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Mein Weg aus der Depression

Die Leipzigerin Christine Reuter erzählt offen über ihre Krankheit und wie sie zurück in ein aktives Leben fand.

Von Stephanie Wesely
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Hat gelernt, an Widrigkeiten des Alltags nicht zu verzweifeln: Christine Reuter im Büro des Leipziger Bündnisses gegen Depressionen.
Hat gelernt, an Widrigkeiten des Alltags nicht zu verzweifeln: Christine Reuter im Büro des Leipziger Bündnisses gegen Depressionen. © Anja Jungnickel

Ich bin ein lebensbejahender Mensch. Aber irgendwann ging mir das immer mehr verloren“, sagt Christine Reuter. Früher war sie als Anwältin tätig – zeitweise in zwei Kanzleien gleichzeitig, einer in Halle und einer in Leipzig. Sie spürte plötzlich eine große Traurigkeit, wurde von Schlafstörungen, Appetitmangel und lähmender Antriebslosigkeit geplagt – die klassischen Symptome einer Depression.

Der Krankenkasse Barmer zufolge werden immer mehr Menschen wegen Depressionen behandelt: 2017 mehr als eine halbe Million allein in Sachsen, deutschlandweit über fünf Millionen Menschen. „Für mich ist das ein gutes Zeichen. Denn die Menschen suchen sich professionelle Hilfe und verstecken ihre Krankheit nicht mehr – zum Beispiel hinter Rückenschmerzen“, sagt Professor Ulrich Hegerl. Er ist Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, die am Wochenende zusammen mit der Depressionsliga den Patientenkongress in Leipzig veranstaltet. Laut Hegerl leiden etwa elf Prozent der Frauen und fünf Prozent der Männer unter Depressionen. Die Zahlen seien seit Jahren stabil.

Christine Reuter war mit 29 Jahren das erste Mal in Behandlung. Sie hatte einen Zusammenbruch im Büro, hat gezittert und war total erschöpft, wie sie sagt. „Ich dachte damals, die Arbeit hat mich krank gemacht. Doch heute weiß ich, ich war zu krank, um zu arbeiten.“ Sie wurde zwei Wochen krankgeschrieben. Doch das habe ihr nichts genützt. Auch ein Urlaub nicht. „Ich konnte nichts mehr fühlen, war wie abgestumpft.“ Selbstvertrauen und Konzentration waren gleich null. „Ich schlief höchstens noch drei Stunden und hatte Panikattacken“, erzählt sie. Viele Betroffene hörten dann, dass sie sich nur zusammenreißen sollten, dann ginge es schon. „Doch die Erkrankung hat nichts mit Charakterschwäche zu tun.“ Was wirklich helfe, sei liebevolle Begleitung und „den Menschen einfach mal so auszuhalten, wie er ist“.

Ihre Freundin habe dann den entscheidenden Schritt getan. „Sie hat mich zu Hause abgeholt und gesagt, dass wir jetzt zu einer befreundeten Psychiaterin gehen.“ Die Ärztin schlug ihr vor, sich stationär behandeln zu lassen. Doch das lehnte Christine Reuter ab: „Ich könnte gerne mal zum Reden kommen, aber in eine psychiatrische Klinik wollte ich niemals gehen.“ Sie bekam Antidepressiva. Das war an einem Freitag. „Das Wochenende war so schlimm für mich, dass ich die Ärztin am Montag anrief und fragte, auf welcher Station ich mich melden soll.“ Sechs Wochen blieb sie dort. „Ich wurde medikamentös gut eingestellt und war dann wieder die Alte.“ 

Die Medikamente wurden weiter reduziert und schließlich abgesetzt. Sechs Jahre sei alles gut gegangen, dann kam der nächste Zusammenbruch. Es folgten wieder Klinik und ambulante Psychotherapie. Doch die Krankheitsschübe folgten in immer kürzeren Abständen. „Mittlerweile wusste ich, wie sich eine neuerliche Depression ankündigt. Es war wie eine schwarze Krake, die mir ihren kalten Arm auf die Schulter legt“, sagt Christine Reuter.

Rückfälle wurden schwerer

„Depressionen sind meist von Rückfällen geprägt und erfordern nicht selten eine lebenslange Therapie“, sagt Professor Hegerl. „Vor allem wenn eine genetische Veranlagung dazu vorhanden ist.“ Diese Veranlagung gab es bei Christine Reuter. Ihre Mutter erkrankte ebenfalls sehr jung und habe sich mit 40 das Leben genommen. Die meisten Suizide erfolgen im Zusammenhang mit Depressionen. Laut Todesursachenstatistik des Statistischen Bundesamtes starben 2015 mehr als 10 000 Menschen durch Suizid. „Das sind mehr als durch Drogen, Verkehrsunfälle und HIV zusammen“, so die Stiftung.

Die Rückfälle bei Christine Reuter wurden schwerer. 2015, als sie wieder im Krankenhaus war, dauerte die Behandlung fünf Monate. Sie bekam neben Medikamenten und Psychotherapie auch Elektrokrampftherapie. „Das ist weniger schlimm als viele denken. Die meisten haben dabei die Szenen aus dem Film ,Einer flog über das Kuckucksnest‘ vor Augen. Doch das entspricht nicht der Realität“, sagt sie. „Ich habe um diese Behandlung gebeten, weil eine frühere Mitpatientin damit Erfolg hatte.“ Diese Therapie erfolge in Kurznarkose, der Patient bekomme ein Muskelrelaxans, damit er sich durch ruckartige Bewegungen nicht selbst verletze, so Michael Grözinger von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde. „Die Stimulation dauert nur wenige Sekunden. Acht bis zwölf Sitzungen sind nötig“, um therapieresistente Depressionen zu behandeln. Die Erfolge seien gut. 50 bis 70 Prozent der Patienten sprechen darauf an. Das Wirkprinzip der Methode beruhe auf der Ausschüttung von Botenstoffen zur Regeneration des Nervensystems.

Christine Reuter half die Behandlung nicht. Sie musste ihre Arbeit aufgeben. „Ich konnte mich auch nicht mehr selbst versorgen und zog deshalb in ein Wohnheim für seelisch Kranke, im Verein Gutshof Stötteritz, für den ich heute noch tätig bin.“ Der Heimplatz kostete 2 100 Euro im Monat, sie bekam nur einen sogenannten Barbetrag von 110 Euro. „Das war eine große Veränderung. Ich habe mich gefreut, wenn mich Freunde mal ins Kino oder zum Essen eingeladen haben, denn das war ja mit dem Geld nicht drin. Doch ich habe auch gespürt, wie wenig das Geld wirklich zum persönlichen Wohlbefinden beiträgt.“ In dem Wohnheim sei sie wieder auf die Beine gekommen, wie sie sagt.

Seit fast fünf Jahren hat Christine Reuter keine stationäre Behandlung mehr gebraucht. Sie nimmt weiterhin Medikamente, wenn auch geringer dosiert als in der Akutphase. Ihr half außerdem eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Das ist eine von drei zugelassenen Verfahren gegen Depressionen. Dabei richte sich der Blick auf das unbewusste Erleben und Verhalten des Patienten, auf seine Biografie – ähnlich wie bei der Psychoanalyse, aus der sich die Therapie entwickelt hat. Bei der Psychoanalyse, die auf Sigmund Freud zurückgeht, wird davon ausgegangen, dass der Mensch in der Kindheit und im Laufe seiner Entwicklung bestimmte Prägungen erfährt. Diese entscheiden darüber, wie man mit Herausforderungen und Konflikten umgeht. Das dritte Verfahren ist die Verhaltenstherapie. Sie wird am häufigsten angewendet. Danach beruhen akute Leiden zum Teil auf eingefahrenen Vorstellungen und Reaktionsmustern, die die Betroffenen im Laufe des Lebens herausgebildet haben. Diese ließen sich jedoch auch wieder verändern.

Bloß kein erneuter Krankheitsschub

Durch die tiefenpsychologische Psychotherapie hat Christine Reuter ihre Trigger herausgefunden, die einen Rückfall begünstigen. Sie möchte damit nicht an die Öffentlichkeit gehen, denn das ist für sie zu persönlich. Neurofeedback helfe ihr, Emotionen zu spiegeln, Qigong sorge für seelischen Ausgleich. Auch die Arbeit in Vereinen gebe ihr Kraft. Mittlerweile lebt sie wieder in einer eigenen Wohnung und hat gelernt, an Widrigkeiten des Alltags nicht zu verzweifeln, wie sie sagt. Wenn ihr das Leben mal wieder einen Knüppel zwischen die Beine wirft, sagt sie sich: „Das ist jetzt nicht schön, aber es ist eine Einladung meines Lebens, um weiter zu wachsen.“ Nichts sei so schlimm wie ein neuerlicher Krankheitsschub. „Das relativiert vieles“, sagt sie.

Inzwischen 50 Jahre alt, vertritt sie am Wochenende beim Patientenkongress Depression das Leipziger Bündnis gegen Depressionen. Seit 2010 engagiert sie sich dort ehrenamtlich. 1 200 Menschen werden zum Kongress erwartet. Reuter freut sich über die prominente Unterstützung: Comedian Tosten Sträter kommt, Bloggerin Victoria van Violence, Schauspieler Simon Licht und Walter Kohl, der älteste Sohn des früheren Bundeskanzlers, der ein Buch über die seelische Erkrankung seiner Mutter geschrieben hat. Nicht fehlen wird auch der langjährige Schirmherr der Veranstaltung – Harald Schmidt. Seine Meinung: „Mal ganz im Ernst. Depressionen sind nicht lustig, aber besser behandelbar als viele denken.“ Christine Reuter kann dem nur zustimmen.

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