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Dresdner Flutgedächtnis: Wie Nussknacker und Gartenzwerg das Wasser überlebten

Das Dresdner Stadtarchiv sammelt Erinnerungen an die Hochwasserkatastrophe und teilt sie mit den Gästen einer emotionalen Ausstellung. Fünf Exponate.

Von Nadja Laske
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Renate Fehrenbach steuert für die neue Ausstellung im Stadtarchiv ihre beiden Nussknacker bei. Sie hatten die Flut 2002 schwer lädiert überlebt.
Renate Fehrenbach steuert für die neue Ausstellung im Stadtarchiv ihre beiden Nussknacker bei. Sie hatten die Flut 2002 schwer lädiert überlebt. © Mandy Ettelt

Dresden. Als diese frohgelaunte ältere Dame mit ihrer markanten Brille unterm weißen Pony durch die Tür tritt, weiß Sylvia Drebinger-Pieper ihren ohnehin geliebten Job umso mehr zu schätzen. Seit Jahren, verstärkt jedoch seit einigen Monaten, melden Dresdnerinnen und Dresdner bei der Historikerin des Stadtarchivs ihren Besuch an. Sie kommen, um sehr persönliche Dinge zu bringen: Erinnerungen an ihre Erlebnisse während der Flut 2002, die nun 20 Jahre her ist.

Die Besucherin jenes Tages heißt Renate Fehrenbach. Sie hat zwei Nussknacker dabei - und ihre Geschichte. Vorsichtig stellt die 74-Jährige die Holzfiguren auf den Tisch. "Den kleineren hat mir meine Mutter mal geschenkt", sagt die Seniorin, "Der große hier ist für mich aber noch viel wichtiger. Ich habe ihn mir 1965 von meinem ersten Lehrlingsgeld gekauft."

Was von Renate Fehrenbachs Weihnachtsdekoration nach der Kellerflutung noch übrig war, landete auf dem Müll - bis auf ihre Nussknacker.
Was von Renate Fehrenbachs Weihnachtsdekoration nach der Kellerflutung noch übrig war, landete auf dem Müll - bis auf ihre Nussknacker. © privat

Als das Jahrhunderthochwasser auch den Keller der Dresdnerin flutete, versank ein Koffer voller Weihnachtsschmuck im schmutzigen Wasser. Renate Fehrenbach wohnte nahe der Prager Straße und hatte neben Räuchermännern und weihnachtlichen Windlichtern die beiden Nussknacker darin verstaut. Ihn zu retten schaffte sie nicht rechtzeitig. Tage später, das Wasser war abgepumpt und der Weg in den Keller wieder frei, lag das ganze Elend triefend nass vor ihr.

Der gesamte Kofferinhalt war eigentlich für den Müll bestimmt. "Aber meine beiden Nussknacker wollte ich einfach nicht wegschmeißen. Es hingen so schöne Erinnerungen daran", erzählt Renate Fehrenbach weiter - und Sylvia Drebinger-Pieper schreibt mit.

Die Historikerin Dr. Sylvia Drebinger-Pieper hat die Jubiläumsausstellung mit kuratiert und sorgt dafür, dass ein ungeliebter Gartenzwerg zu später Ehre kommt.
Die Historikerin Dr. Sylvia Drebinger-Pieper hat die Jubiläumsausstellung mit kuratiert und sorgt dafür, dass ein ungeliebter Gartenzwerg zu später Ehre kommt. © Sven Ellger

Zu ihren Aufgaben als Historikerin gehört es auch, ein Projekt mit Leben zu füllen, das das Dresdner Stadtarchiv direkt nach der Flutkatastrophe gestartet hat. Es rief die Dresdner auf, ihre Erinnerungsstücke - Fotos, Filme, Alben, Tagebücher, Objekte und Geschichten - abzugeben, als Schenkung oder Leihgabe. Die Flutsammlung umfasst außerdem behördliche Anordnungen, Protokolle, Schadensermittlungen und mehr und vereint Verwaltungssicht und Bürgersicht. Sie soll für die Nachwelt alles dokumentieren, was mit diesem Jahrhundertereignis zusammenhängt - unmittelbar und in dessen Folge.

Einerseits gehört es zur Aufgabe des Archivs, Großereignisse auf diese Weise zu dokumentieren. Andererseits sollen Inhalte nicht nur zwischen Pappdeckeln, in Kisten und Regalen verschwinden, sondern Erinnerungen wach rufen und wach halten. Ihr Sinn ist es zudem, folgenden Generationen Wissen über die historischen Tage im August 2002 zu vermitteln.

Das Militärhistorische Museum steuert dieses Fahrrad als Exponat bei. Flutschlamm zeugt von seinem Schicksal während der Katastrophe im August 2002.
Das Militärhistorische Museum steuert dieses Fahrrad als Exponat bei. Flutschlamm zeugt von seinem Schicksal während der Katastrophe im August 2002. © Sven Ellger

Renate Fehrenbach wollte ihre beiden Nussknacker nicht auf einen der stinkenden Müllberge werfen, die in der Sommerhitze Straßen und Plätze säumten und einen unvergesslichen Geruch nach Schlamm, Öl, Moder, Fäkalien und Verwesung über die Stadt verteilte. Sie ließ die Figuren restaurieren und erhielt auf diese Weise zwar keine schlammigen Zeitzeugen, wie Archive sie gern beherbergen. Dafür aber eine der vielen emotionalen Episoden aus einer hochemotionalen Zeit.

Sie ist nun Teil der Ausstellung "Neun Meter Vierzig", die ab dem 17. August im Dresdner Stadtarchiv zu sehen ist. Als die beiden Kuratoren Dr. Sylvia Drebinger-Pieper und Dr. Marco Iwanzeck die Planungen dazu begannen, bestand die Flutsammlung bereits aus Tausenden Dokumenten. Doch die Dresdner waren weiterhin aufgerufen, ihre Erinnerungen mit dem historischen Gedächtnis der Stadt zu teilen.

Objekte wie dieser Schuh sind mit größter Vorsicht zu behandeln. Schließlich sollen die eingetrockneten Schlammspuren nicht abfallen.
Objekte wie dieser Schuh sind mit größter Vorsicht zu behandeln. Schließlich sollen die eingetrockneten Schlammspuren nicht abfallen. © Sven Ellger

"Allein seit Beginn der Ausstellungsvorbereitung haben wir 85 neue Zusendungen bekommen", sagt Sylvia Drebinger-Pieper. Die optisch eindrücklichste ist neben den Nussknackern ein rund 50 Zentimeter hoher Gartenzwerg. "Er war seinen Besitzern geschenkt worden und fristete sein Leben möglichst versteckt im hinteren Bereich des Gartens", erzählt Marco Iwanzeck. So wie man das halt oft mit ungeliebten Geschenken, die da, aber auch nicht da sein sollen, so mache.

Dass der Gipszwerg an seinem hintergründigen Platz die Überschwemmung des Grundstückes überlebte und nun zu später Wertschätzung gelangt, ist Ironie des Schicksals. Neben Fotos und Schriftverkehr, Danksagungskarten, Zeitungen, Zeitschriften und Objekten wie Gummistiefeln mit Flutschlamm und verschmutzten Kleidungsstücken ist relativ wenig Filmmaterial eingegangen.

Tagebücher der Flut 2002: Einige Dresdner haben ihre Fotoalben eingereicht - eine ganz persönliche Aufarbeitung der verstörenden, aber auch schönen Erlebnisse.
Tagebücher der Flut 2002: Einige Dresdner haben ihre Fotoalben eingereicht - eine ganz persönliche Aufarbeitung der verstörenden, aber auch schönen Erlebnisse. © Sven Ellger

"Im Jahr 2002 hat noch niemand so selbstverständlich wie heute mit dem Smartphone gefilmt", sagt Marco Iwanzeck. Dafür aber bieten Fotoalben oft chronologische Einsichten in die Geschehnisse. Eine Familie stellte ihr Flutalbum zur Verfügung, in dem sie fast tagebuchartig die Katastrophe mit Fotos, Kassenbelegen, Behördenbriefen und Kommentaren festhält. Das völlig überflutete Haus ist zu sehen, die Zerstörung nach Abfluss des Wassers, die Aufräumarbeiten, das Kampieren im Gartenhaus. Die Sammlung gipfelt in der Erinnerung an eine Kreuzfahrt, die unter Flutopfern verlost worden war und der Familie zuteil wurde.

"Die überwiegende Erinnerung an die Flut ist trotz Verluste und Zerstörung positiv", sagt Marco Iwanzeck. Das Negative spiele rückblickend keine so große Rolle wie die schönen Erlebnisse rund um die immense Hilfsbereitschaft und das Gemeinschaftsgefühl jener Tage, in denen Fremde Fremden halfen und Nachbarn Freunde wurden.

Ausstellung "Neun Meter Vierzig - Die Jahrhundertflut in Dresden 2002": 17. August bis 4. November, Montag und Mittwoch, 9 bis 16 Uhr, Dienstag und Donnerstag, 9 bis 17 Uhr, Freitag, 9 bis 12 Uhr.