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Missbrauch in der Evangelischen Kirche Sachsen: "Pobershau kann nur Fall 0 sein"

Zum ersten Mal hat die Evangelische Kirche in Sachsen einen Missbrauchsfall von einer unabhängigen Kommission aufarbeiten lassen. Diese kommt zu dem Schluss: Pobershau kann überall sein.

Von Henry Berndt
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Die Idylle trügt: Missbrauchsfälle in der Kirchgemeinde in Pobershau beschäftigen bis heute die Gemeinde.
Die Idylle trügt: Missbrauchsfälle in der Kirchgemeinde in Pobershau beschäftigen bis heute die Gemeinde. © dpa

Die Silberscheune in Pobershau ist gut gefüllt an diesem Dienstagabend. Viele Mitglieder der Kirchgemeinde sind gekommen, der Landesbischof Tobias Bilz, aber auch drei Frauen, die mit ihren Aussagen zu jahrelangen sexuellen Übergriffen überhaupt erst dafür gesorgt haben, dass es diese Veranstaltung gibt.

In den Jahren zwischen 1997 und 1999 wurden sie von einem ehrenamtlichen Kantor im Ort sexuell missbraucht. Sie waren damals zwischen elf und 15 Jahre alt und mussten erdulden, dass der Mann ihnen immer wieder an die Brust und an den Po fasste. Erst 2019 wurden die Fälle öffentlich und spalteten die Kirchgemeinde. Während die einen den Mann in Schutz nahmen, forderten andere eine Aufklärung der Geschehnisse. Ein eingeleitetes Strafverfahren wurde nach wenigen Monaten eingestellt, da die Taten verjährt waren.

Moderatorin Martina de Maiziere, Landesbischof Tobias Bilz sowie Mitglieder der Aufarbeitungskommission diskutieren den Bericht zum Missbrauch in der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Pobershau.
Moderatorin Martina de Maiziere, Landesbischof Tobias Bilz sowie Mitglieder der Aufarbeitungskommission diskutieren den Bericht zum Missbrauch in der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Pobershau. ©  dpa/Jan Woitas

Damit hätte der Fall zu den Akten gelegt werden und in Vergessenheit geraten können. Zum ersten Mal nutzte die Evangelische Landeskirche in Sachsen nun jedoch die Chance, gemeinsam mit der Kirchgemeinde Pobershau und dem Kirchenbezirk Marienberg eine unabhängige Aufarbeitungskommission einzusetzen, die sich mit der Dimension des Falls, den Täterstrategien und den Folgen der sexualisierten Gewalt auseinandersetzt.

Zu der Kommission gehörten Gregor Mennicken, Facharzt für Psychosomatische Medizin, Julia Schellong, Leiterin der Psychotraumatologie am Dresdner Universitätsklinikum, sowie die Präventionsexpertin Christiane Hentschker-Bringt und der Rechtsanwalt Jörn Zimmermann. In dieser Woche stellten sie ihren Abschlussbericht vor, der nun auch online auf der Seite der Evangelischen Landeskirche zu finden ist.

Ein Schild weist am Ortseingang weist auf das Bergdorf Pobershau hin. Dort stellte am Dienstagabend eine Kommission ihren Abschlussbericht zu sexualisierter Gewalt in der Kirchgemeinde vor.
Ein Schild weist am Ortseingang weist auf das Bergdorf Pobershau hin. Dort stellte am Dienstagabend eine Kommission ihren Abschlussbericht zu sexualisierter Gewalt in der Kirchgemeinde vor. © dpa

Im Zuge der Aufarbeitung wurden im vergangenen Sommer 18 mehrstündige Interviews mit Betroffenen und Zeitzeugen geführt sowie etwa 1.000 Seiten an Dokumenten gesichtet und ausgewertet. Der Beschuldigte selbst stand den Experten nicht für Gespräche zur Verfügung.

Am Ende richtete die Kommission auch den Blick nach vorn und sprach 22 Empfehlungen aus. Sexualisierte Gewalt müsse als Teil kirchlicher und gesellschaftlicher Realität wahrgenommen und enttabuisiert werden, heißt es. Konkret empfiehlt die Kommission die proaktive Aufarbeitung der in der Landeskirche bereits bekannt gewordenen Fälle.

"Wir stehen ganz am Anfang", sagt Christiane Hentschker-Bringt. "Pobershau kann bei der Aufarbeitung in Sachsen nur ein Fall 0 sein." Der Fall des früheren Chemnitzer Kirchenwarts Kurt Stroer, der in den vergangenen Monaten ebenfalls Schlagzeilen machte, sei beispielsweise von ganz anderer Dimension. Mit derzeit 33 Opfern sexueller Übergriffe in den 60er- und 70er-Jahren ist der Fall Stroer der größte bislang bekannte in der Evangelischen Kirche in Sachsen. Der 2013 gestorbene frühere Kirchenwart hatte Seelsorgegespräche genutzt, um an junge Männer heranzukommen und sie sexuell zu missbrauchen. Der Fall wird derzeit wissenschaftlich und theologisch aufgearbeitet, soll künftig aber auch die Landeskirche beschäftigen.

Die unabhängige Kommission beschäftigte sich anderthalb Jahre lang mit dem Fall Pobershau.
Die unabhängige Kommission beschäftigte sich anderthalb Jahre lang mit dem Fall Pobershau. © SZ/Henry Berndt

Die Kommission im Fall Pobershau glaubt erkannt zu haben, dass sich die Landeskirche inzwischen "auf den Weg gemacht" habe. Die Ausarbeitung einer Gewaltschutzverordnung und eines obligatorischen Verhaltenskodexes für hauptamtlich und ehrenamtlich Mitarbeitende seien "wesentliche Schritte" gewesen.

Landesbischof Bilz hatte bereits bei der Einsetzung der Kommission Fehler eingeräumt: "Wir haben lange gebraucht, bevor wir als Landeskirche richtig handlungsfähig waren", sagte er damals.

Strukturell gebe es nun noch viel zu tun, so die Kommission. "Im Bereich der Prävention ist auch das Land Sachsen aufgefordert, mehr Engagement zu entwickeln", heißt es. „Es braucht flächendeckend und mit ausreichenden Ressourcen ausgestattete Beratungsangebote für Betroffene, deren Angehörige, aber auch für Fachkräfte, die mit dem Thema sexualisierte Gewalt konfrontiert sind", sagt Christiane Hentschker-Bringt. Auch an Präventionsangeboten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mangele es bislang.

Die Vorstellung des Abschlussberichtes in Pobershau offenbarte am Dienstag, dass die Spaltung der Kirchgemeinde noch immer spürbar ist. So sprach einer der Besucher davon, dass der beschuldigte Kirchenmusiker durch die Aufarbeitung "gekreuzigt" worden sei. Andere Besucher entschuldigten sich bei den Betroffenen.

Dass in Pobershau immer noch Gerüchte und Halbwahrheiten das Zusammenleben in der Gemeinde belasten, überrascht die Mitglieder der Kommission nicht. Tendenzen der Spaltung wie auch der Täter-Opfer-Umkehr seien typische Folgen der Aufdeckung sexualisierter Gewalt.