SZ + Sachsen
Merken

Die Luchse Juno und Nova sind in Sachsen angekommen

Zu Wochenbeginn wurden die ersten beiden Luchse im westlichen Erzgebirge ausgesetzt. Doch das ist nur der Anfang: Denn weitere Tiere sollen folgen.

Von Christina Wittig-Tausch
 10 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Nova stürmt davon: Mitarbeiter des sächsischen Auswilderungsprojekts Relynx lassen das Luchsweibchen aus der Schweiz bei Eibenstock frei.
Nova stürmt davon: Mitarbeiter des sächsischen Auswilderungsprojekts Relynx lassen das Luchsweibchen aus der Schweiz bei Eibenstock frei. © Archiv Naturschutz LfULG, Alexander Sommer

Seit diesem Montag hat Sachsen zwei neue, ungewöhnliche Bewohner. Man hätte die Ankunft der Schweizer Luchsdame Nova und des in Thüringen aufgewachsenen Männchens Juno in Eibenstock im Westerzgebirge gern aus eigener Anschauung beschrieben.

Aber es war eine Premiere, die hier stattgefunden hat. Nicht nur für die aufgeregten Tiere, sondern für alle Beteiligten am Auswilderungsprojekt „Relynx“. Um einen ruhigen Ablauf zu gewährleisten, durften nur wenige Menschen beobachten, wie die Klappen der Transportkisten für die Eurasischen Luchse geöffnet wurden.

Der knapp zwei Jahre alte Juno aus dem Wildkatzendorf in Hütscheroda tapste im Morgengrauen eher vorsichtig davon. Nova, die zwischen drei und sechs Jahre alt sein dürfte, kam nachmittags an. Sie raste schnurstracks den Waldweg entlang und verschwand rasch zwischen den Bäumen.

Die beiden sind ein Anfang. Bis 2027 sollen noch bis zu 18 weitere der Katzen mit den prägnanten Pinselohren im Freistaat ausgesetzt werden. Lynx lynx carpathicus, der Karpatenluchs, ist eine Unterart der Eurasischen Luchse. Er soll sich hier niederlassen und für Nachwuchs sorgen, fast 300 Jahre nach der Ausrottung des letzten wild lebenden Luchses in Sachsen. Ein Stein in Hinterhermsdorf in der Sächsischen Schweiz erinnert bis heute an die Jagd auf ihn im Jahr 1743. Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts war die hochbeinige Katze, die sich vorzugsweise von Rehen, Füchsen und anderen Säugetieren ernährt, in Mitteleuropa nahezu ausgerottet.

In der Folgezeit streiften hierzulande nur vereinzelt Tiere umher. Meist kamen sie aus osteuropäischen Regionen. Nach dem Fall der Grenzen 1989/90 gab es die Vermutung, dass die Wiederbesiedlung wie beim Wolf auf natürlichem Wege stattfinden würde. Das geschah nicht.

Der Luchsstein in der Sächsischen Schweiz erinnert an die Jagd und die Tötung des letzten frei lebenden Luchses in Sachsen im Jahr 1743.
Der Luchsstein in der Sächsischen Schweiz erinnert an die Jagd und die Tötung des letzten frei lebenden Luchses in Sachsen im Jahr 1743. © Mike Jäger

Seit 2008 lässt der Freistaat Luchs-Aktivitäten verfolgen, vor allem mit Hilfe von Fotofallen. Denn Luchse sind nicht nur seltene Besucher. Sie leben heimlich, so heißt das in der Fachsprache. Aktiv sind sie dann, wenn die meisten Menschen schlafen, nachts oder in der Dämmerung. Mit ihrem gefleckten, im Sommer rotbraunen und im Winter eher graubraunen Fell sind sie gut getarnt. Bei der Jagd setzen sie darauf, so lange als möglich unsichtbar zu sein, bis sie überraschend losschlagen und die Beute durch einen gezielten Kehl- oder Nackenbiss töten. Unter natürlichen Verhältnissen töten sie nur ein Tier. Von einem Reh leben sie ungefähr eine Woche. Immer wieder gehen sie zu dem Kadaver, verstecken ihn, fressen weiter. Begegnungen mit Menschen meiden sie.

Die stromernden Luchse, das zeigte das Monitoring, blieben meist nicht lange. Eine Ausnahme war beispielsweise „Fidelius“, der aus dem Harz ins Erzgebirge zog und dort von 2013 bis 2019 lebte. Oder das namenlose Männchen, das sich ab November 2017 im Lausitzer Braunkohlerevier aufhielt. Im April darauf verschwand es wieder. Vielleicht, weil es wie die anderen Männchen keine Partnerin gefunden hatte. So überlebten die Luchse hauptsächlich in Zoos und Tierparks, wo sie auch heute gelegentlich bei Schaufütterungen aus ihren Verstecken und Ruheplätzen gelockt werden. Auch in Wildgehegen wie in Moritzburg oder in Chemnitz-Rabenstein kann man die Tiere, die ungefähr so groß sind wie ein Labrador, aus relativer Nähe betrachten, mit ihren Pinseln, dem recht kurzen Schwanz und dem auffallenden Backenbart.

Scharfsinniger Luchs

Bis heute ist nicht wissenschaftlich geklärt, welche Funktion Pinsel und Bart haben. Sie könnten Hilfsmittel sein, um Beutetiere besser zu orten, sie könnten aber auch einfach Relikte der Evolution sein. Fakt ist jedenfalls: Luchse hören hervorragend. Eine Trillerpfeife vernehmen sie auf fünf Kilometer, die Bewegungen eines Rehs noch in 500 Meter Entfernung. Sie sehen sechsmal so gut wie der Mensch. Dass Luchse hervorragende Augen haben, ist übrigens schon länger bekannt. Galileo Galilei, der innovationsfreudige Universalgelehrte des 16. und 17. Jahrhunderts, gehörte der ersten privaten wissenschaftlichen Gesellschaft an, die sich frei übersetzt die „Luchsäugigen“ nannten. Der scharfsinnige Luchs war ihr Wappentier.

Die positive Sicht war jedoch eher die Ausnahme. Der Luchs wurde, so lange es ging, bejagt, ähnlich wie der Wolf. Die Gründe dafür waren jedoch andere. Luchse waren offenbar seltener als Wölfe. Angriffe auf Nutztiere durch sie werden in historischen Quellen seltener beklagt. In Märchen und Mythen tauchen sie kaum auf. Ein Angriff auf einen Menschen ist aus dem 17. Jahrhundert aus dem Erzgebirge überliefert, als ein Jäger mit seinem Körpergewicht den Luchs niederdrücken wollte und daraufhin 16-mal in die Wade gebissen wurde. Interessant am Luchs waren vor allem sein Fell und sein Fett.

Nun ist der Luchs also zurück in Sachsen. Das heißt, er könnte wieder zurück sein, wenn alles so klappt wie erhofft. Das Ziel des Relynx-Projekts, das 1,8 Millionen Euro kostet, erläuterte Sachsens Umweltminister Wolfram Günther kürzlich bei einem Pressegespräch: Es soll „die Luchs-Populationen vernetzen, genetischen Austausch ermöglichen“ und dadurch die Art erhalten. Ein Beitrag zur Artenvielfalt also in einer Zeit, die das größte Artensterben seit der Ära der Dinosaurier erlebt. Bislang leben die Luchse in Ost- und Mitteleuropa wie auf Inseln. „Bei Störungen, beispielsweise Krankheiten, bricht die Population zusammen“, so Günther weiter. Die Insellage führe zudem zu Inzucht.

Luchse zum Auswildern kommen auch aus den Zuchtstationen von Zoos und Wildgehegen, beispielsweise in Chemnitz-Rabenstein.
Luchse zum Auswildern kommen auch aus den Zuchtstationen von Zoos und Wildgehegen, beispielsweise in Chemnitz-Rabenstein. © Archiv Naturschutz LfULG

Europaweit sind deshalb kleine Luchs-Vorkommen geplant, die die bestehenden Populationen wie Trittsteine miteinander verbinden, sie vernetzen. In den Karpaten waren Luchse nie ausgerottet. In der Schweiz, im Bayerischen Wald, im Harz und im Pfälzer Wald sind die Populationen das Ergebnis früherer Auswilderungen.

Außer in Sachsen laufen derzeit auch in Thüringen und im Schwarzwald Auswilderungsprojekte. Die Tiere stammen aus Wildfängen in der Schweiz oder Rumänien, aus Zuchtprogrammen in Zoos oder aus Stationen, die verwaiste Luchse aufziehen. Die Tiere, die ausgesetzt werden, müssen neben guter Gesundheit bestimmte Bedingungen erfüllen. Bei den Zuchttieren beispielsweise muss gewährleistet sein, dass sie nicht zu sehr an den Menschen gewöhnt sind. Die Luchse aus der Wildnis dürfen nicht durch Angriffe auf Nutztiere aufgefallen sein.

Kommunikation durch Düfte

Luchse fühlen sich am wohlsten in Wäldern, egal ob im naturnahen Wald oder im Forst. Das sächsische Luchs-Areal umfasst einen entsprechend waldreichen, knapp 2.000 Quadratkilometer großen Streifen zwischen Westerzgebirge und der Sächsischen Schweiz. Das Projekt rechnet überdies weitere 2.000 Quadratkilometer auf tschechischer Seite ein. „Nach jetzigem Ermessen könnte dies Platz bieten für ungefähr 100 Luchse“, sagt der Biologe Ulrich Zöphel vom Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie, das für die Umsetzung des Projekts verantwortlich ist. Beteiligt sind auch die Wissenschaftlerinnen Catriona Blum-Rérat vom Senckenberg Museum für Naturkunde in Görlitz und Jana Zschille von der TU Dresden.

Die wilden Katzen haben große Reviere. Männliche Luchse, auch Kuder genannt, bewohnen Gebiete zwischen 100 und 400 Quadratkilometern, je nach Nahrungsangebot und Beschaffenheit des Reviers. Das teilen sie sich mit einem Weibchen, in vielen Fällen aber auch mit zwei oder drei Luchsdamen, mit denen sie sich durch Rufe und Duftmarken verständigen. Geschlechtsgenossen werden im jeweiligen Revier nicht geduldet und bekämpft. Wölfe ignorieren sie. Kommt es doch zu einem Kampf, haben Wölfe oft das Nachsehen.

Es heißt, Luchse seien Einzelgänger. Auf die Männchen trifft das zu. Sie leben und jagen, anders als Wölfe, allein. Nach der Paarung trennen sie sich sofort wieder. Das Weibchen ist fast immer von Jungtieren umgeben. Nach rund 70 Tagen Tragzeit bringt sie zwischen ein und vier Jungen zur Welt. Mit ihren noch gering ausgeprägten Pinselohren und dem graugetigerten Babyfell erinnern sie an Hauskatzen. Nicht alle Jungtiere überstehen das erste Lebensjahr. Nach knapp einem Jahr in der mütterlichen Obhut muss der Nachwuchs losziehen und sich ein eigenes Revier suchen.

Die Männchen sind mit zwei bis drei, die Weibchen mit drei Jahren geschlechtsreif. Die Weibchen suchen sich ihre Reviere gern in der Nähe der Mutter. Die Kuder legen dafür größere Strecken zurück. Zum Teil sind Wanderstrecken von mehreren Hundert Kilometern nachgewiesen, durch Gewerbegebiete und über Autobahnen hinweg. Die Luchse finden sich, so zeigen es die Erfahrungen in der Schweiz, durchaus zurecht in der modernen Kulturlandschaft. Aber ihr Leben bleibt gefahrvoll. Luchse können in freier Wildbahn bis zu 16, 17 Jahre alt werden. Die meisten werden nicht älter als acht Jahre. Viele Tiere sterben beim Überqueren von Straßen bei Autounfällen oder durch Krankheiten. In Gebieten mit Luchspopulationen sind zudem immer wieder Fälle von Wilderei dokumentiert. Das heißt, die gefleckten Katzen werden getötet, obwohl die Jagd auf die in Europa geschützten Tiere weitgehend verboten ist.

Sorge um Nutztiere

Wo immer Luchse angesiedelt worden sind oder werden sollen, tauchen Fragen und Zweifel auf. Diskutiert wird immer wieder, wie viele Raubtiere die Kulturlandschaft verträgt und welche Folgen ihre Anwesenheit für Nutztiere, Wild und Menschen hat. Luchs und Wolf werden trotz ihrer Unterschiede häufig in einem Atemzug genannt. Das Raubtier Mensch begegnet ihnen bis heute mit gemischten Gefühlen. Der Blick auf sie differiert, je nachdem, wo man lebt und wovon. Eine große Rolle spielen auch die jüngsten Erfahrungen mit dem Wolf.

Eine nichtrepräsentative Umfrage vergangene Woche unter Mitgliedern des Sächsischen Schaf- und Ziegenzuchtverbands, wie sie das Luchsprojekt bewerten, ergab „keine Begeisterungsstürme, da die Belastungen der Schaf- und Ziegenhalter durch den Wolf mehr als ausreichend sind und eine gezielte Auswilderung nicht als wünschenswert gesehen wird“, so Sprecherin Regina Walther. Kritik übt der Landesjagdverband Sachsen, einer von mehreren Jägerverbänden in Sachsen. Im Rahmen einer Anhörung äußerte der Verein vergangenes Jahr Zweifel, ob das Nahrungsangebot tatsächlich ausreichend sei. Durch das Projekt und das Beutespektrum des Luchses sieht er „zudem jegliche Bemühungen zum Schutz und Erhalt des Birkhuhns sowie des Niederwildes“ konterkariert. „Der Luchs als Nahrungsopportunist ist ein Selbstläufer wie auch der Wolf. Lebensraumverbessernde und somit aufwändige wie auch kostenintensive Maßnahmen für den Arterhalt bedarf es für beide nicht, im Gegensatz zu anderen bedrohten Arten“, meint Mathias Rehm von der AG Naturschutz.

Ulrich Zöphel vom Landesamt für Umwelt und Geologie sagt, dass das Birkhuhn sehr selten und eine Begegnung mit einem Luchs eher unwahrscheinlich sei. Der Luchs sei zudem auf Rehe spezialisiert. In Bezug auf die Gefährlichkeit für Nutztiere verweist er auf die Erfahrungen im Bayerischen Wald. Dort kämen bei rund 50 Luchsen im Schnitt vier Risse jährlich vor.

In der Schweiz, wo die Auswilderungen 1971 begannen, leben heute in den Alpen 130 Luchse, im Schweizer und im französischen Teil des Jura sind es 150. Die Angriffe auf Nutztiere liegen im Schnitt bei 50 Fällen jährlich, allerdings wird in den Almwirtschaften auch kaum Herdenschutz betrieben. Der Luchs habe bislang andere Tierarten nicht ausgerottet, resümierte die Kora-Stiftung für Raubtierökologie und Wildtiermanagement 2021. Dort, wo er siedelt, würden die Bestände der von ihm bejagten Rehe und Gämsen stark schwanken. Zum Teil sinke die Zahl der Rehe deutlich.

Wie sich die Luchse in Sachsen entwickeln, ob sie bleiben oder abwandern, ist derzeit offen. Die Fachstelle Wolf des Landesamts für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie wird die Begutachtung möglicher Luchsrisse mit übernehmen. Auch Entschädigungen wird es geben. Das Faltblatt für den Bau von Weideschutzzäunen ist nun ergänzt um einen Hinweis auf den Luchs: Wichtig sei genügend Abstand zu Bäumen, die Luchse geschickt erklimmen. Die Internetseite luchs.sachsen.de enthält eine Fülle von Informationen dazu, über das Leben der Luchse und das Monitoring in Sachsen. Geplant ist ein Film über die erste Auswilderung. Demnächst wird es Daten von Nova und Juno geben: Die Tiere bekamen vor dem Auswildern ein Halsband mit einem Sender. Wenn alles gut geht, hält beides ein Jahr und liefert Erkenntnisse, wie die beiden Luchse wandern, jagen, lieben, leben.