverstanden ist. Ganz im Gegenteil! Und deshalb ist er da. Hier auf dem Hauptmarkt der Röderstadt, auf dem sich kurz nach 19 Uhr der bunte Zug an Menschen in Bewegung setzt. Auf stimmungsvolle Musik haben die wie immer unsichtbaren Einladenden dieses Mal verzichtet. 

Die Teilnehmer wissen offenkundig auch so, was zu tun ist und vor allem, weshalb sie gekommen sind. Frauen, Männer, Kinder, Alte und Junge, stadtbekannte Unternehmer, namhafte Händler, Gewerbetreibende, Gastronomen, AfD-Landtagsabgeordneter Mario Beger und all jene, die von der Polizei später als "erlebnisorientierte Jugendliche" sowie "Dynamo-Fans" eingeordnet werden. Dass sie angesichts von circa 270 Spaziergängern - am letzten Montag waren es noch 180 - letztlich überhaupt keinen Grund zum Eingreifen hat, dürfte nicht nur Großenhains Revierchefin Sandra Geithner freuen.

Ebenso wie Sven Mißbach, beobachtet sie gemeinsam mit ihren Kollegen die Szenerie, welche gut 40 Minuten aus wispernd miteinander sprechenden oder auch stumm vor sich hinschauenden, umherlaufenden Leuten besteht. Ein stiller Protest, obgleich es im Inneren vieler Großenhainer gewaltig brodelt. "Es ist völlig klar, dass man Maßnahmen gegen das Virus ergreifen musste! Aber wie diese in Deutschland umgesetzt werden, finde ich nicht in Ordnung", befindet Steffen Klemt. 

Seit Wochen müssten die Jugendlichen seines Vereins auf das Training verzichten. Während man in Ungarn, Österreich und Tschechien nun wieder dieser Sportart nachgehen dürfe, werde hier die engagierte Arbeit zwangsläufig auf Eis gelegt. Doch damit nicht genug! "Ich habe heute Nachmittag mein Enkelkind aus dem Kindergarten abgeholt! Mit Fähnchen wurde das dortige Außengelände abgesperrt, die Mädchen und Jungen verstehen ihre kleine Welt nicht mehr, und die Erzieherinnen können einem aus vollstem Herzen leidtun", bekennt Steffen Klemt und schüttelt den Kopf.

Die bürokratische Kehrseite der gelockerten Welt, die nicht nur bei ihm mächtigen Unmut erregt. Geradezu hanebüchen wäre all das, was sie in den jüngsten zwei Monaten erleben musste, schimpft eine dreifache Mutter. Sie sei extra mit ihrer Familie aus dem nahe gelegenen Elsterwerda nach Großenhain gekommen, um gegen "diesen ganzen Corona-Irrsinn" zu protestieren. Abgesehen davon, dass sie ihre Uroma im Pflegeheim nicht sehen durfte, alle drei Kinder seit März zuhause betreut werden mussten, wäre obendrein nun auch noch ihr Bürojob wegen der wirtschaftlichen Schieflage der kleineren Firma in Gefahr.

"Da nützt es mir doch nichts, wenn sich die Politiker jetzt hier hinstellen, wie toll sie das alles gemacht haben, und sie würden verstehen, was in uns allen vorgeht! Ich glaube nicht, dass die wirklich wissen, wie sich das alles für uns Normalsterbliche anfühlt", schimpft die 33-Jährige. Die Nerven bei ihr und befreundeten Müttern lägen nach all der Zeit jedenfalls gehörig blank - am Ende vielleicht für eine völlig überzogene Panikmache. Persönlich kenne sie nämlich niemanden, der erkrankt oder in häuslicher Quarantäne gewesen wäre. Vielleicht stimmten die Zahlen ja gar nicht, die Behörden täglich veröffentlichten.

Dass die Angst vor der Pandemie völlig unberechtigt ist, möchte ein pensionierter Maschinenbauingenieur nun nicht so absolut in Frage stellen. Auch er und seine Frau hätten aufgrund von einigen Vorerkrankungen gehörigen Respekt vor dem, was sich Covid-19 nennt, und seien zunächst konsequent zuhause geblieben. Inzwischen sei das Maß des Erträglichen allerdings erreicht. "Wir haben nicht unser ganzes Leben lang dafür gearbeitet, um jetzt vielleicht noch unsere mühsam zusammengebrachten Spareinlagen den Bach runtergehen zu sehen", entrüstet sich der 69-Jährige. Mittlerweile würde die Furcht doch eiskalt ausgenutzt, damit sich große Konzerne gesundwirtschaften könnten. 

Gut 270 Menschen nahmen am Montagabend am Spaziergang auf dem Großenhainer Hauptmarkt teil.
Gut 270 Menschen nahmen am Montagabend am Spaziergang auf dem Großenhainer Hauptmarkt teil. © Foto: Kristin Richter

Dimensionen, in denen Christian Tarkotta zumindest für den abendlichen Augenblick nicht denkt. Der Vater zweier Kinder macht sich vielmehr darüber Sorgen, welche Auswirkungen die gegenwärtige Art der Beschulung für seinen Sohn haben wird. Der Sechstklässler sei an diesem Montag erstmalig wieder in der Schule gewesen. Nach zwei Stunden Sportunterricht wäre der Präsenzunterricht indes auch schon vorbei gewesen und die Aussicht, seine Klassenkameraden erst am 8. Juni erneut zu sehen, habe ihn keineswegs trösten können. "Das ist mir alles völlig unverständlich! Meine Frau und ich haben uns zunächst wirklich mit der Situation arrangiert und in die Betreuung hineingeteilt. Aber inzwischen kann ich meinem drei Jahre alten Jungen nicht mehr guten Gewissens vermitteln, weshalb er mit einem Tuch vor dem Mund durch die Gegend laufen soll", kritisiert Christian Tarkotta.

Gedanken, die er mit Großenhains Oberbürgermeister teilt. Sven Mißbach hat nach eigenem Bekunden viele solcher Begebenheiten und Argumente gegen die neu aufgestellten Regelungen gehört. Auch wenn er sie nur zur Kenntnis nehmen könne. Es sei ihm wichtig gewesen, sich selbst einmal ein Bild zu machen. Und sich eben nicht zu verkrümeln, in eine hintere Ecke. Dafür wäre er schließlich da. Gerade jetzt. In problematischen Zeiten wie diesen.  

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