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Das ist die Masche der Scheinehen-Schleuser

Mutmaßliche Vermittler von Scheinehen sind vor allem in Sachsen aktiv. Ein Einblick bei Heiratsschwindlern, die den Sozialstaat betrügen.

Von Tobias Wolf
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Bei der Razzia in Wurzen muss ein indischer Imbissbetreiber die Beamten zur Befragung am Leipziger Flughafen begleiten.
Bei der Razzia in Wurzen muss ein indischer Imbissbetreiber die Beamten zur Befragung am Leipziger Flughafen begleiten. © Jürgen Lösel

Dicht gedrängt steht ein gutes Dutzend Polizisten vor dem Eingang und wartet auf das Signal. Es ist kurz vor sieben am Mittwochmorgen. Ein Eckhaus in Wurzen bei Leipzig. Gelber Backstein, Sandsteinsimse, ein schmiedeeisernes Balkongeländer. 

Auf den ersten Blick ein schmucker Altbau. An den Schaufenstern im Erdgeschoss steht der Name eines Lieferdienstes, Pizza und indische Gerichte. Aber ist es auch das richtige Haus, der richtige Name am Briefkasten. Wo ist die Klingel? Die Chefin der Truppe guckt kurz etwas ratlos, dann rennen zwei Uniformierte los, queren einen benachbarten Hinterhof und öffnen die Haustür des Altbaus von innen.

Jetzt geht alles ganz schnell. Im ersten Stock klopfen die Männer kräftig gegen die Tür. Stille, dann Schritte. Ein Handy-Klingelton mit Bollywood-Musik erklingt. Ein Mann, vielleicht 1,70 groß, aber gut 150 Kilogramm schwer, öffnet verschlafen die Tür. „Bundespolizei, sind Sie Herr J.?“, fragt einer der Uniformierten. Der Mann mit der Bluejeans und dem zu kurzen T-Shirt nickt. Es ist der gesuchte 50-jährige Inder, der im Verdacht steht, illegale Migranten per Scheinehe eingeschleust zu haben. Sekunden später ist er im Flur seiner Wohnung umstellt und will auf einmal kein Deutsch mehr verstehen.

Auch für seine Familie gibt es ein böses Erwachen. Die Polizisten klopfen an Zimmertüren. „Bitte ziehen Sie sich jetzt an und kommen Sie heraus“, lautet die knappe Weisung. Eine Frau mit langen schwarzen Haaren, vielleicht Ende 40, kommt aus dem Schlafzimmer. Es ist die Gattin. Die zwölfjährige Tochter versteht erstmal gar nichts. Und dann ist da noch eine Frau, 22 und ebenfalls aus Indien. Jeder muss in ein separates Zimmer, damit sie sich nicht absprechen können. Die Beamten beruhigen die Kleine. Sie dürfte noch nicht verstehen, was man ihrem Vater und 59 weiteren Beschuldigten an diesem Morgen vorwirft.

Bundespolizisten warten vor einer Razzia auf das Startsignal.
Bundespolizisten warten vor einer Razzia auf das Startsignal. © Jürgen Lösel

Der ungebetene Besuch in Wurzen ist Teil einer konzertierten Aktion gegen mutmaßliche Kriminelle aus Indien und Pakistan, die Landsleute mit Scheinehen in die Europäische Union einschleusen. Sie sollen teil eines organisierten Schleusernetzwerks sein. An 39 Orten, die meisten davon in Sachsen, eine Handvoll aber auch in Bayern, Thüringen und Rheinland-Pfalz, schlagen die Polizisten gleichzeitig zu.

Markus Pfau ist Kriminalchef der Bundespolizei in Mitteldeutschland und leitet den Großeinsatz. Mit den Scheinehe-Schleusungen machen Kriminelle hohe Gewinne, während das Risiko der Strafverfolgung relativ gering sei, sagt Pfau ein paar Stunden später, als Herrn J. und 27 weitere Verdächtigen am Flughafen Leipzig die Fingerabdrücke abgenommen werden.

Scheinehen fallen im Regelfall nur aufmerksamen Beamten in den kommunalen Ausländerbehörden auf, sagt der Kriminalchef. Wenn sich etwa Anträge auf Einbürgerung durch indische oder pakistanische Staatsbürger in einer Kleinstadt wie Görlitz oder Delitzsch häufen. Wenn die angeblich frisch gebackenen Ehemänner alle kurz vorher auf Zypern oder in Dänemark eine Dame geheiratet haben wollen, die sie bei der Hochzeit das erste Mal trafen. Und es sich bei den Ehefrauen ausnahmslos um Osteuropäerinnen handelt. Frauen, die nach Erkenntnissen der Ermittler über Mittelsmänner in Rumänien, Bulgarien, Tschechien oder der Slowakei angeworben werden. 

Da sie EU-Bürgerinnen sind, können die „Ehemänner“ aus Indien oder Pakistan eine EU-Aufenthaltsgenehmigung beantragen. Sie müssen nur eine mit der Gattin gemeinsam genutzte Wohnung per Mietvertrag, eine Meldebescheinigung und einen Arbeitsvertrag nachweisen.

Markus Pfau ist Chef-Ermittler der Bundespolizei in Mitteldeutschland. Er hat die kriminellen Heiratsschwindler seit Jahren im Blick.
Markus Pfau ist Chef-Ermittler der Bundespolizei in Mitteldeutschland. Er hat die kriminellen Heiratsschwindler seit Jahren im Blick. © Jürgen Lösel

Hier kommt mutmaßlich Herr J. aus Wurzen ins Spiel. Er soll dem Chef der Schleuserbande zugearbeitet haben. Vielleicht ist er sogar Mitorganisator. Das werden erst die Ermittlungen zeigen. Klar ist, Herr J. könnte als Eigentümer des Altbaus mit einigen Wohnungen fingierte Mietverträge und als Betreiber des Pizza-Service falsche Arbeitsverträge und Lohnabrechnungen ausstellen. Die Scheinehe ist ein Rundum-sorglos-Paket, eine Luxus-Schleusung, bei der niemand auf stickige Lkw-Ladeflächen oder in beengte Transporter muss.

Aber irgendwann fällt auf, dass immer die gleichen „Dolmetscher“ beim Amt behilflich sind und die gleichen Arbeitgeber oder Anschriften genannt werden, obwohl eine Zwei-Zimmer-Wohnung womöglich nicht dafür ausreicht, fünf oder mehr Ehepaare zu beherbergen. Auch Herr J. soll die „Ehemänner“ mit ihren Frauen zu ersten Behördengängen begleitet haben.

Herr J. ist Diabetiker, deshalb darf er am Morgen noch frühstücken. Wenn jemand vorläufig verhaftet wird, rechnen die Beamten auch mit Flucht- oder Suizidversuchen. Deshalb darf Herr J. jetzt nicht mehr allein zur Toilette. Der massige Mann hört, die Arme auf die Lehne eines Holzstuhls gestützt, der Dolmetscherin zu, als sie den Durchsuchungsbeschluss übersetzt.

Nach gut einer halben Stunde hat er alles verstanden. Laut Unterlagen soll er eine Pizzeria in Leipzig betreiben. Nein, nicht mehr, sagt er zur Chefin der Beamten, während die anderen Polizisten Zimmer und Schränke nach Beweisen durchsuchen. Dann gibt einen ersten Treffer. Herr J. hat ungewöhnlich viel Bargeld im Haus. Knapp 2 000 Euro im Portemonnaie, 6 000 in einem Schrank und noch mal gut 1 500 in einem kleinen Eimer. Die Beamten beschlagnahmen die Scheine, sichern mehrere Aktenordner mit Arbeitsverträgen, Stundenzetteln und Kontoauszügen. Es wird Wochen dauern, die Dokumente aller Verdächtigen zu sichten. Vielleicht ergeben sich daraus weitere Fälle und Beweise.

Den tatverdächtigen Scheinehen-Schleusern werden am Flughafen Leipzig die Fingerabdrücke.
Den tatverdächtigen Scheinehen-Schleusern werden am Flughafen Leipzig die Fingerabdrücke. © Jürgen Lösel

Die Polizisten durchsuchen inzwischen das Erdgeschoss. Herr J. hat ihnen die Räume der Pizzeria und ein Lager geöffnet, das früher einmal eine große Gaststätte gewesen sein dürfte. Es ist unklar, ob hier wirklich jeden Tag frisch gekocht und gebacken wird. Neben dem Waschbecken in der Küche steht ein halb abgeschabter Dönerspieß herum, ungekühlt bei über 20 Grad Raumtemperatur. In einer Ecke liegen offenbar am Vortag geschnittene Kartoffeln und blasse Salatköpfe. Im Keller stapeln sich Konservendosen mit Tomaten, Nudeln, Bratöl und Mehltüten. Zwei andere Polizisten gucken in einen Mercedes-Geländewagen und mehrere Transporter vor der Tür, die alle dem Pizzabäcker gehören.

Derweil gibt es in der Wohnung von Herrn J. neue Funde: ein Samuraischwert und einen offenen Schuldschein, auf dem ein anderer Inder Herrn J. bestätigt, ihm 20 000 Euro zu schulden. Die Zahl passt zu den Erkenntnissen der Ermittler. Zwischen 15 000 und 22 000 Euro soll eine Schleusung im vorliegenden Fall gekostet haben. Bei weit über 100 bisher aufgedeckten Fällen seit 2017 ein einträgliches Geschäft. Die Frauen aus Osteuropa, die nach Einschätzung der Kriminalisten in ihren Ländern eher ärmeren und sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen angehören, erhalten davon 2 000 bis 3 000 Euro.

Ein Bundespolizist durchsucht das Privatauto eines mutmaßlichen Schleusers.
Ein Bundespolizist durchsucht das Privatauto eines mutmaßlichen Schleusers. © Jürgen Lösel

Nach Abschluss aller Formalitäten reisen die Frauen zurück in ihre Heimat. Weil die Eheschließung auf Zypern oder in Dänemark nicht beim dortigen Standesamt gemeldet wird, können sie immer wieder neue Scheinehen eingehen. Manchmal findet die Hochzeit nicht einmal statt, sondern die Ehe wird einfach nur mit falschen Dokumenten und Stempeln bestätigt – die vermeintlichen Ehepartner haben das Standesamt nie gesehen.

Auch gefälschte Pässe oder Visa tauchen immer wieder auf. Um auch extrem professionell gemachte Fälschungen zu entdecken, ist Urkundenexperte Torsten Freiberg beim Großeinsatz dabei. Wie sein Chef arbeitet er normalerweise in der Zentrale der Bundespolizei-Kriminalisten in Halle.

Mit einem Kollegen checkt Freiberg an diesem Mittwoch das Papier von Pässen und offiziellen Dokumenten. Stimmt die Papiersorte, die Stärke und das Gefühl beim Berühren? Sind Schriftarten und -größen korrekt, passen die Fotos? Für fast alles gibt es internationale Standards, die die Spezialisten kennen. High-Tech-Geräte wie elektronische Lupen helfen dabei, jeden Zweifel auszuräumen.

Auch  die EU-Identitätskarten der mutmaßlichen Schein-Ehemänner haben bestimmte Merkmale. Sie sind ähnlich wie ein deutscher Personalausweis im Scheckkartenformat ausgestellt. "Auch dafür gibt es bestimmte Drucktechniken, die wir überprüfen können", sagt Freiberg.

Torsten Freiberg ist Urkunden- und Dokumentenexperte der Bundespolizei-Ermittler und kann beispielsweise gefälschte Pässe erkennen.
Torsten Freiberg ist Urkunden- und Dokumentenexperte der Bundespolizei-Ermittler und kann beispielsweise gefälschte Pässe erkennen. © Jürgen Lösel

Das Dunkelfeld, also die Zahl nicht entdeckter Fälle von Scheinehen, ist Chefermittler Markus Pfau zufolge ziemlich groß, weil Täter eben fast nur bei Kontrollen auffallen. Zwar eigne sich die Schleusung per Scheinehe schon allein aus Kostengründen nicht für eine illegale Masseneinwanderung, sie müsse aber dennoch im Fokus der Behörden stehen, weil: „Mit diesen Methoden wird der Rechtsstaat und unser Sozialsystem betrogen.“

Dem Bundeskriminalamt zufolge werden die Anbahnung von Scheinehen und die Kontaktaufnahme zwischen Migranten und Schleusern immer einfacher. Wo früher persönliche Kontakte nötig waren, werden Schleuserdienstleistungen heute im Internet, über private Facebook-Profile oder geschlossene Gruppen bei WhatsApp und anderen Messengerdiensten angeboten.

Inwieweit Herr J. darin verwickelt ist, werden seine Aktenordner zeigen, die Polizisten am Mittag in einem alten DDR-Terminal des Leipziger Flughafens abliefern, in dem – wie am Fließband – alle Tatverdächtigen vorgeführt und vernommen werden. Bis auf Herrn J. – der muss nach den Funden in seinem Haus zum Verhör in die Zentrale der Ermittler nach Halle. Erst dann entscheiden Staatsanwälte und Richter, ob er wieder nach Hause darf.