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Dutzendfacher Missbrauch in Sachsens Evangelischer Kirche: Nie mehr sprachlos

Jahrzehntelang haben die Missbrauchsopfer des Kirchen-Jugendwarts Kurt Ströer geschwiegen. Jetzt wollen sie mitreden und endlich Teil der Aufarbeitung sein.

Von Henry Berndt
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Im größten Missbrauchsfall in der Evangelischen Kirche in Sachsen haben sich bislang 33 Opfer gemeldet.
Im größten Missbrauchsfall in der Evangelischen Kirche in Sachsen haben sich bislang 33 Opfer gemeldet. © Friso Gentsch/dpa

Die Beichte kannte nur ein Thema: Sex. Wie hältst du es mit der Selbstbefriedigung? Was machst du da genau und wie oft? Woran denkst du? Kurt Ströer wollte es ganz genau wissen. Nur, wer sich ihm vollkommen offenbarte, dem gab er die Möglichkeit, sich von seiner „Schuld“ zu befreien und ewigen Höllenqualen zu entgehen.

Ströers Spaziergänge zu zweit an der Friedhofsmauer in Chemnitz waren schon in den 50er-Jahren berüchtigt. „Warst du auch schon dran?“, fragte man sich untereinander. Joachim Heimann war 15, als er „dran“ war. Als Mitglied der Jungen Gemeinde befragte Ströer auch ihn unter vier Augen zu seinen sexuellen Neigungen. „Irgendwann hat er den Arm um mich gelegt“, erinnert sich der heute 80-Jährige. „Als er dann noch anfing, mich mit der anderen Hand zu befummeln, bin ich abgehauen und nie wieder dort erschienen.“ Joachim Heimann konnte fliehen – doch das gelang den wenigsten.

Joachim Heimann aus Chemnitz verdrängte den Missbrauch mehr sechs Jahrzehnte lang.
Joachim Heimann aus Chemnitz verdrängte den Missbrauch mehr sechs Jahrzehnte lang. © SZ/Henry Berndt

Wie inzwischen bekannt ist, litten viele Jugendliche zum Teil über mehrere Jahre unter den Übergriffen. Kurt Ströer war Diakon und engagierte sich lange Zeit als Jugendwart in der Region rund um Chemnitz, das damals noch Karl-Marx-Stadt hieß. Mit mindestens 33 Opfern handelt es sich schon jetzt um den größten bekannten Fall in der Evangelischen Kirche in Sachsen. Es geht um Missbrauch in vielen Facetten, sexuellen und auch geistlich-geistigen. Die meist männlichen Jugendlichen ließ Ströer „die Liebe Gottes spüren“, in dem erst sie fest umarmte, ihnen Zungenküsse gab, ihnen an oder in die Hose fasste.

In einem grauen Notizheft hielt er selbst jahrzehntelang seine „Bekehrungen“ in Kurzform fest: Name, Ort, Datum. 1.473 Einträge finden sich hier. Wie viele dieser Menschen er missbrauchte und auf welche Weise, das wird sich womöglich nie herausfinden lassen.15 seiner Opfer trafen sich am vergangenen Wochenende in der Evangelischen Akademie in Meißen, um gemeinsam Worte dafür zu finden, was sie erleben mussten. Den Raum für das dreitägige Treffen stellte ihnen die evangelische Kirche bereit. Die zentralen Fragen lagen und liegen auf der Hand. Erstens: Wie konnte es so weit kommen? Und zweitens: Was muss geschehen, damit sich Dinge wie diese nicht wiederholen können? Auf der Suche nach Antworten wollen sich die Opfer einbringen. Auch das ist ein Grund des Treffens. Gemeinsam wollen sie künftig selbstbewusster auftreten, mit einer lauter und nicht zu überhörenden Stimme sprechen.

Wohltäter und Straftäter: Der Diakon Kurt Ströer arbeitete gern mit seinen Teddys Ursus und Hilde.
Wohltäter und Straftäter: Der Diakon Kurt Ströer arbeitete gern mit seinen Teddys Ursus und Hilde. © privat

Die Tische im Besprechungsraum stehen im Viereck. Davor eine schwarze Pinnwand, an die orangefarbene Karteikarten geheftet sind: „Beichte“, steht auf einer, „Noch müssen wir betteln“ heißt es auf einer anderen Karte, „Trauma“ steht auf einer dritten. Der Vortrag eines Trauma-Spezialisten gehörte am Sonntag zum Programm des Treffens.

„Für mich ist wichtig, dass ich irgendwann emotional mit dem Thema abschließen kann“, sagt Joachim Heimann. Das Thema, das über Jahrzehnte in seinem Kopf „verschüttet“ gewesen sei. Dafür seien für ihn vor allem zwei Dinge wichtig: Ein Schuldbekenntnis der Institution Kirche und klare Aussagen von Menschen, die jahrelang eng mit Ströer zusammenarbeiten haben und sich nun nicht hinter „Zweckdemenz“ verstecken dürften. „Es ist unmöglich, dass über all die Jahre niemand etwas von diesen Vorfällen mitbekommen hat“, sagt Heimann. Dazu komme, dass die ersten Vorwürfe bereits im Jahr 2012 öffentlich wurden, ein Jahr vor Ströers Tod. Auch eine kircheninterne Anzeige habe es damals gegeben. Passiert sei danach jedoch fast zehn Jahre lang: nichts.

An die Evangelische Landeskirche richten die Missbrauchsopfer den konkreten Vorwurf, dass man sie bislang fast gar nicht in die sowieso viel zu spät begonnene Aufarbeitung eingebunden habe. Eine Broschüre zur Prävention, die im vergangenen Herbst erschien, sei komplett ohne ihre Mitwirkung verfasst worden. „Wir fühlen uns noch immer als Bittsteller“, sagt Matthias Oberst, einer der Sprecher der Gruppe. Ohne den Blick zurück könne es aber keinen Blick nach vorn geben.

Drei Tage lang trafen sich Missbrauchsopfer Ströers in Meißen zum Gedankenaustausch.
Drei Tage lang trafen sich Missbrauchsopfer Ströers in Meißen zum Gedankenaustausch. © dpa

Mit der wissenschaftlichen Untersuchung des Falls Ströer beschäftigt sich derzeit der Forschungsverbund Forum. Die Ergebnisse der Untersuchung sollen im Herbst vorliegen. Die Kirche betont, auch zuletzt bereits Wert auf die Einschätzungen der Opfer gelegt zu haben. So sei der Anstoß für eine zusätzliche theologische Aufarbeitung und die Gründung einer Arbeitsgruppe auf die Anregung von Betroffenen zurückzuführen. „Dennoch nehmen wir die Kritik natürlich sehr ernst und werden gemeinsam überlegen, welche Möglichkeiten der Beteiligung es geben sollte“, sagt Tabea Köbsch, Sprecherin des Evangelisch-Lutherisches Landeskirchenamtes in Sachsen.

Joachim Heimann, das älteste der bislang bekannten Opfer Ströers, ist zugleich einer der wenigen unter ihnen, die den christlichen Glauben hinter sich gelassen haben. Kirchen betrete er heute nur noch aus kulturhistorischem Interesse. Das erleichtere es ihm zugleich, Kurt Ströer als das zu sehen, was er aus seiner Sicht war: ein manipulativer Verbrecher.

"Lebensleistung, die ich gern würdigen würde"

Nicht alle in der Runde können oder wollen es sich so einfach machen. Während die einen nicht einmal Ströers Namen in den Mund nehmen und nur von „K.S.“ sprechen, berichten andere von einer innerlichen Zerrissenheit. Hier der Wohltäter, da der Straftäter. Sie erzählen davon, wie Ströer sie mit seiner lebendigen Bibelarbeit begeisterte, wie sie in ihm eine Vaterfigur sahen, die ihr Leben bis heute geprägt habe. Trotz der Übergriffe nicht nur im negativen Sinne.

Genau hier knüpft auch Harald Bretschneider an. Der frühere sächsische Landesjugendpfarrer lernte Ströer bereits 1956 kennen. Damals war Bretschneider selbst erst 17 Jahre alt. Später besuchte er Ströer häufig mit seinen Jugendgruppen auf Rüstzeiten. Man habe ein sehr enges Verhältnis gehabt. „Nie habe ich dabei Gewalt oder etwas Vergleichbares erfahren und wurde später auch nie von einem der Jugendlichen darauf angesprochen“, sagt er heute, schickt aber im selben Satz hinterher: „Das heißt nicht, dass ich die Vorwürfe bezweifle oder in irgendeiner Weise kleinreden möchte.“ Man spürt, wie schwer sich Bretschneider mit einem Urteil tut.

Er spricht von Ursus und Hilde, den beiden Teddybären, die Ströer immer wieder gern in seine Bibelarbeit einband, und die wohl irgendwie auch die Last von Ströers Kinderlosigkeit kompensierten, wie Bretschneider glaubt. Nach einem Kopfschuss im Zweiten Weltkrieg sei Ströers Gesicht mit 27 Operationen zusammengeflickt worden, erzählt er weiter. Seitdem sei der spätere Jugendwart auf einem Auge blind gewesen. „Ich habe stets bewundert, dass er nie resigniert hat. Das ist eine Lebensleistung, die ich gern würdigen würde. Trotz allem.“

Trauerrede mit Abgründen

Von der „anderen Seite“ Ströers habe auch er erst ein Jahr vor dessen Tod erfahren, sagt Bretschneider. „Es ist oft so, dass besonders begabte Menschen häufig Abgründe in sich bergen, die nur erahnt werden können.“ Er habe noch Gelegenheit gehabt, mit Ströer über die Vorwürfe zu sprechen – und dieser habe sie nicht bestritten. „Er zeigte sich schweigend einsichtig und in der Tiefe berührt.“

Ströers Kirchgemeinde im Chemnitzer Stadtteil Wittgensdorf erinnert auf ihrer Internetseite bis heute nur positiv an ihn: „Kurt hat viele Jugendliche und Ehepaare mit seiner Begeisterung für Jesus angesteckt geprägt und ihnen geholfen selbst den Weg des Glaubens zu gehen.“

Ähnlich formulierte es auch Bretschneider in seiner Trauerrede, als Ströer im Jahr 2013 gestorben war. Er erwähnte jedoch auch die „tiefen Abgründe“, die viele leidvoll erleben mussten. Was das am Ende für ihn bedeute? „Lasst uns deswegen nicht das ganze Menschenleben verdammen“, bat Bretschneider.

Spricht er damit auch für die Evangelische Kirche? „Im Moment steht für uns das Leid der Betroffenen im Mittelpunkt“, sagt Sprecherin Tabea Köbsch. Noch sei die Aufarbeitung nicht abgeschlossen. „Es steht aber jetzt schon fest, dass das Wirken Kurt Ströers nie mehr ohne diese Dimension seines Handelns und das durch ihn verursachte Leid der Betroffenen gesehen werden kann.“