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Israelischer Paar nimmt Auszeit in Dresden und findet ein bisschen Frieden

Nava und Aharon Rabin haben Israel nach dem Massaker der Hamas verlassen – und sind eher zufällig in Sachsen gelandet. Hier fanden sie Ruhe und Sicherheit. Jetzt steht der Rückflug nach Tel Aviv an. Ihre Gefühlswelt ist in Aufruhr.

Von Gunnar Klehm
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Nava und Aharon Rabin aus Israel suchen derzeit die Sicherheit in Dresden. Im Hintergrund rechts weht die Israel-Fahne vor dem Landtag.
Nava und Aharon Rabin aus Israel suchen derzeit die Sicherheit in Dresden. Im Hintergrund rechts weht die Israel-Fahne vor dem Landtag. © kairospress

Es weht ein leichter Wind an diesem Novembertag an der Elbe in Dresden. Die Schals sind fest um den Hals gebunden. Nava Rabin fröstelt etwas. Ihr Ehemann Aharon spaziert dagegen mit geöffnetem Mantel am Elbufer entlang. Lässig hält er eine Zigarre zwischen zwei Fingern. So entspannt waren sie lange nicht mehr. Ein böses Wort über das kühle Wetter kommt ihnen nicht über die Lippen. Dabei könnten die beiden auch am Strand des Mittelmeers schlendern, bei 25 Grad und in offenen Latschen. Doch sie sind froh, jetzt hier im kalten Herbst in Deutschland zu sein.

Die Rabins sind Juden aus dem israelischen Küstenort Jaffa. Der grenzt unmittelbar an Tel Aviv. Eher zufällig haben sie sich Dresden ausgesucht, um der Bedrohung durch Raketen zu entgehen und eine Auszeit zu nehmen vom Hass von Hamas und Hisbollah. Die beiden Rentner sind als Touristen eingereist. Für Israelis wie sie ist in Europa für einen dreimonatigen Aufenthalt kein extra Visum erforderlich. „Eigentlich sind wir aber auch Flüchtlinge“, sagt Aharon Rabin und blickt schelmisch über seine kleine runde Brille. Den Humor hat sich der 78-Jährige nicht nehmen lassen.

Ohne Kippa und Davidstern

Seit dem Massaker vom 7. Oktober ist das Leben in Israel nicht mehr das gleiche. Als nach Tagen das ganze Ausmaß der Grausamkeiten klarwurde, machte sich jeder im Land Gedanken, wie sicher das Leben noch ist. Auf dem alltäglichen Weg zum Bäcker heulten mal wieder die Sirenen. Da fragte sich Aharon: Was machen wir hier noch? Kämpfen kann und will er nicht. Er sieht nur noch auf einem Auge und liebt trotzdem das Leben.

Nach dem 7. Oktober fassten beide den gemeinsamen Entschluss, Israel vorübergehend zu verlassen. Aber wohin? Warum gerade Deutschland? Haben sie keine Angst vor Antisemiten hier? „Nein, ich war wirklich schon oft und lange in Deutschland und habe nie Anfeindungen erlebt“, sagt Aharon Rabin, auch wenn ihm bewusst ist, dass es auch in Deutschland Antisemiten gibt. „Neben den USA, die eigene Interessen verfolgen, ist doch Deutschland das größte Land, das zu uns hält“, sagt er

Die Rabins sind nicht gleich als Juden erkennbar. Nur wenn sie Hebräisch miteinander sprechen, könnte man auf ihre Herkunft schließen. Sie seien nicht religiös, sagen sie. Aharons letzter Besuch in einer Synagoge ist Jahre her, als die Beerdigung seiner Schwester anstand. Er trägt weder Kippa noch Davidstern. Auch koscheres Essen komme bei ihm nicht auf den Tisch, sagt er fast rigoros. Beide bezeichnen sich nicht als typische Israelis, um dann sogleich festzustellen, dass es so etwas gar nicht gibt. Juden aus aller Welt versammeln in Israel verschiedene Mentalitäten. Hinzu kommen Christen und israelische Palästinenser, die Muslime sind und die gleichen Rechte wie Juden haben.

Über Zypern nach Deutschland

Nava Rabin hört ihrem Mann wohlwollend zu. Fast immer sind sie sich einig, so sei es ihnen auch gelungen, Jahrzehnte ohne großen Streit zusammenzuleben und auch zu arbeiten. So war es auch Anfang Oktober. Als im Raum stand, dass die militärisch noch besser als die Hamas aufgestellte Hisbollah in die Kämpfe eingreifen könnte, war das Ziel egal. Hauptsache raus. Aharons Neffe wohnt in Köln. So kamen sie darauf, nach Deutschland zu reisen. Es waren jedoch keine Flugtickets zu bekommen. Daher hieß es täglich: suchen und warten.

Der erste Flug Richtung Europa, für den das Paar Tickets bekam, führte nach Larnaka auf Zypern. Also ging es spontan dorthin. Das Ziel blieb Deutschland, auch wenn es auf Zypern schön war. Nach drei Tagen bekamen sie schließlich einen Flug nach Köln. Aharons Tochter aus erster Ehe hatte dagegen Unterschlupf in London gefunden und floh mit ihren drei Töchtern im Teenageralter dorthin.

Mehr als zwei Wochen wollten die Rabins ihrem Neffen nicht zur Last fallen. Da bekamen sie den Tipp: Dresden. Dort solle es schön sein. Als er online eine private Unterkunft fand, die ins langsam schrumpfende Budget passte, war wieder spontan ein gemeinsamer Entschluss gefasst.

Eine Umkehr der Geschichte

Beim Spaziergang entlang der Elbe sagt Aharon: „Ihr wisst hoffentlich, wie schön ihr es hier habt.“ Natürlich haben sie die Reize der Landschaft und der Landeshauptstadt genossen, die Brühlsche Terrasse, den Blick vom Luisenhof ins Elbtal. Aber mit „schön“ meinen sie jetzt den Frieden und die Sicherheit hier.

Dann muss Aharon Rabin wieder kurz auflachen, weil seine Flucht nach Deutschland wie eine Umkehr der Geschichte wirkt. Seine Eltern wurden im Zweiten Weltkrieg von deutschem Bombenterror über Osteuropa nach Israel vertrieben. Nur eine Generation später vertrieben Bomben und Raketen der Hamas ihn selbst nun nach Deutschland.

Nach dem Überfall Nazi-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg auf Polen waren seine Eltern gen Osten nach Russland geflohen. „In letzter Minute.“ Dort mussten sie unter erbärmlichen Bedingungen in einem Arbeitslager leben und flohen weiter nach Kasachstan. Hier kam Aharon 1945 zur Welt. Nach der Staatsgründung zog die Familie schließlich 1950 nach Israel. Bei Navas Eltern war es ähnlich. Sie stammen aus Polen und Russland.

„In Israel fingen wir von null an, also wirklich null“, erzählt Aharon Rabin. Das letzte Geld wurde für die Schiffspassage nach Haifa aufgebraucht. Dort lebte die Familie lange in einem Zeltlager. Hunger bestimmte das Leben. Dann erhielten sie ein kleines Stück Land mit einer mehr schlecht als recht zusammengezimmerten Holzhütte. Es gab weder Strom- noch Wasseranschluss. Mühsam hielt sich die Familie mit einer kleinen Baumschule über Wasser. „Heute haben wir moderne Städte mit Hochhäusern. Das Land hat sich enorm entwickelt.“

Traum vom entspannten Fußballerlebnis

Immer wieder wollen sie bei einem Stadtrundgang durch Dresden wissen, wie es an dieser und jener Stelle zu DDR-Zeiten ausgesehen hat. Da müssen inzwischen auch Einheimische manchmal grübeln. In den letzten 30 Jahren sind so viele neue Gebäude entstanden, nicht nur an Neumarkt, Postplatz und Altmarkt, auch in der Neustadt und anderswo. Die Rabins sind beeindruckt, wie sich Gesellschaften entwickeln können. Dass Dresden 1945 schwer zerstört wurde, wissen sie. Dann erzählen sie voller Freude von der ersten Straßenbahn in Tel Aviv, die auch unterirdisch fährt und erst kürzlich in Betrieb gegangen ist.

Nava und Aharon Rabin im Dresdner Rudolf-Harbig-Stadion vor dem Spiel gegen die Freiburger Reserve. Mit dem Besuch erfüllten sie sich einen kleinen Traum.
Nava und Aharon Rabin im Dresdner Rudolf-Harbig-Stadion vor dem Spiel gegen die Freiburger Reserve. Mit dem Besuch erfüllten sie sich einen kleinen Traum. © privat

Besonders gefreut haben sie sich, dass sie sich in Dresden einen lange gehegten Traum erfüllen konnten. „Ich wollte schon immer mal die Atmosphäre in einem vollen Fußballstadion in Deutschland live erleben“, sagt Nava. Beide sind Fußballfans und haben den Fernsehkanal abonniert, der in Israel die deutsche Bundesliga überträgt. Den deutschen Fußball finden sie attraktiver als den englischen oder gar den in Israel. Ihr Vermieter besorgte ihnen Karten für das Spiel von Dynamo Dresden gegen den SC Freiburg. „Das war ein Erlebnis. Tolle Tore. Und man hat mal nicht an die Situation in Israel gedacht“, sagt Aharon Rabin.

Nachrichten schauen sie nur noch einmal morgens querbeet im Internet, um sich einen Überblick zu verschaffen. Dann schalten sie bewusst ab. Zum Glück kennen sie niemanden persönlich, der bei dem Massaker am 7. Oktober umgebracht oder verschleppt wurde. Nur noch Leid zu sehen, sei schwer zu verkraften. Deshalb sei es die richtige Entscheidung gewesen, ins „schöne Dresden“ zu reisen.

Schutzraum im Hochhaus

Früher haben beide eine gut gehende Maßschneiderei in Jaffa betrieben. Nava Rabin hatte Modedesign studiert. Er war ein umtriebiger Geschäftsmann, flog regelmäßig nach Italien, um die Stoffe zu ordern. Selbst Minister hätten für deren Frauen bei ihnen schneidern lassen. Vor zwölf Jahren setzten sie sich zur Ruhe. Inzwischen ist aber auch in Israel vieles teurer geworden. Aharon Rabin ging deshalb zuletzt wieder rund zehn Stunden die Woche arbeiten, um sich was hinzuzuverdienen. Er hat gestaunt, dass Lebensmittel und Mieten in Dresden viel günstiger sind als in Israel.

In Jaffa wohnen die Rabins in einem Hochhaus im achten Stock mit Blick zum Strand. Der nächste Schutzraum ist drei Etagen tiefer. „Wenn Raketen-Alarm ist, haben wir drei Minuten Zeit“, sagt Nava Rabin. In fast jedem Haus gibt es Schutzräume. Die Gefahr ist in Tel Aviv nicht so groß wie in der Nähe des Gazastreifens oder an der Grenze zum Libanon, wo der Süden von der Hisbollah-Armee kontrolliert wird. In den grenznahen Gebieten haben die Menschen teilweise nur Sekunden, um bei Alarm in Schutzräume zu fliehen. Einige Orte wurden jetzt sogar evakuiert.

Der Raketenschutzschirm „Iron Dome“ kann zwar den überwiegenden Teil der Raketen abfangen. Aufgrund der schieren Masse kommen aber immer wieder Geschosse durch. Auch im Großraum Tel Aviv richteten sie Schäden an. „Das ist aber nicht so schlimm wie das Geheule der Sirenen“, sagt Nava, die kein Deutsch spricht und sich hier auf Englisch verständigt.

Politische Verantwortung

Aharon Rabin nennt sich selbst einen Pazifisten. Seit seinem Wehrdienst in der israelischen Armee habe er keine Waffe mehr angefasst. Er und seine Frau fühlten sich bislang auch so sicher in Israel. Trotzdem ist das Paar davon überzeugt, dass es zurzeit keinen anderen Weg gebe, als mit Soldaten im Gazastreifen „aufzuräumen“. Die Hamas müsse endgültig besiegt werden. Bei aller Verschiedenheit der Menschen in Israel sei man sich in diesem Punkt einig.

Wie in jeder Demokratie wird auch in Israel gestritten, etwa wegen der Siedlungspolitik oder der Justizreform. Sie selbst hätten nicht die derzeitige Regierung Israels unter Benjamin Netanjahu gewählt. Dass die Grenze nach Israel aus dem Gazastreifen von den Hamas-Terroristen überwunden werden konnte, sei ein ungeheuerlicher Fehler in der Sicherheitspolitik gewesen. Aharon Rabin freut sich zwar, dass Wahlumfragen die gemäßigte Opposition derzeit mit großem Vorsprung vorne sehen. Doch das stehe jetzt hintenan. Bei Angriffen von außen ist allen Juden klar, dass sie stark sein und zusammenstehen müssen. Erst wenn die Hamas besiegt sei, gehe es um politische Verantwortung.

Für die Rabins wird die Pause vom Sirenenalarm bald enden. Am Freitag wollen sie von Berlin einen Flug zurück nach Tel Aviv nehmen. Doch nach fünf Wochen ist dort noch kein Ende der Kämpfe abzusehen. Beim Gedanken daran wird selbst der lebenslustige Aharon Rabin ernst. Auch er ist ratlos, wie der Hass enden soll, wenn „beide Seiten recht haben“. Die Gefühle sind immer noch in Aufruhr.

Nava Rabin ist den Kampf der Religionen leid. Sie kann sich durchaus vorstellen, ihr Heimatland für immer zu verlassen. Gerade lernt sie eifrig Französisch. Paris ist ihre große Liebe, nicht nur wegen der Affinität zur Mode.

Das Leben in Israel aufzugeben ist dann doch ein Punkt, an dem sich die beiden mal nicht einig werden.