Zwei, die ein Krieg nicht trennt

Dresden. Es ist Montagabend, 18 Uhr, in einer Stunde und vierzig Minuten wird der russische Präsident Wladimir Putin eine Rede halten, die über die weitere Entwicklung in der Ukraine entscheidet. Maxim Andreev und Artem Korzhenevych bestellen sich Bier: Neustadt Hell, Elbhang rot. Maxim kommt aus Russland, Artem aus der Ukraine. Sie haben sich bei einem deutsch-russischen Stammtisch kennenlernt. Inzwischen spazieren sie gerne an der Elbe entlang oder treffen sich im Bautzner Tor, einer Kneipe in der Dresdener Neustadt. Wie heute.
Maxim fragt, wie es Artems Verwandten geht. Der Onkel und dessen Familie wohnen etwa 50 Kilometer von Luhansk entfernt, Gefechte gab es dort noch nicht. Weggehen wollen sie nicht, erzählt Artem. "Das sind alte Leute, die haben dort ihr Haus, die bekommen ihre Rente." Der Onkel ist 72 Jahre alt, Artems Cousin Anfang 30, er hat ein kleines Kind. Artem fürchtet, dass das russische Militär ihn holen könnte, damit er gegen die Ukraine kämpft. Sind die Verwandten Ukrainer oder Russen? "Ich habe nie gefragt", sagt Artem. Bis 2014, als Russland die Halbinsel Krim mithilfe eines völkerrechtswidrigen Referendums annektierte, habe sich diese Frage nie gestellt. Sie sprechen Russisch, Artems Mutter aber, die Schwester des Onkels, identifiziert sich klar als Ukrainerin.
Maxim und Artem stoßen an. Maxim erzählt, wie er sich in der vergangenen Woche über Telegram mit seiner Mutter stritt. Sie wohnt in Moskau, schaut staatliches Fernsehen. Putin wählte sie ihrem Sohn zufolge noch nie, ist aber überzeugt, dass die USA den derzeitigen Konflikt produziert haben. Sie schrieb:
"Glaubst du, Russland greift die Ukraine an?"
"Ich glaube nicht, dass es passiert, aber Putin provoziert."
"Du bist mit Bidens Propaganda vergiftet."
Die Mutter habe daraufhin kaum geschlafen. Sie sage, sie schäme sich, weil ihr Sohn kein Russlandpatriot ist. Seit Samstag haben sie nichts mehr voneinander gehört.
Die Muttersprache der Freunde: Russisch
Artem checkt sein Handy. Seine Mutter, die in Berlin wohnt, habe die Verwandten bei Luhansk nach mehreren Tagen ohne Handyempfang endlich erreicht, berichtet er. Normalerweise sprechen die Freunde russisch miteinander, die Muttersprache der beiden. Artem, 41, stammt aus Mykolajiw, einer Stadt im Süden des Landes, nicht weit von der Krim. Die russische Kultur prägte ihn stärker als die ukrainische, Ukrainisch lernte er erst in der Schule. Später studierte er Volkswirtschaftslehre in der Ukraine. Er wollte Wissenschaftler werden, etwas, das ihm in seinem Heimatland kaum möglich erschien. 2004 kam er deshalb nach Deutschland, 2014 nach Dresden, wo er inzwischen als Professor für Volkswirtschaftslehre forscht und lehrt. Er hat die deutsche Staatsangehörigkeit.
Maxim, 34, studierte Maschinenbau an der staatlichen Technischen Universität in Moskau, promovierte mit einer Arbeit über Federungssysteme in Fahrzeugen. Vor elf Jahren feierte er hier im Bautzner Tor, seiner Lieblingskneipe, Abschied nach einem Auslandssemester. Er dachte nicht, dass er noch einmal nach Dresden kommen würde. Dann kam die Annexion der Krim, der Krieg in der Ostukraine. Maxim wusste, er konnte nicht mehr in Russland bleiben, an einer staatlichen Universität. "Ich hätte sicher Alexej Nawalny unterstützt." Vor sechs Jahren zog er mit seiner Frau nach Dresden, er will die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen. Seine Familie ist mit der Ukraine verbunden: Sein Opa war Halbukrainer, seine Cousine wohnte ihn Donezk.
Maxim beobachtet Artem, der am Handy durch Telegramgruppen scrollt. Manchmal, sagt Maxim, schäme er sich Russe zu sein. Manchmal, wisse er nicht, ob er sich schämen soll. "Es kann alles möglich sein", denkt er über die jetzige Situation. "Ich glaube nicht, dass Putin es macht, aber es sieht danach aus, dass das Schlimmste passieren wird." "Mir wird schlecht, wenn ich sehe, was da passiert", sagt Artem und legt das Handy zurück auf den rotlackierten Tisch. Er nennt sich einen sehr ruhigen Menschen. Aber gerade sei er sehr aufgebracht. "Putin wird bald angreifen. Er wird heute die Gebiete Donezk und Luhansk als unabhängig erklären, dann werden seine Truppen einmarschieren."
"Ich kann nicht mit jemandem arbeiten, der meinem Land schaden will"
Artem hat an diesem Montag, wie so oft seit der Pandemie, von zu Hause gearbeitet. "Ich wollte wirklich etwas für die Arbeit machen." Doch am Vormittag bekam er mit, dass sich Putin mit Mitgliedern des nationalen Sicherheitsrates treffen wollte. Das konnte Artem nicht ignorieren. Der Außenminister habe nach der Sitzung erklärt, die Ukraine führe Krieg gegen Slawen. Maxim lacht. "Die leben in einer Parallelwelt."
"Eigentlich ist es gut, dass wir uns treffen, sonst würde ich nur Zuhause sitzen und mich aufregen", sagt Artem. Sie bestellen Smažený sýr mit tatarská omáčka, gebackener panierter Gouda mit Tatarsoße, ein tschechisches Gericht.
Artem hat beschlossen, keine Forschungsprojekte mit Russland zu starten: "Ich kann nicht mit jemandem arbeiten, der meinem Land schaden will." – "Respekt", sagt Maxim. Er weiß noch nicht, was er machen soll. Auch er habe als Ingenieur Kunden in Russland. "Business as usual ist unvorstellbar." Im Hintergrund stimmt eine Gruppe "Happy Birthday" an. Artem schaut wieder auf sein Handy. "Mein Onkel will nicht fliehen. Er sagt: es komme, was kommt."
"Deutschland kann nicht viel machen"
Was wünschen sich die beiden von der Bundesregierung? "Deutschland kann nicht viel machen", sagt Artem und schneidet ein Stück panierten Käse. Den Deutschen sei die Ukraine eigentlich egal, wenngleich es durch die jetzige Situation eine gewisse Empathie gebe. Deutschland hätte schon seit 2014 keine Geschäfte mehr mit Russland machen sollen, sagt Maxim. "Putin ist ein Verschwörungstheoretiker, der würde hier auch bei Pegida mitlaufen." Er findet es gut, dass Deutschland keine Waffen an die Ukraine geliefert hat. Lieber solle die Ukraine bald zur Nato gehören. "Ich glaube, das ist keine gute Idee", sagt Artem.
Sein Blick kehrt zurück zu den Telegramkanälen: Deutsche Welle, russische und ukrainische Chats. Er stöhnt. Putin hält in diesen Minuten eine Rede an die Nation. "Ich denke, morgen werden die Truppen einmarschieren." Er schweigt und greift sich an den Kopf. "Mir wird schlecht." Das Schlimmste sei, dass es so hinterhältig sei. Putin spreche gerade darüber, dass Russen und Ukrainer so verbunden sind, heißt es in einem Chat. "Ich würde jetzt gerne sehr lange auf Russisch fluchen." Artem übersetzt weiter aus dem Chat: Putin bezeichnet die Ukraine als keinen eigenen Staat, sondern eine Kunstkreation. "Ich hasse ihn dafür, ich hasse ihn richtig." Nun holt auch Maxim sein Handy aus der Bauchtasche. Er zeigt ein Foto aus Russland, wo die Rede gerade auf einem Fernseher übertragen wird: Putin an einem Holztisch, neben ihm zwei russische Flaggen.
"Ich bin froh, dass ich ausgereist bin", sagt Maxim. Er wisse nicht, was er gerade in Russland machen würde. Demonstrieren und im Gefängnis versauern? Artem kann sich nicht vorstellen, in die Ukraine zurückzukehren, sein ganzes Leben sei in Deutschland. "Aber ich würde der Ukraine gerne helfen, dort lehren."
Putins Rede dauert 55 Minuten
Putin spricht noch immer. Über die Geschichte. Über die Wirtschaft. Artem lacht auf einmal. Im Chat eines Podcast schreibt jemand: "Schlafen Sie auch so gerne bei historischen Podcasts ein?" Ein anderer: "Es gibt Hoffnung, dass er vergisst, worum es geht." "Humor ist das Einzige, was uns bleibt", sagt Maxim.
Putin stellt es so dar, als sei die Ukraine nur eine "abtrünnige Kolonie", kommentiert Artem die Chats. "Das sagt meine Mutter auch immer", sagt Maxim. "So, wie er spricht, klingt es, als würde er in Kiew einmarschieren", sagt Artem. Jetzt beschuldige er die Ukraine, dass sie Krieg gegen Russland plane. "Wenn es wirklich losgeht, kann ich mir nicht vorstellen, wie ich morgen arbeite." "Sag Bescheid", sagt Maxim. Er lädt seinen Freund ein, jederzeit vorbei zu kommen.
Die Moskauer Börse sei eingebrochen, liest Maxim vor. "Meine Aktien sehen auch schlecht aus, minus 27 Euro für heute." "Putin redet jetzt schon 40 Minuten, das ist sehr ungewöhnlich", sagt Artem. Es ist 20:30 Uhr, die Biergläser sind leer. "So, finito. Jetzt hat er die Gebiete anerkannt." Aus den Lautsprechern singt David Bowie "Changes". "So ein Scheißtag, ey," sagt Artem. Er wird gleich seine Mutter anrufen, besprechen, wie sie die Verwandten überzeugen können, zu verschwinden. Aber es bringe nichts, sie anzurufen und zu sagen, dass sie sich Sorgen machen. "Uns geht es gut hier." Wenn sie sich entscheiden zu fliehen, gingen sie wahrscheinlich nach Moskau, eine Cousine habe dort ein Haus.
Draußen, kurz vor 21 Uhr, regnet es. Die Linie 6 fährt gerade ein, Maxims Richtung. Sie umarmen sich. Zwei Stunden später heißt es, Putin habe angeordnet, russische Truppen in die Ostukraine zu entsenden.