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Ein Zwangsarbeiter kehrt zurück nach Dresden 

Bis 1945 schuftete der Holländer Arie van Leeuwen für Zeiss Ikon in Dresden. Dennoch brachte ihm die Stadt Glück.

Von Henry Berndt
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Bei jedem Besuch in Dresden gehört der Neumarkt fest zum Ausflugsprogramm. In der alten Frauenkirche verlobte sich Arie van Leeuwen 1944.
Bei jedem Besuch in Dresden gehört der Neumarkt fest zum Ausflugsprogramm. In der alten Frauenkirche verlobte sich Arie van Leeuwen 1944. © Marion Doering

Von den einstigen Baracken ist nichts mehr zu sehen. Arie van Leeuwen weiß noch genau, wo sie standen. In Pieschen an der Kanonenstraße. Heute ist es die Weinböhlaer Straße. Im Stadtbild erinnert hier nichts mehr an das Leid der Zwangsarbeiter in den Jahren bis 1945. Doch in seiner Erinnerung ist alles noch da: die Doppelstockbetten in den kleinen Acht-Mann-Zimmern, die er sich vor allem mit Polen und Tschechen teilte, die mageren Essensrationen, das Sauerkraut. „Ich hatte immer Hunger“, sagt der Holländer, der in diesem Jahr seinen 99. Geburtstag feierte.

Es ist kaum zu glauben, dass Dresden ein Ort ist, an den Arie van Leeuwen gern zurückkehrt. Immer wieder. Um das zu verstehen, muss man seine Geschichte weiter vorn beginnen. Als 14-Jähriger macht er daheim in Veenendaal nahe Arnheim eine Ausbildung zum Zigarrenmacher. Später arbeitet er in einer Zigarrenfabrik, bevor die Nazis kommen und ihn zusammen mit anderen jungen Holländern mit einem Zug nach Dresden bringen. Es ist der 10. Mai 1942.

Van Leeuwen soll in der Fabrik des Kameraherstellers Zeiss Ikon an der Großenhainer Straße schuften. Jeden Tag von sechs bis sechs fährt er Material durch die Gänge. „Dafür gab es 13 Mark Taschengeld in der Woche“, erinnert er sich. Trotz der furchtbaren Lebensbedingungen geht es dem Holländer noch besser als vielen anderen Zwangsarbeitern. Vor allem die Arbeitskräfte aus KZ-Lagern sind dem Tod oft näher als dem Leben. Etwa 32.000 Zwangsarbeiter sollen es in Dresden gewesen sein, wie aus einem Polizeibericht aus dem Jahr 1946 hervorgeht. 24.000 sind heute namentlich erfasst, viele Unterlagen dagegen im Februar und April 1945 verbrannt oder vernichtet worden. Fast alle großen Betriebe in der Stadt beschäftigten damals Zwangsarbeiter, von der Zigarettenindustrie bis zur Friedhofsverwaltung, wie der Hobbyhistoriker Reinhardt Balzk 2001 in seiner Schrift „Zwangsarbeiter in Dresden“ dokumentierte.

Mit einem Arbeitskollegen besuchte
Arie van Leeuwen (l.) den Zwinger. Die Wohnbaracken an der früheren
Kanonenstraße stehen längst nicht mehr. 
Mit einem Arbeitskollegen besuchte Arie van Leeuwen (l.) den Zwinger. Die Wohnbaracken an der früheren Kanonenstraße stehen längst nicht mehr.  © privat

„Wir haben natürlich versucht, das Beste aus der Situation zu machen“, sagt Arie van Leeuwen. In der Zeiss-Ikon-Fabrik fällt ihm schnell ein Mädchen auf, das dort im Büro arbeitet. Marie-Louise Sasse. Irgendwann fragt er einen Kollegen: „Ob ich bei der Chancen habe?“ „Probiere, probiere“, habe der geantwortet. Tatsächlich stehen die Chancen ja nicht schlecht, da die meisten deutschen Männer im Krieg sind. „Ich habe die Hübscheste und die Liebste genommen“, sagt er heute. Auch wenn viele ihre Verbindung argwöhnisch verfolgen, verloben sich die beiden 1944 in der Frauenkirche. „Wo die Liebe hinfällt.“ Ein Jahr später erleben sie gemeinsam das Grauen der Bombenangriffe auf Dresden. Sie retten sich in einen Keller auf dem Postplatz und fürchten um ihr Leben. Durch ein großes Loch in der Wand können sie den Trümmern entkommen.

Alle diese Orte, die Arie van Leeuwen nie losgelassen haben, will er nun bei seinem Besuch in Dresden sehen. Seine Tochter Gerda und sein Schwiegersohn Richard haben ihm noch einmal die Möglichkeit dazu gegeben. Inzwischen kann Arie van Leeuwen nicht mehr laufen. In einer Ferienwohnung in Torna bleiben sie eine ganze Woche, treffen Verwandte und reisen in die Vergangenheit.

Vor fünf Jahren ist Marie-Louise gestorben. 67 Jahre waren die beiden verheiratet. Dabei war er in den Wirren des Kriegsendes zunächst allein zurück nach Holland gegangen, „Liesel, willst du mit mir gehen“, habe er sie damals gefragt. Doch sie konnte ihren Bruder und ihre Mutter nicht im Stich lassen. Heute verstehe er das. Wenig später folgte sein Liesel ihm dann doch. „Das war sehr gefährlich“, sagt Arie van Leeuwen. Nach der Besatzungszeit war es Deutschen verboten, nach Holland zu reisen. Beim ersten Versuch sei sie im Gefängnis gelandet. Der zweite Anlauf glückte. Eigentlich sollte es nur ein Versuch sein, doch der Weg zurück nach Deutschland war für Jahre unmöglich.

Später dann, ab den 50er-Jahren, seien sie aber fast jeden Sommer in Dresden gewesen. Die Stationen waren dann fast immer dieselben: Heidefriedhof, Frauenkirche, Essen im Watzke, wo Marie-Louise früher oft mit ihrem Opa einkehrte.

Nun ist Arie van Leeuwen ohne sie nach Dresden gekommen. Dabei habe es noch vor wenigen Monaten nach einem schweren Sturz so ausgesehen, als würde er das nicht mehr schaffen. „Mit der Reise wollten wir ihn auch ein bisschen motivieren“, gibt seine Tochter Gerda zu. Das hat offensichtlich funktioniert. Nächstes Jahr will ihr Vater wiederkommen und sich bis dahin fit halten. In seinem Rollstuhl macht er rhythmische Beingymnastik zu Blasmusik und trinkt dazu jeden Tag ein Gläschen Jenever, den niederländischen Wacholderschnaps. Der hält jung, sagt er. Im September 2020 wird er 100.